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Zwischen Euphorie und Ernüchterung – das vereinte Deutschland Anfang der 1990er-Jahre | Gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte 1945–1990 | bpb.de

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Zwischen Euphorie und Ernüchterung – das vereinte Deutschland Anfang der 1990er-Jahre

Dierk Hoffmann

/ 7 Minuten zu lesen

Das wiedervereinte Deutschland sieht sich vielen Hindernissen gegenüber: Vor allem muss die Bundesrepublik eine einheitliche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung aufbauen.

Die Transformation der ostdeutschen Wirtschaft setzt einen beispiellosen Prozess der Entsicherung für Betriebe, Arbeitskräfte und Konsumentinnen und Konsumenten in Gang: Demonstration für den Erhalt von Arbeitsplätzen vor dem Schacht Bleicherode der Kali Südharz AG, undatiertes Foto von 1990. (© picture-alliance, zb | Thomas Lebie)

Grenzenlose Euphorie

Im Sommer 1990 war die Euphorie in Deutschland grenzenlos. Die deutsche Einheit erfolgte mit Zustimmung der europäischen Nachbarländer und der vier Siegermächte des Zweiten Welt­krieges (Zwei-plus-Vier-Vertrag), bei letzteren lagen die „Rechte und Verantwortlichkeiten […] in Bezug auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands“. Das war alles andere als selbstverständlich. Niemand hatte es für möglich gehalten, dass die Sowjetunion dieser Entwicklung ihre Zustimmung erteilen würde. Dass Moskau einer Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in der NATO nicht im Wege stehen würde, war lange Zeit undenkbar gewesen.

(© picture-alliance, dpa-infografik, Globus 13730; Quelle: Deutsches Historisches Museum)

Darüber hinaus ging es auch um die Zukunft der europäischen Staatenordnung. Als Deutschland im Endspiel in Rom am 8. Juli 1990 auch noch Fußballweltmeister wurde, kannten die schwarz-rot-goldenen Siegesfeiern kein Ende mehr. Teamchef Franz Beckenbauer ließ sich zu der törichten Aussage hinreißen, dass die Nationalmannschaft angesichts der sich auch im Fußball vollziehenden Wiedervereinigung auf Jahre hinaus „nicht mehr zu besiegen“ sei. Alles schien möglich.

Rasche Ernüchterung

Doch die Ernüchterung kam schnell. Es wurde rasch deutlich, dass viele DDR-Betriebe den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft nicht schaffen würden. Die Einführung der D-Mark (zum Umrechnungskurs 1:1) war mit einem Aufwertungsschock verbunden: Die ostdeutschen Unternehmen, die keine finanziellen Rücklagen besaßen, mussten Löhne und Gehälter in der neuen Währung auszahlen. Außerdem waren sie gezwungen, ihre Produkte nun zu D-Mark-Preisen zu verkaufen, die sich viele Kundinnen und Kunden in Osteuropa nicht leisten konnten.

Daraufhin brachen dort die Absatzmärkte für ostdeutsche Waren zusammen. Erste Untersuchungen, die die frei gewählte DDR-Regierung von Lothar de Maizière (CDU) in Auftrag gegeben hatte, lieferten ernüchternde Ergebnisse. Nach Bewertung von 2.600 Betrieben lag die Rate der als konkursgefährdet eingestuften Unternehmen im Juni 1990 bei 39 Prozent. Dieses Ergebnis veranlasste das Bonner Wirtschaftsministerium, das Privatisierungstempo zu erhöhen, um dadurch schnell verfüg­bare Erlöse zum Ausgleich für die steigenden Verluste zu erzielen.

Die Verlierer der Einheit: Frauen und ausländische Arbeitskräfte

Bereits im Sommer 1990 tauchte in der ostdeutschen Öffentlichkeit ein Gespenst auf, das es in den zurückliegenden vier Jahrzehnten nicht gegeben hatte: Arbeitslosigkeit. Mitte Juli 1990 lag die Arbeitslosenzahl schon bei 224.000; eine halbe Million Beschäftigte befanden sich in Kurzarbeit. Zu den Verlierern gehörten zunächst vor allem Frauen und ausländische Arbeitskräfte. Nach Angaben der Gleichstellungsbeauftragten der DDR-Regierung, Marina Beyer, lag der Anteil erwerbsloser Frauen im August 1990 bei 53 Prozent – Tendenz steigend. Und die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF), Inge Wettig-Danielmeier, wies darauf hin, dass in einigen Arbeitsamtsbezirken circa 60 Prozent der Arbeitslosen Frauen seien. In einigen Wirtschaftsbranchen würden Frauen auch die Mehrzahl der Kurzarbeitenden stellen.

Auf die dramatische Lage auf dem Arbeitsmarkt reagierte die Regierung in Ost-Berlin unter anderem mit einem „Rückkehrprogramm“ für die rund 85.000 sogenannten Vertragsarbeitenden, das die vorzeitige Heimkehr der Beschäftigten aus Mosambik, Angola und Vietnam mit einer Abfindung vorsah. In dem Zusammenhang berichtete die Ausländerbeauftragte der ostdeutschen Regierung, Almuth Berger, dass sich in den Betrieben Ausländerfeindlichkeit ausbreite. Anfang Oktober gab es in der Presse erste Hinweise auf „Ausländerhass“ und „Angst unter den Gastarbeitern“.

Ausländerfeindlichkeit und rechtsextreme Anschläge

Das Ende der DDR führte dazu, dass die bereits latent vorhandene Ausländerfeindlichkeit offen zu Tage trat. Es kam zu einer Entgrenzung der Gewalt mit zahlreichen Toten und Verletzten in Ost- und Westdeutschland, wo Ausländerfeindlichkeit auch vor 1989/90 existiert hatte: Im September 1991 wurden Unterkünfte von Geflüchteten und Arbeitsmigrantinnen und -migranten im sächsischen Hoyerswerda mit Molotowcocktails angegriffen. Zwischen dem 22. und 26. August 1992 gab es rassistisch motivierte Angriffe auf die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter in Rostock-Lichtenhagen (Mecklenburg-Vorpommern).

Bei einem rechtsextremistischen Brandanschlag auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser in Mölln (Schleswig-Holstein) am 23. November 1992 wurden drei Menschen getötet und neun schwerverletzt. Fünf Menschen fielen einem Brand­anschlag in Solingen (Nordrhein-Westfalen) am 29. Mai 1993 zum Opfer, der ebenfalls einen rechtsextremen Hintergrund hatte. Dabei wurden 17 Personen zum Teil lebensgefährlich verletzt.

QuellentextRechte Gewalt in den 1990er-Jahren

Am 30. Mai 1993 stecken vier Täter den Eingangsbereich des Wohnhauses der Familie Genç in Brand. Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç verlieren ihr Leben. Die Opfer sind zwischen vier und 27 Jahren alt. Weitere 14 Familienmitglieder erlitten schwere Verletzungen. [Im Solinger Zentrum für verfolgte Künste erinnert eine Ausstellung an die Opfer.] […]

Die Amadeu Antonio Stiftung zählt seit dem Wendejahr 1990 mindestens 219 Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland. Dabei ist das Gedenken an die Opfer von Tat zu Tat sehr unterschiedlich. Die Reaktionen der Gesellschaft schwanken von Fall zu Fall zwischen Wut und Schulterzucken, Trauer und Belanglosigkeit, Aufarbeitungswillen und Verdrängung.

Über die Ausstellung haben wir mit dem Kuratoriumsteam des Zentrum für Verfolgte Künste gesprochen. „Fünf Menschen wurden ermordet, weil sie nicht Hanna oder ­Birte hießen, sondern Gürsün, Hatice, Gülüstan, Hülya und ­Saime. Sie wurden ermordet, weil Rassismus tötet. Rassismus ist Teil unserer Gegenwart, wir alle sind dafür verantwortlich”, erklärt [Kuratorin] Birte Fritsch die menschenfeindlichen Hintergründe der Tat.

Der Anschlag in Solingen fiel in eine Zeit, in der eine ­ganze Serie von rassistischen Anschlägen das frisch vereinte Deutschland überzog: Hoyerswerda, Mölln, Rostock-Lichten­hagen sind heute Begriffe für die Gewalt dieser Zeit. Das gesamtgesellschaftliche Klima war von einer Stimmung aus Hass, Rassismus und Gewalt geprägt. Davon zeugen nicht nur die offenen Übergriffe und Anschläge auf BIPoC, Linke, Punks und Obdachlose, sondern auch eine migrationsfeindliche Politik der Bundesregierung.

Viele der politischen Entwicklungen finden sich in der Familie Genç wieder. „Es ist eine Familiengeschichte, die exemplarisch gelesen werden kann für viele Familien dieser Generation, die nach dem Anwerbeabkommen nach Deutschland gekommen sind“, erzählt Kuratorin Vanessa Arndt im Gespräch. Die Geschichte solle so greifbarer werden: “Die Ausstellung erzählt eine deutsche Geschichte und stellt dabei die persönlichen Erfahrungen der Familie Genç in den Mittelpunkt. Zwischen soziopolitischen Ereignissen und Taten rechten Terrors blitzen Fotografien glücklicher familiärer Momente und Zeugnisse künstlerischen Schaffens aus der migrantischen Community wie Schätze hervor.”

Während nach der Wiedervereinigung wieder breit über eine deutsche Identität diskutiert wurde, gab es einen Anstieg der Zuwanderung nach Deutschland, vor allem im Zuge der Migration von sogenannten Spätaussiedler*innen und Menschen, die vor dem Krieg in Jugoslawien fliehen mussten. In der Debatte über die Zugehörigkeit von Menschen mit Migrationsgeschichte gab es Hetzkampagnen gegen Geflüchtete und Migrant*innen, die bis weit in die Mitte der Gesellschaft hineinreichten.

Die Politik reagierte darauf mit einer massiven Einschränkung des Grundrechts auf Asyl, mit einer Mehrheit, die durch die Stimmen der Regierungskoalition sowie der SPD zustande kam. Nur drei Tage nachdem der Bundestag diesen sogenannten Asylkompromiss verabschiedet hatte, brannte das Haus der Familie Genç. […]

Noch in der Brandnacht sagte der damalige Bürgermeister von Solingen, Gerd Kaimer: „In Solingen gibt es kein rechtsextremes Potenzial. Solingen ist eine liberale, weltoffene Stadt.“ Dabei waren – wie sich später herausstellte – alle vier Täter Solinger. Das Zitat zeigt, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft häufig mit Abwehr, Verharmlosung und Leugnung auf rechte Gewalt reagiert. Es zeigt aber auch die Schwierigkeiten, gegen die ein Gedenken erkämpft werden musste.

Den an den Brandanschlag anschließenden Trauerfeierlichkeiten bleibt der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl fern. Seine Absage, wie er über seinen Regierungssprecher verlauten ließ, lag darin begründet, dass er nicht in „Beileidstourismus“ verfallen wolle. Der Sprecher verwies auch auf die „weiß Gott anderen wichtigen Termine“ des Kanzlers.

Die Absage hinterließ eine tiefe Wunde auch in der starken Mevlüde Genç, die bei dem rassistischen Brandanschlag fünf Familienmitglieder verlor. Sie war lange Zeit die große Kämpferin für das Gedenken und Toleranz. Ohne sie wäre vieles vom heutigen Gedenken in Solingen niemals zu Stande gekommen. […]

Denn die Aussagen des Bürgermeisters und die Absage des Bundeskanzlers sind nur eine Seite der Geschichte. Personen aus der Solinger Zivilgesellschaft und Politik wie der Türkische Volksverein, der unmittelbar gegründete „Solinger Appell“ und die Solinger Antifa rufen am Tag nach der Tat zu Protesten und Kundgebungen auf, um sich mit den Betroffenen zu solidarisieren. In den Tagen danach versammeln sich auf Demonstrationen in Solingen bis zu 10.000 Menschen, um ihrer Wut und Trauer Ausdruck zu verschaffen. Am ersten Jahrestag wird ein Mahnmal auf dem Gelände des Mildred-Scheel-Berufskollegs eingeweiht, wo Gürsün İnce Kurse der VHS besuchte. 10.000 Menschen nehmen an der Gedenkveranstaltung teil.

In Solingen wird deutlich, was traurige Realität war und ist: Große Teile der Mehrheitsgesellschaft reagieren mit Gleichgültigkeit, oder sogar mit Verdrängung. So bedarf es dem Kampf der Zivilgesellschaft und Aktivist*innen, damit das Gedenken an die Opfer rechter Gewalt in der Öffentlichkeit Raum findet. Und noch etwas anderes zeigt sich: Sobald Migrant*innen sich gegen die Angriffe organisieren, werden sie in der Öffentlichkeit als unkontrollierbare aggressive Gruppen stigmatisiert. […]

Vinzenz Waldmüller, „30 Jahre Solingen – Ein unerlässlicher Kampf für Erinnerung“, in: Amadeu Antonio Stiftung vom 31. Mai 2023. Online: Externer Link: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/30-jahre-solingen-ein-unerlaesslicher-kampf-fuer-erinnerung-99935/

Von der Plan- zur Marktwirtschaft

Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der DDR und der Herstellung der deutschen Einheit fand in den ostdeutschen Bundesländern die Transformation von der Planwirtschaft sozialistischen Typs zur sozialen Marktwirtschaft statt. Die damit verbundene Privatisierung der Wirtschaft nach 1990 hat die Eigentumsstruktur und die Produktionsverhältnisse auf dem Gebiet der ehemaligen DDR radikal verändert. Dieser Prozess, der mit Massenarbeitslosigkeit verbunden war, ist beispiellos in der Geschichte moderner Industriegesellschaften.

Die Treuhandanstalt im Zentrum der Kritik

Ende 1990 hatte das Privatisierungsziel, das die Volkskammer mit der Verabschiedung des Treuhandgesetzes vom 17. Juni 1990 fixiert hatte, in der Öffentlichkeit noch nichts an Anziehungskraft verloren. In der Presse wurde Treuhandpräsident Detlev K. Rohwedder beim Verkauf der Treuhandunternehmen ein „Schneckentempo“ vorgeworfen, obwohl die ersten Betriebsschließungen bereits Proteste hervorgerufen hatten. In der Folgezeit rückte eine Behörde ins Scheinwerferlicht: die Treuhandanstalt. Sie spielte eine entscheidende Rolle bei der ökonomischen Transformation in Ostdeutschland, da sich die ehemals volkseigenen Betriebe (VEB) in ihrer Obhut befanden.

Von DDR-Bürgerrechtlerinnen und -rechtlern ursprünglich zum Schutz des Volkseigentums konzipiert, war die Treuhandanstalt schon bald dafür zuständig, die ostdeutschen Betriebe zu privatisieren. Von der Politik bekam sie weitere Aufgaben zugewiesen. So sollte sie eine Lösung für die Altschuldenproblematik finden, einen Beitrag zur Sanierung der ökologischen Altlasten leisten und zusammen mit den Tarifparteien Sozialpläne aufstellen.

In ihrer Tätigkeit allein ein behördliches Versagen zu erkennen wäre daher ahistorisch (= außerhalb der Historie) und einseitig, auch wenn die Bilanz ihrer Tätigkeit niederschmetternd ist. Denn von den rund vier Millionen Industriearbeitsplätzen blieb nur ein Drittel übrig. Von den etwa 12.000 Treuhandbetrieben wurde ein Drittel in die sogenannte Liquidation geschickt, das heißt aufgelöst. Deshalb ist das öffentliche Urteil über die Treuhandanstalt überwiegend negativ. Die öffentliche Kritik setzte ein, als die Behörde mit ihrer Arbeit begann.

QuellentextDie Treuhand

[…] Die Treuhand, das war jene einzigartige Behörde, die eine ganze Volkswirtschaft abwickeln und vom Sozialismus in den Kapitalismus überführen sollte. Sie war noch vor dem Untergang der DDR im März 1990 auf Beschluss des Ministerrats in Ostberlin gegründet worden, ursprünglich mit dem Ziel, das Volkseigentum für die Bürger der DDR treuhänderisch zu verwalten – und sie am Vermögen ihres sich auflösenden Staates zu beteiligen.

Doch dieser Gedanke trat schnell in den Hintergrund. Stattdessen rückte erst die Sanierung der Betriebe ins Zentrum – und dann eine möglichst schnelle Massenprivatisierung. Die Treuhand hat zwischen 1990 und 1994 einen Großteil der ostdeutschen Unternehmen privatisiert, saniert oder, wie es im Behördendeutsch heißt, liquidiert. Von vier Millionen Industriearbeitsplätzen blieb dabei nur jeder dritte übrig.

Auch deshalb ist die Treuhand als Symbol für einen systematischen Ausverkauf des Ostens in die deutsche Geschichte eingegangen. […] Ihr gehörten Tausende Betriebe, Kombinate, Fabriken, Ländereien, Wälder und Äcker. Es lag an ihr, zu entscheiden, welche Unternehmen leben und welche sterben sollten. Sie dürfte die mächtigste Behörde gewesen sein, die jemals in der Bundesrepublik existiert hat.

Gleichzeitig war die Treuhand auch ein gigantisches Paradox: Ihre einzige Daseinsberechtigung war es, sich selbst möglichst schnell überflüssig zu machen. Tatsächlich wurde sie am 31. Dezember 1994 offiziell aufgelöst, ohne dabei wirklich zu verschwinden. Seither existiert sie unter dem Namen Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben, kurz BvS, weiter. […]

[I]m thüringischen Bischofferode, nehmen die Gesichtszüge von Gerhard Jüttemann unverzüglich die Primärfarbe Rot an, wenn er das Wort Treuhand hört. „Da schwillt mir schon wieder der Hals“, sagt er.

Bischofferode ist nicht der schlechteste Ort, um zu verstehen, warum die Treuhand auch heute noch mehr ist als der Aktenbestand im Bundesarchiv, warum sie gleichzeitig sehr abgewickelt und sehr lebendig ist. Hier haben die Kali-Kumpel 1993 ein halbes Jahr lang um ihr Bergwerk gekämpft. Einige von ihnen traten in einen wochenlangen Hungerstreik. […]

Zu DDR-Zeiten, die hier als die goldenen Zeiten erinnert werden, hat Jüttemann als Dreher unter Tage gearbeitet. Damals lebten knapp 2500 Menschen in Bischofferode. […] Für Jüttemann ging mit der Stilllegung des Bergwerks viel mehr kaputt als nur die Arbeitsplätze. „Hier wurde alles zerschlagen“, sagt er. […]

Bischofferode sei ein „zentraler Erinnerungsort“ der Treuhand-Geschichte, „da bündeln sich viele Konfliktfelder“, sagt Dierk Hoffmann. Schon an der Verwendung der unter Historikern sehr beliebten Vokabel „Erinnerungsort“ erkennt man, was er beruflich macht.

Hoffmann ist der Leiter des großen Treuhandprojekts beim Institut für Zeitgeschichte. […]

Es ist das erste Mal, dass die Hinterlassenschaften der Treuhand so umfassend vermessen wurden. […] Von den etwa 170.000 Treuhand-Akten im Bundesarchiv wurden […] bislang rund 63.000 „erschlossen“. […]

Damit müsste Hoffmann der perfekte Adressat sein für die einfache Frage: Ist es ein gerechter Zorn, den die Jüttemanns des Landes bis heute hegen? „Die Schuldfrage können wir Historiker nicht beantworten“, sagt er. Das Gleiche gelte für die Frage, ob die Treuhand ein Erfolg oder Misserfolg gewesen sei. „Die Frage ist verständlich, aber sie wird zu keinem Ergebnis führen. Sie wird nur zu immer neuen Verwerfungen führen zwischen West und Ost.“ Aus Sicht der Beschäftigten, die ihre Arbeit verloren hätten, sei die Treuhand natürlich gescheitert, sagt Hoffmann.

Auf der anderen Seite aber seien die Aufgaben, die ihr durch die Politik übertragen wurden, einfach zu groß gewesen für die Kürze der Zeit. „Sie war zuständig für die Privatisierung und Sanierung der Betriebe, musste den Strukturwandel begleiten, Sozialpläne entwerfen und sich auch noch um die ökologischen Altlasten kümmern.“ Man könne es deshalb auch andersherum sehen: Nicht die Treuhand ist gescheitert, sondern die sozioökonomische Transformation Ostdeutschlands wurde komplett unterschätzt. Bis zum heutigen Tag.

[…] Der Historiker Dierk Hoffmann sieht die Geschichte der Treuhand trotzdem nicht ausschließlich als eine des Niedergangs. Viele Unternehmen, sagt er, hätten ihre Chancen genutzt. Klar ist auch, dass vier Jahren Treuhand erst einmal 40 Jahre Planwirtschaft vorausgegangen waren, mit den entsprechenden Verheerungen. In vielen volkseigenen Betrieben seien zwar hochwertige Produkte hergestellt worden, sagt Hoffmann […]. Von den Arbeitskosten her seien sie aber einfach nicht wettbewerbsfähig gewesen, erst recht nicht nach der Währungsumstellung am 1. Juli 1990.

Hinzu kam laut Hoffmann, dass die damals verbreiteten Erzählungen die Transformation nicht unbedingt erleichtert haben. Kohls Versprechen von den blühenden Landschaften etwa passte schon früh nicht mehr zu den verblühenden Hoffnungen vieler Menschen im Osten. Aber auch der dort verbreitete Mythos, die DDR sei die zehntgrößte Wirtschaftsmacht der Welt gewesen, verstellte den Blick auf den real existierenden Schlamassel. Oder etwas sozialwissenschaftlicher ausgedrückt: auf das immense Produktivitäts- und Wohlstandsgefälle zwischen West und Ost. […]

Vielleicht wäre es mal ein schönes Forschungsprojekt, herauszufinden, wie die Geschichte eigentlich verlaufen wäre, wenn es die Treuhand nie gegeben hätte.

Boris Herrmann, Henrike Rossbach, „Die Anstalt“, in: Süddeutsche Zeitung vom 6. Mai 2023

Der Strukturwandel Ostdeutschlands im Zeitraffer

Die Privatisierung der ostdeutschen Industrie ging mit einem ökonomischen Strukturwandel einher. Darin bestand die größte Herausforderung für die Treuhandanstalt. Da für die SED-Führung die Garantie der Vollbeschäftigung oberste Priorität genoss („Recht auf Arbeit“), war die Anpassung der DDR-Wirtschaft an die globalen Veränderungsprozesse in den 1970er- und 1980er-Jahren weitgehend ausgeblieben. Kurz vor dem Mauerfall 1989 wies Ostdeutschland gegenüber Westdeutschland einen technologischen Rückstand von ungefähr zehn Jahren auf. Der verschlafene Strukturwandel war eine schwere Hypothek für die ostdeutschen Betriebe.

Die wirtschaftliche Transformation Ostdeutschlands vollzog sich in nur wenigen Jahren und überforderte restlos alle. Zum Vergleich: Der Strukturwandel im westdeutschen Ruhrgebiet setzte Ende der 1950er-Jahre langsam ein und fand erst Ende 2018 seinen Abschluss. Damit treten die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der ökonomischen Umbrüche in Ost und West signifikant zum Vorschein. Die Beschäftigtenzahlen brachen in einzelnen Wirtschaftsbranchen dramatisch ein.

Mit den Betriebsschließungen verschwand die betriebszentrierte sozialistische Arbeitswelt, die in der DDR eine Rundum­versorgung mit Polikliniken, Kitas, Ferienheimen und Kulturhäusern garantiert hatte. Die Erfahrung, die viele Ostdeutsche erstmals mit der Massenarbeitslosigkeit machten, prägte die politischen, kulturellen und mentalen Einstellungen vieler Menschen in den ostdeutschen Bundesländern nachhaltig.

Verlusterfahrungen

Eine weitere Verlusterfahrung kommt hinzu, die erst im Vergleich zur westdeutschen Kohle- und Stahlindustrie deutlich erkennbar wird: Im Ruhrgebiet hatte es zwar große Proteste und Demonstrationen gegen die Schließung von Zechen und Stahlöfen gegeben. Gleichzeitig hatte sich aber eine Kommunikationsstrategie langfristig herausgebildet, die für viele betroffene Bergarbeiter und Stahlkocher glaubhaft und authentisch erschien. Als am 21. Dezember 2018 offiziell die letzte Zeche in Bottrop geschlossen wurde, waren unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen Armin Laschet (CDU) anwesend. Am Vorabend hatte ein ökumenischer Gottesdienst im Essener Dom stattgefunden.

Die dabei medial ausgestrahlten Bilder, die eine kulturell eingeübte Praxis des Abschiednehmens von einer großen Indus­triebranche dokumentierten, sucht man in Ostdeutschland nach 1990 vergebens. Das hängt nicht nur mit dem rasanten Tempo des Strukturwandels östlich der Elbe zusammen, sondern auch mit der Gleichzeitigkeit der politischen Umwälzungen. Die Akteure der alten Ordnung (SED, Blockparteien und Massenorganisationen) waren durch die friedliche Revolution delegitimiert. Sie hätten den sozioökonomischen Strukturwandel nicht mehr glaubhaft begleiten können. Da sich die Institutionen der neuen Ordnung im Aufbau befanden, verfügten sie noch nicht über das nötige Vertrauen. Die Entkirchlichung des Landes, die nach vier Jahrzehnten der SED-Herrschaft weit fortgeschritten war, und das Fehlen fester zivilgesellschaftlicher Strukturen kamen erschwerend hinzu.

Die Langlebigkeit von Mythen und Legenden

Bis heute verbinden sich mit der Treuhandanstalt enttäuschte Hoffnungen, überzogene Erwartungen, aber auch Selbsttäuschungen und Mythen. Dazu gehört das Versprechen von den „blühenden Landschaften“, welches Bundeskanzler Kohl, aber auch andere westdeutsche Politiker und Wirtschaftsvertreter der ostdeutschen Bevölkerung im Sommer 1990 gaben. Zu den zählebigen Legenden, die bis heute nachwirken, gehört aber auch die von Honecker 1967 in die Welt gesetzte Behauptung, die DDR zähle zu den zehn größten Industrieländern der Erde.

Die Geschichte der deutschen Einheit ist insofern auch die Geschichte einer missglückten Kommunikationsstrategie. Daraus lassen sich zwei Lehren ziehen: Erstens gilt es, die Komplexität der ökonomischen Herausforderung zu erkennen, die mit der Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft verbunden war. Dafür gab es keine Vorbilder oder Blaupausen. Zweitens geht es darum, die unterschiedlichen Erfahrungswelten der Menschen in Ost und West stärker zu berücksichtigen, die sich im Zuge der Teilung über 40 Jahre herausgebildet haben und die über die Zäsur von 1989/90 noch lange nachwirken. Auf diese Weise ließen sich viele neue Geschichten über das geteilte und dann vereinte Deutschland erzählen, die ganz unterschiedliche Perspektiven eröffnen.

Prof. Dr.; stellvertretender Abteilungsleiter im IfZ/Standort Berlin, Leiter des Forschungsprojektes zur Geschichte der Treuhandanstalt am IfZ, außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam, Mitglied der Kommission zur Erforschung der Geschichte des Bundeswirtschaftsministeriums und seiner Vorgängerinstitutionen, Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert; Geschichte der SBZ/DDR; deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte; Biographieforschung.