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Annus mirabilis – friedliche Revolution und deutsche Einheit (1989/90) | Gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte 1945–1990 | bpb.de

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Annus mirabilis – friedliche Revolution und deutsche Einheit (1989/90)

Dierk Hoffmann

/ 7 Minuten zu lesen

Durch Massenproteste gegen das SED-Regime steigt der Handlungsdruck in der DDR. Die Lockerung der Reisefreiheit erzeugt einen anhaltenden Ausreisestrom, der die Mauer schließlich zum Fall bringt.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November fällt die Berliner Mauer. Tausende Menschen aus Ost und West treffen in der Nacht und in den darauffolgenden Tagen zum ersten Mal aufeinander. (© picture-alliance, Peter Kneffel)

Revolutionäre Dynamik und außenpolitische Gelegenheitsfenster

Am Anfang vom Ende war Michail S. Gorbatschow (reg. 1985–1991): Mit dessen Machtantritt im Frühjahr 1985 veränderte sich die politische Großwetterlage auch für die DDR grundlegend. Der neue Kremlchef löste mit den von ihm eingeleiteten Reformen Prozesse aus, die zur Auflösung des sowjetischen Imperiums beitrugen. Seine Politik, die durch Glasnost („Informationsfreiheit“) und Perestroika („Umgestaltung“) maßgeblich bestimmt war, elektrisierte viele Menschen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.

Starrköpfigkeit des SED-Politbüros

In der ostdeutschen Bevölkerung baute sich ein neuer Erwartungsdruck gegenüber der SED-Führung auf. Durch den Kurswechsel in Moskau sahen sich diejenigen bestärkt, die grundlegende Veränderungen im politischen System herbeisehnten. Doch die Hardliner im SED-Politbüro waren unbeeindruckt. So wurden in Ost-Berlin am 17. Januar 1988 über 100 Angehörige der Friedens- und Menschenrechtsbewegung festgenommen; am 18. November wurde die deutschsprachige Ausgabe der sowjetischen Zeitschrift Sputnik verboten.

Schließlich gerieten die Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 ins Zwielicht, nachdem DDR-Oppositionelle vielerorts Wahlfälschungen festgestellt und publik gemacht hatten. Die politische Führung des Landes, die auch noch am 5. Juni 1989 das Massaker auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ in Peking begrüßte und die Sprachregelung der chinesischen Kommunisten übernahm („konterrevolutionärer Aufruhr“), entfremdete sich immer mehr von der ostdeutschen Bevölkerung.

Vor dem Hintergrund der blutigen Niederschlagung der studentischen Demokratiebewegung in der Volksrepublik ­China war eine friedliche Lösung in der DDR im Sommer 1989 keineswegs zu erwarten. Die innenpolitische Lage spitzte sich durch mehrere Botschaftsbesetzungen, die wachsende Fluchtbewegung und die Demonstrationen in der DDR, die seit Anfang September 1989 regelmäßig stattfanden („Montagsdemonstrationen“), noch weiter zu. So drangen Hunderte von DDR-Bürgerinnen und Bürgern in die bundesdeutschen Vertretungen in Ost-Berlin, Budapest und Prag ein, um ihre Ausreise zu erzwingen.

Ausreisewelle

Nachdem Ungarn bereits am 2. Mai damit begonnen hatte, die Sperranlagen an seiner Westgrenze abzubauen, gab es kein Halten mehr. Als sich die Grenzbäume am 11. September öffneten, verließen innerhalb von fünf Tagen circa 14.000 Ostdeutsche ihre Heimat über Ungarn in Richtung Westen. Als Bundesaußenminister Genscher auf dem Balkon der Bonner Botschaft in Prag den 4.000 Geflüchteten, die sich mittlerweile auf dem Botschaftsgelände befanden, die unmittelbar bevorstehende Ausreise mitteilte, gingen die Bilder um die Welt. Danach riss der Ausreisestrom aus der DDR nicht mehr ab. Die SED-Führung versuchte den innenpolitischen Druck abzubauen, indem sie vermehrt Ausreisegenehmigungen erteilte. Doch der erhoffte Erfolg blieb aus. Die Zahl der Ausreiseanträge stieg weiter an.

Montagsdemonstrationen

Parallel dazu entwickelte sich in der DDR eine landesweite Protestbewegung, die ihrem Unmut über den Starrsinn der SED-Spitze Luft machte. Nach dem montäglichen Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche forderten am 25. September 1989 etwa 6.000 Menschen Reise-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Kurz zuvor hatte sich die Bürgerbewegung „Neues Forum“ um Bärbel Bohley (1945–2010) und Jens Reich als erste Oppositionsgruppe gebildet.

Als in Leipzig am 2. Oktober rund 20.000 Bürgerinnen und Bürger auf die Straße gingen, löste die Staatsmacht die Demons­tration noch mit Gewalt auf. Eine Woche später versammelten sich dort bereits 70.000 Menschen und riefen: „Wir sind das Volk!“. Gegen die Demonstrierenden gingen die Sicherheitskräfte erstmals nicht mehr gewaltsam vor. Die größte Protestkundgebung in der Geschichte der DDR fand am 4. November auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz statt, wo schätzungsweise eine halbe Million Menschen zusammenkamen, um Reformen in der DDR zu verlangen. 

Angesichts der zunehmenden Proteste gerieten die offiziellen Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Republik am 7. Oktober zur Farce. Danach überschlugen sich die Ereignisse: Zehn Tage später trat Honecker von allen politischen Ämtern zurück. Nachfolger Egon Krenz konnte sich nur einige Wochen im Amt halten. Alle Versuche der SED-Führung, das Zepter wieder in die eigene Hand zu bekommen, scheiterten.

QuellentextFragmente der Friedlichen Revolution

Unzufriedene und Oppositionelle in der DDR organisieren sich im Sommer 1989 zunehmend. Sie schließen sich zu Bürgerrechtsgruppen wie „Demokratie Jetzt“, „Demokratischer Aufbruch“ und das „Neue Forum“ zusammen, sie wollen das politische System verändern. Ausgehend von Leipzig versammeln sich landesweit wöchentlich mehr und mehr Ostdeutsche zu friedlichen Demonstrationen. Die Massenproteste für Demokratie leiten das Ende des SED-Regimes ein.

In der Nikolaikirche [in Leipzig] versammeln sich seit 1981 regelmäßig Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen zu Friedensgebeten. Am Montag, den 4. September 1989, bleiben im Anschluss erstmals etwa 1.000 Menschen auf dem Vorhof der Kirche und fordern „Stasi raus“ und „Reise­freiheit statt Massenflucht“. Obwohl viele eine gewalttätige Niederschlagung der Proteste fürchten, versammeln sich in den folgenden Wochen mehr und mehr Menschen. Am 2. Oktober sind es schon 20.000 Demonstranten, am 9. Oktober 70.000 Menschen. Sie rufen „Wir sind das Volk“ sowie „Keine Gewalt“ und fordern Meinungsfreiheit, politische Mitsprache und ein Ende der SED-Herrschaft. Auch in anderen Städten wie Dresden, Halle oder Karl-Marx-Stadt protestieren die Menschen.

Obwohl dies die größten Demonstrationen in der DDR seit dem Volksaufstand 1953 sind, lässt das SED-Regime sie nicht mit Gewalt niederschlagen. Auch die sowjetischen Streitkräfte bleiben in ihren Kasernen. Am 16. Oktober versammeln sich in Leipzig 120.000 Demonstranten, am 23. Oktober 250.000 und am 30. Oktober schließlich 300.000.

Wenige Tage nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR zwingt das SED-Zentralkomitee Generalsekretär Erich Honecker am 18. Oktober 1989 zum Rücktritt. Um die Macht der SED zu retten, kündigt der neue Parteichef Egon Krenz Reformen an.

Das „Neue Forum“ ist innerhalb der Oppositionsbewegung in der DDR die Gruppe mit der größten Breitenwirkung. Mitglieder der Friedens-, Menschenrechts- und Umweltbewegung wie Bärbel Bohley, Rolf Henrich, Jens Reich und Katja Havemann treffen sich am 9. und 10. September 1989 in Grünheide im Haus von Katja Havemann. Dort, am letzten Wohnort von Robert Havemann, unterzeichnen sie den Gründungsaufruf „Aufbruch 89“. Westliche Medien feiern ihn als außerordentliches und wichtiges Ereignis. Das „Neue Forum“ fordert, über demokratische Reformen zu diskutieren, um mit Unterstützung möglichst breiter Bevölkerungskreise die Gesellschaft umzugestalten.

Am 19. September 1989 beantragt das „Neue Forum“, als Vereinigung zugelassen zu werden. Das Innenministerium der DDR lehnt zwei Tage später ab mit der Begründung, das „Neue Forum“ sei eine „staatsfeindliche Plattform“. Dem „Neuen Forum“ schlägt daraufhin eine Welle der Zustimmung entgegen. Bei Demonstrationen in Leipzig, Plauen, Dresden und an vielen anderen Orten wird „Neues Forum zulassen!“ eine der zentralen Losungen. Nach außen tolerieren die Behörden das „Neue Forum“, de facto bekämpfen sie es aber weiterhin. Am 8. November 1989 schließlich lässt das Ministerium des Innern das „Neue Forum“ als politische Vereinigung zu. Von allen Oppositionsgruppen, die im Herbst 1989 an die Öffentlichkeit treten, erhält es den stärksten Zulauf. Bis zum Ende des Jahres unterschreiben 200.000 Menschen den Gründungsaufruf, etwa 10.000 Ostdeutsche werden Mitglied. Das „Neue Forum“ setzt sich für freie und demokratische Wahlen ein. Die Ortsgruppen der Vereinigung agieren vor allem in den Städten.

Diskussionen über den basisdemokratischen Aufbau und die Organisation des „Neue Forums“ münden Ende 1989 in den Streit, ob man eine Partei bilden oder eine Bewegung bleiben solle. Nach mehrtägigen Auseinandersetzungen spaltet sich Ende Januar 1990 ein Viertel der „Neuen Forum“-Mitglieder ab und gründet die Deutsche Forumpartei (DFP).

Das „Neue Forum“ behält seine basisdemokratische Struktur bei und schließt sich im Februar 1990 mit anderen Oppositionsgruppen im Bündnis 90 zusammen. Drei Jahre später vereinigen sich Bündnis 90 und die Grünen zu einer neuen Partei.

Die Wahl zur Volkskammer der DDR am 18. März 1990 ist der erste Urnengang unter demokratischen Bedingungen. Sie ist zunächst für den 6. Mai 1990 geplant, aber aufgrund der schlechten wirtschaftlichen und politischen Lage beschließt der „Runde Tisch“, die Wahl vorzuverlegen. Erstmals haben die Menschen in der DDR die Wahl zwischen 24 Parteien und Wahlbündnissen. Der Wahlkampf ist bestimmt von Fragen nach einer baldigen Wirtschafts- und Währungsunion sowie der Deutschen Einheit.

Die Wahl verändert die Parteienlandschaft der DDR. CDU-Ost, Liberale und Sozialdemokratische Partei schließen sich CDU, FPD und SPD im Westen an. Bürgerrechtsgruppen bilden das „Bündnis 90“. Die ehemalige SED tritt als „Partei des demokratischen Sozialismus“ (PDS) an. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) will die deutsche Einheit rasch verwirklichen, indem die DDR nach Artikel 23 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitritt. Er verspricht eine baldige Wirtschafts- und Währungsunion nach der Wahl. Große Teile der SPD sehen eine schnelle Wiedervereinigung skeptisch, die PDS lehnt sie ab.

Die Wahlbeteiligung liegt bei über 93 Prozent. Wahlsieger ist die „Allianz für Deutschland“, ein Bündnis aus CDU, Demokratischem Aufbruch (DA) und Deutscher Sozialer Union (DSU). Sie erhält 48 Prozent der Stimmen, während auf die SPD 21,9 Prozent entfallen. Die PDS ist mit 16,3 Prozent drittstärkste Kraft. Bündnis 90, die Träger der friedlichen Revolution erhalten nur 2,9 Prozent. Die Wähler stimmen damit für die Deutsche Einheit, westliche Demokratie und Soziale Marktwirtschaft.

Die Volkskammer wählt am 12. April 1990 Lothar de Maizière (CDU) zum Ministerpräsidenten. Seine Große Koalition aus CDU, SPD, DSU, DA und Liberalen bereitet den Beitritt der DDR nach Art. 23 Grundgesetz vor. Die erste freie Volkskammerwahl der DDR ist damit auch die letzte.

Ausschnitte aus Artikeln des Lebendigen Museums Online (Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland)

Annabelle Petschow: Montagsdemonstrationen; Kathrin Engel, Regina Haunhorst: „Neues Forum“; Annabelle Petschow: Freie Volkskammerwahl, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Online: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/

Der Fall der Berliner Mauer

Am Abend des 9. November kündigte Politbüromitglied Günter Schabowski in einer Pressekonferenz ein neues Reisegesetz an. Auf Nachfrage eines Reporters erklärte er, dass die darin fixierte Reisefreiheit für alle DDR-Bürger gelten werde, und zwar mit sofortiger Wirkung. Die Meldung verbreitete sich – über die Westmedien (vor allem die „Tagesthemen“ mit Moderator Hanns Joachim Friedrichs) – in Windeseile. In den folgenden Stunden machten sich zahlreiche Ost-Berlinerinnen und -Berliner zu den Grenzübergängen der Stadt auf, wo sich ihnen die Grenzpolizisten nicht in den Weg stellten. Die Grenzen öffneten sich. Die Mauer war nach über 28 Jahren endlich überwunden.

Obwohl die DDR bis zum 2. Oktober 1990 existierte, markierte der Mauerfall am 9. November 1989 das entscheidende Ereignis, mit dem das Ende des ostdeutschen Staates eingeläutet wurde. Während die sowjetische Führung unter Gorbatschow nicht mehr bereit war, die Herrschaft des SED-Regimes weiter abzusichern, leisteten sich die Politbüromitglieder in Ost-Berlin mit einer desaströsen Krisenpolitik ihren Offenbarungseid. Mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze brach der letzte Stützpfeiler der kommunistischen Herrschaft in der DDR weg.

Die Dynamik der Ereignisse

Dennoch muss die Offenheit der Geschichte betont werden: Denn mit dem Fall der Mauer in Berlin war für die Zeitgenossen in Ost und West nicht absehbar, dass am 1. Juli 1990 die Einführung der kapitalistischen Marktwirtschaft in der noch bestehenden DDR und am 3. Oktober die staatliche Einheit Deutschlands kommen würde. Daher muss bei der Beurteilung des Einigungsprozesses die enorme Dynamik der Entwicklung immer wieder betont werden.

Innerhalb von wenigen Monaten veränderte sich für die Menschen in der DDR nahezu vollständig das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Koordinatensystem. Gleichzeitig setzte ein Prozess der Selbstermächtigung und Selbstdemokratisierung ein, der in Ostdeutschland erstmals offene Debatten ermöglichte und von der Bevölkerung als Akt der Befreiung empfunden wurde.

Auf dem Weg zur Einheit Deutschlands

Die Entwicklung in der DDR beobachtete die Bundesrepublik zunächst nur als Zaungast. Die Bonner Republik – ursprünglich als Provisorium eingerichtet – war Ende der 1980er-Jahre mit eigenen Problemen beschäftigt.

Innenpolitische Probleme der Bonner Republik

Nach dem Regierungswechsel 1982 konnte die schwarz-gelbe Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) zwar einige Ziele erreichen: So wurde die Staatsverschuldung reduziert, die Inflation eingedämmt und ein moderates Wachstum erreicht. Doch bei der Aufgabe, die Arbeitslosigkeit zu senken, versagten die neuen Rezepte offenbar. Die Arbeitslosenquote verharrte auf hohem Niveau bei etwa neun Prozent. Eine groß angekündigte Steuerreform, die von der Regierung als Jahrhundertwerk angepriesen wurde, misslang 1988 endgültig. 1987 hatte die „Barschel-Affäre“ – benannt nach dem Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein Uwe Barschel (CDU, 1944–1987), der seinen SPD-Konkurrenten im Wahlkampf vor der Landtagswahl 1987 bespitzeln ließ und dies lange leugnete – die Bundesrepublik erschüttert.

Darüber hinaus entstand am rechtskonservativen Rand eine neue Partei, die den Unionsparteien schwer zu schaffen machte: Die Republikaner erreichten bei den Wahlen zum Europaparlament und zum Berliner Abgeordnetenhaus 1989 jeweils über sieben Prozent. In der CDU begann es zu rumoren. Manch westdeutscher Journalist und Publizist glaubte, das Ende der Kanzlerschaft Kohls am Horizont erkennen zu können. So wurde der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) von einigen Medienvertretern schon als Nachfolger Kohls gehandelt. Doch der innerparteiliche Aufstand gegen den politisch angeschlagenen Kanzler und CDU-Bundesvorsitzenden scheiterte bereits im Vorfeld des Bundesparteitages, der vom 11. bis 13. September in Bremen stattfand.

Die Entstaatlichung der DDR

Obwohl es in den Schubladen der Bonner Amtsstuben keinen Masterplan zur Vereinigung mit der DDR gab, gewannen westdeutsche Akteure ab Anfang 1990 an Einfluss in Ostdeutschland. Das hing vor allem mit der Entstaatlichung auf der zentralen politischen Ebene in der DDR zusammen. Angesichts der ökonomischen Krise, in der sich die DDR befand, richteten viele Ostdeutsche wie Bürgermeister, Ärztinnen und Ärzte sowie Klinikpersonal ihre Anliegen nicht mehr an die Regierung von Hans Modrow (SED/PDS), dem Nachfolger von Krenz, in Ost-Berlin, sondern direkt an staatliche Stellen in Westdeutschland. Dadurch entstand in der DDR ein politisches Vakuum.

Gleichzeitig stieg die Zahl der Übersiedelnden: Allein im Januar und Februar 1990 verließen 137.000 Menschen die DDR. Die Modrow-Regierung bekam den Abwärtstrend nicht mehr in den Griff. Eine Umfrage unter DDR-Bürgerinnen und Bürgern ­zeigte Ende Januar 1990, dass die Mehrheit der Befragten bessere Lebensbedingungen nur noch in der Bundesrepublik und nicht mehr in der DDR erwartete. Die freie Volkskammerwahl vom 18. März 1990, aus der die CDU für viele überraschend als Sieger hervorging, wurde zu einem Plebiszit (= Volksbefragung) gegen eine reformierte DDR und für eine rasche Vereinigung Deutschlands nach westdeutschem Vorbild.

Die Einführung der D-Mark in der DDR

Der Druck der Straße nahm zu: Die rasche Einführung der D-Mark in der DDR erschien den politischen Verantwortlichen in Bonn und Ost-Berlin als wichtiges Signal, um Stabilität in der DDR zu erzeugen und die Menschen zum Bleiben zu bewegen. Dagegen trat die Überlegung, einen längerfristigen, stufenweisen Weg in die Marktwirtschaft einzuschlagen, immer mehr in den Hintergrund. So erklärt sich die Entscheidung für die Währungsumstellung am 1. Juli 1990: Löhne, Gehälter und Renten wurden zu einem Umrechnungskurs von 1:1, Forderungen und Verbindlichkeiten zu einem Kurs von 2:1 umgestellt.

Der politisch gefundene Kompromiss, der die hohen Erwartungen der ostdeutschen Bevölkerung berücksichtigte („Kommt die DM bleiben wir – kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“) und als Wertschätzung der Lebensleistung der ostdeutschen Bevölkerung verstanden werden kann, widersprach den ökonomischen Rahmendaten und den Empfehlungen der Bundesbank und anderer Wirtschaftsexperten.

Überhastete Einheit?

Bundeskanzler Kohl, der mit seinem Zehn-Punkte-Programm Ende November 1989 die deutschlandpolitische Initiative ergriffen hatte, drängte darauf, das Zeitfenster zu nutzen, das sich den Deutschen durch die Amtszeit Gorbatschows bot. Als Kohl am 19. Dezember 1989 nach Dresden fuhr, um mit dem DDR-Regierungschef Modrow Gespräche zu führen, wurde er von vielen Ostdeutschen begeistert empfangen. Mittlerweile hatte sich auf den Montagsdemonstrationen die Tonlage verändert. Unüberhörbar waren Rufe wie: „Wir sind ein Volk!“

Der mehrheitlich empfundene Zeitdruck führte letztlich dazu, dass die ursprüngliche Idee allzu rasch in Vergessenheit geriet, die staatliche Vereinigung auf gleicher Augenhöhe zwischen Ost und West zu vollziehen und eine gemeinsame Verfassung auszuarbeiten. Kritische Stimmen monieren zu Recht, dass dadurch eine Chance verpasst worden sei, einen substanziellen Beitrag für die innere Einheit Deutschlands zu leisten.

Prof. Dr. Dierk Hoffmann (geb. 1963) ist stellvertretender Leiter der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ) und apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam. Seit 2017 leitet er das Projekt zur Geschichte der Treuhandanstalt am IfZ. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, die Geschichte der SBZ/DDR, die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte, die Transformationsgeschichte sowie die Biografieforschung.