Frauen in der Bürgerbewegung der DDR
...und während der Friedlichen Revolution 1989
Hélène CamaradeEtienne Dubslaff
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Ein Gespräch mit Ulrike Poppe und Samirah Kenawi, geführt von Hélène Camarade und Etienne Dubslaff. Über Zivilcourage, Fraueninitiativen, Homosexualität und Lesbengruppen, Friedens- und Menschenrechtsengagement, Hafterlebnisse und Vernetzung mit Engagierten aus dem Westen. Und über Männer. „Wir wollten uns aus der Unmündigkeit, die uns der Staat auferlegte, befreien, aber auch nicht in eine neue Abhängigkeit geraten.“
Biografien
Ulrike Poppe, 1953 in Rostock geboren. Bricht Ihr Studium ab. Gründet 1981 den ersten unabhängigen Kinderladen, 1982 Mitbegründerin von Frauen für den Frieden. 1983 mit Bärbel Bohley in Hohenschönhausen inhaftiert. 1985 Gründungsmitglied von IFM (Initiative Frieden und Menschenrechte). 1987/88: Regionalbeauftragte des DDR-weiten Netzwerkes „Frieden Konkret“. Ab 1987 Mitglied der Initiative „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“, aus der 1989 die Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ (DJ) wurde. Vertritt DJ am zentralen Runden Tisch (Dez. 1989 - März 1990), Mitarbeiterin der Volkskammerfraktion Bündnis ‘90. 1991-2009: Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Berlin. 2009 als erste „Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur“ gewählt, bleibt bis zum Ruhestand 2017 im Amt.
Samirah Kenawi, 1962 in Ostberlin geboren. Nach dem Abitur Tischlerin gelernt. Dann Studium in Dresden (1984-1988): Verarbeitungs- und Verfahrenstechnik für Holz und Faserwerkstoff. Trifft die Berliner Gruppe „Lesben in der Kirche“ zur Zeit ihres Coming-outs. Aktiv in verschiedenen Frauengruppen. 1989 Mitbegründerin der lila offensive. 1987 gründet und verwaltet sie das GrauZone-Archiv, eine Sammlung zu DDR-Frauengruppen in den 1980er und 1990er Jahren, 1990 Mitglied im Unabhängigen Frauenverband (UFV), leitet 1990 das Berliner Büro des UFV. Publiziert aktuell über Geldtheorie.
Gliederung des Gespräches
1. Geschlechtliche Konstruktion in der DDR
2. Frauengruppen
3. Die Rolle der evangelischen Kirchen
4. Vernetzung der Frauengruppen
5. Kritische Rezeption des westlichen Feminismus und Einflüsse aus dem Osten
6. Repression und Hafterlebnisse
7. Friedliche Revolution und danach
Geschlechterkonstruktion in der DDR
Hélène Camarade (HC): Inwiefern hat sich Ihre DDR-Sozialisation auf Ihre geschlechtliche Konstruktion niedergeschlagen? Was hat dabei im Elternhaus, in der Schule, in der Freizeit eine Rolle gespielt?
Ulrike Poppe (UP): Meine Eltern haben beide studiert, beide waren berufstätig. Ich habe allerdings erlebt, dass meine Mutter, trotz voller Berufstätigkeit, den gesamten Haushalt bewältigt und alles für die Kinder organisiert hat. Es war völlig ausgeschlossen, dass mein Vater jemals einen Waschlappen in die Hand nahm oder seine Kaffeetasse in die Küche trug. Alles hing an meiner Mutter und das fand ich ziemlich ungerecht. Mein Vater war allerdings für das Heizen der Öfen und für Reparaturen zuständig.
Während meiner Kindheit habe ich vorwiegend mit Jungs gespielt, Eishockey, Fußball, bin auf Bäume geklettert, ich wollte eigentlich immer ein Junge sein. Auch später habe ich mich eher mit Jungen verglichen als mit Mädchen. Das hat sich verändert, als ich Anfang der 80er Jahre – da hatte ich ja schon Kinder – in der Frauengruppe war. Wir sprachen viel über uns als Frauen in der DDR. Das trug dazu bei, dass mein Selbstbewusstsein als Frau gestärkt wurde.
Samirah Kenawi (SK): Da macht sich der Altersunterschied von neun Jahren ein bisschen deutlich. Mein leiblicher Vater war Ägypter, deshalb mein Name, er kam zum Studium in die DDR. Beim Studium haben sich meine Eltern kennen gelernt. Er starb sehr früh. Ich habe erlebt, dass mein sozialer Vater sehr viel Hausarbeit gemacht hat. Für uns war es selbstverständlich, dass er den Staubsauger in die Hand nahm und den Abwasch machte. Aber das liegt vielleicht daran, dass es schon ein paar Jahre später war. Ich habe einen Bruder und zwei Schwestern: Es gab Unterschiede, aber ich bin tatsächlich relativ egalitär aufgewachsen.
Ich habe viel Zeit mit meinem Vater in der Werkstatt verbracht. Meine beiden Eltern sind Ingenieure, also bin ich in einem technischen Umfeld groß geworden und von der Anlage war ich auch technisch interessiert. Es war zwar schwierig, als Frau mit Abitur eine Ausbildung als Tischlerin zu bekommen – das hat mich schon ein paar Nerven gekostet – aber ich habe es letztendlich erreicht. In der DDR bestand sehr großes politisches Interesse, auch Frauen in technische Berufe – also traditionell in Männerberufe – zu bekommen: Bei mir ist das auf Resonanz gestoßen, weil es meinen Interessen entsprach und ich es selber positiv für mich nutzen konnte.
Etienne Dubslaff (ED): Ulrike Poppe, Sie haben erwähnt, dass Sie erst in der Frauengruppe ein (Selbst-)Bewusstsein als Frau entwickelt haben. Könnten Sie das ein wenig ausführen?
UP: Dass ich meine Identität als Frau dort entdeckt habe, ist übertrieben. Aber in der Frauengruppe fing ich an, meine Rolle als Frau und überhaupt die Rolle der Frauen in der DDR zu reflektieren. Gleichwohl waren wir uns in der Frauengruppe „Frauen für den Frieden“ in Berlin einig, dass wir nicht gegen die Männer, sondern zusammen mit den Männern für unsere Selbstbestimmung eintreten wollten. Unsere männlichen Gefährten fühlten sich – so wie wir – entmündigt durch einen autoritären Staat, der uns vorschrieb, welche Meinung wir haben sollten, welche Bücher wir lesen durften, wohin wir reisen durften, was wir eigentlich selbst bestimmen wollten. Gemeinsam mit den Männern, die genauso unterdrückt waren wie wir, wollten wir etwas in dieser Gesellschaft verändern.
Die Frauengruppen
ED: Ulrike Poppe, wie ist “Frauen für den Frieden” - die erste Frauengruppe der DDR - entstanden? Gab es Unterschiede zwischen den Tätigkeiten in den Frauengruppen und in den gemischtgeschlechtlichen Gruppen?
UP: 1982 wurde ein neues Wehrdienstgesetz erlassen, das die Einbeziehung von Frauen in die allgemeine Wehrpflicht vorsah. Das geschah in einer Zeit, in der die Blockkonfrontation auf einem Höhepunkt war und wir alle Angst hatten vor der Rüstungseskalation und einem drohenden Atomkrieg. Wir waren der Meinung, dass durch mehr Rüstung und eine weitere Militarisierung der Gesellschaft die Gefahr eines Krieges noch erhöht wird. Wir wollten ein Zeichen setzen, dass wir als Frauen uns nicht bereitfinden, in einen Krieg zu ziehen.
Wir formulierten eine Eingabe gegen dieses Gesetz, sammelten Unterschriften und schickten diesen Brief an Erich Honecker. Diese Aktion hat uns mit vielen Frauen in Kontakt gebracht, die wie wir das Gefühl hatten: Wir möchten etwas tun gegen die Kriegsgefahr, aber wir fühlen uns so ohnmächtig, und alleine und isoliert – setzen wir uns doch zusammen!
Bald kamen unsere männlichen Freunde und erklärten: „Warum müsst ihr das als Frauen unter euch machen? Wir können doch mitmachen!“ Wir aber hatten die Erfahrung gemacht, dass in den gemischten Gruppen die Männer meist die Wortführer waren, besser reden konnten, mit mehr Selbstbewusstsein auftraten und die Frauen sich eher zurückhielten. Als die Frauen unter sich waren, haben wir gespürt, dass wir Frauen genau so viel zu sagen hatten. Und dass es nicht diese Hahnenkämpfe gibt, diese Konkurrenz um Wort- und Meinungsführerschaft wie in den gemischten Gruppen, sondern dass wir in der Lage waren, viel gleichberechtigter zu kommunizieren. Das hat uns so gut gefallen und so begeistert, dass wir beschlossen haben: „Nein, wir wollen jetzt eine Frauengruppe bleiben.“
Ich muss allerdings einen Tropfen Wasser in den Wein gießen, nämlich, dass sich auch bei uns in den folgenden Jahren eine Gruppendynamik entfaltet hat, die auch zu Hahnenkämpfen führte – Hennenkämpfen vielleicht. Es entstanden auch Konkurrenzen um Meinungsführerschaften, auch Hierarchien, und diese gleichberechtigte Kommunikation hatte keinen Bestand. Aber sie war ein guter Anfang und hat uns erst einmal Mut gemacht.
„Frauen für den Frieden“ hat bis zum Ende der DDR bestanden, aber die Aktivitäten verlagerten sich mit den Jahren. Viele aus der Frauengruppe waren auch in anderen Gruppen aktiv, wir arbeiteten meistens in mehreren Gruppen gleichzeitig, ich zum Beispiel in der „Initiative Frieden und Menschenrechte“. Das war wohl die radikalste Gruppe in der DDR, die schon 1987 freie Wahlen gefordert hatte. Die Forderung nach freien Wahlen war eigentlich eine Forderung nach Systemwechsel. Wir haben es zwar nicht so genannt und nicht gesagt: „Wir wollen das DDR-System abschaffen“, aber jedem war klar, dass in freien Wahlen die SED abgewählt werden würde.
Die Berliner FfF war eine von vielen Frauengruppen DDR-weit, die sich FfF nannten. Sie hatten unterschiedliche thematische Schwerpunkte, waren mehr oder weniger radikal systemkritisch, waren zum Teil in Gemeinden der Evangelischen Kirche eingebunden und wurden alle von der Staatssicherheit beobachtet. Einen Systemwechsel hielten vor 1989 die meisten oppositionellen Gruppen nicht für möglich, angesichts der Macht Moskaus und der Akzeptanz der sowjetischen Einflusssphäre durch den Westen. Allerdings wurde durch den Reformkurs Gorbatschows die Hoffnung gestärkt, dass auch in der DDR kleine Schritte in Richtung Liberalisierung möglich werden. Diese galt es einzufordern, dazu versuchten wir Druck zu machen.
HC: Ulrike Poppe, bevor Sie 1982 „Frauen für den Frieden“ mitbegründeten, hatten Sie schon 1980 den ersten unabhängigen Kinderladen der DDR gegründet. Welche Rolle spielte die Ablehnung der Kindererziehung in der DDR in dem Engagement von Frauen, zumindest für Sie und für Frauen in Ihrer Umgebung?
UP: Zusammen mit schwangeren Müttern und angehenden Vätern haben wir nach einer Alternative zur Unterbringung unserer Babys in den staatlichen Kinderkrippen gesucht. Die Krippen in Berlin waren meist überfüllt und es mangelte an geschultem Personal. Außerdem kritisierten wir die normierten Betreuungsprinzipien, mit denen wenig Rücksicht auf individuelle Entwicklungstempi genommen wurde. Auch in der Frauengruppe wurde viel über Kindererziehung gesprochen. Die meisten von uns Frauen hatten Kinder. In den staatlichen Kindergärten sollten die Kinder mit der sogenannten patriotischen Erziehung auf die Wehrbereitschaft vorbereitet werden; in der Schule war Ende der 70er Jahre der Wehrkundeunterricht eingeführt worden. Aber nicht nur die Militarisierung war unser Thema, sondern auch zum Beispiel das Meinungsdiktat, die fehlende Förderung eigener Urteilsfähigkeit und die auf politische Konformität ausgerichteten Bildungschancen unserer Kinder.
HC: Samirah Kenawi, Sie waren schon in den 80er Jahren Studentin in Dresden und kamen auch dort mit Lesbengruppen in Kontakt. Welche Rolle spielten diese Gruppen und andere Frauengruppen in Ihrer persönlichen Entwicklung?
SK: Ich habe irgendwann Anfang der 80er mein Coming-Out gehabt und war in der glücklichen Situation, durch meine Schwägerin, die in der Kirche arbeitete, über den Umweg der Berliner Gruppe „Lesben in der Kirche“ Kontakt zum Kirchlichen Arbeitskreis Homosexualität Dresden zu bekommen. Das war ein Glück, weil das Problem war, dass diese Gruppen keine Möglichkeit hatten, ihre Treffen öffentlich anzukündigen: Sie konnten keine Anzeigen schalten, keine Plakate aushängen. Für meine persönliche Entwicklung war es sehr positiv, weil ich so ein ganz entspanntes Coming-Out hatte.
Ich war ab 1984 auch in verschiedenen anderen Frauengruppen aktiv. Ich habe durch die Gruppen gelernt, eine offene Diskussion zu führen und vor Publikum zu reden. So etwas wurde in den DDR-Schulen nicht gelernt und es war im öffentlichen Raum in der DDR praktisch nicht möglich. Nach der Wende ist mir bewusst geworden, dass es mir – anders als anderen – infolge meiner Arbeit in diversen inoffiziellen Gruppen leicht fiel, im größeren Kreis zu reden, oder einen Vortrag zu halten. Wir hatten über die Kirche auch Workshops, in denen wir Kompetenzen in der Organisation und Leitung von Gruppen vermittelt bekamen, was heute selbstverständlich ist, was aber in der DDR relativ ungewöhnlich war.
HC: Samirah Kenawi, Ulrike Poppe, welche Themen haben die Frauen in den verschiedenen Frauengruppen aufgegriffen? Worum ging es in den Themenabenden, den Vorträgen und den Debatten?
UP: Die Themen waren breit gefächert. In den ersten Jahren überwogen Friedensthemen, wie Militarisierung der Gesellschaft, militaristische Inhalte in den Schulbüchern, Kriegsspielzeug, Zivilschutzübungen, mit denen suggerieret wurde, dass wir einen Atomkrieg überleben könnten, Pazifismus, gewaltfreie Konfliktlösungen, passiver Widerstand, Unterstützung der Familien von Wehrdienstverweigerern usw. Später kamen mehr menschenrechtliche Themen hinzu, Gleichstellung der Frauen, Rechte von Schwulen und Lesben, Umweltschutz, Gastarbeiterinnen, Gewalt gegen Frauen, Kritik am autoritären Erziehungssystem und immer wieder die Forderung, als Teil der Zivilgesellschaft auch Mitspracherechte eingeräumt zu bekommen.
Die Rolle der evangelischen Kirchen
ED: Welche Rolle haben die evangelischen Kirchen in der Entwicklung von Frauengruppen oder Frauenproblematik gespielt?
SK: Ab 1978 hat die evangelische Kirche in der DDR eine wichtige Rolle gespielt, Räume, Möglichkeiten, Organisationsformen und auch Material bereit zu stellen, um politischen Gruppen ganz unterschiedlicher Couleur (von Bürgerrechtsgruppen bis Umweltschutzgruppen, homosexuelle Gruppen) Raum und damit die Möglichkeit zu geben sich zu organisieren, sich selbst zu finden: also Selbstorganisation auszuprobieren. Es war ein Freiraum, den ich erst im Nachhinein wirklich schätzen gelernt habe. Einerseits weil er für meine persönliche Entwicklung so wichtig war, andererseits weil wir später in der BRD ganz andere Probleme hatten. In der DDR mussten wir zum Beispiel keine Miete bezahlen: Die technische und finanzielle Organisation war im Grunde kein Problem, sobald wir einen Pfarrer oder eine Pfarrerin fanden, die den Mut hatten, uns Räume oder Technik zur Verfügung zu stellen.
Man muss aber sagen, dass nur die evangelische Kirche der politischen Opposition der DDR Räume und Technik zur Verfügung stellte, nicht die katholische. Da gibt es den Hintergrund, dass sich im August 1976 Oskar Brüsewitz, ein Pfarrer, vor seiner Kirche in Zeitz selbst verbrannt hat. Daraufhin kam es am 6. März 1978 zu einem sogenannten Grundsatzgespräch zwischen staatlichen und kirchlichen Vertretern aus den obersten Hierarchien. Dabei hat die evangelische Kirche eine ganze Reihe an Freiräumen ausgehandelt, die es dann der evangelischen Kirche wiederum ermöglichten, Oppositionellen Räume jenseits direkter staatlicher Kontrolle anzubieten. Die evangelische Kirche handelte auch weitere Rechte und Freiräume aus, unter anderem mehr Möglichkeiten, westliche Literatur einzuführen.
UP: Die Kirche hatte aber auch eine Pufferfunktion zwischen Opposition und Staat. Staatliche Vertreter haben nie direkt mit Oppositionellen geredet, aber wenn wir diszipliniert werden sollten, dann ging das immer über die Kirche. Und die Evangelische Kirche hat sich auch auf diese Weise benutzen lassen. Bestimmte Veranstaltungen oder bestimmte Themen wurden von oben einfach verboten.
Das betraf beispielsweise eine geplante Menschenrechtsveranstaltung in einer Gemeinde 1985. Das Verbot durch die Kirchenleitung war sozusagen der Grundstein für die Gründung der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ (IFM). Deren Credo war, dass es keinen Frieden ohne Menschenrechte geben kann. Wir hielten es für nötig, unsere Menschenrechtsposition öffentlich zu vertreten, und da die Kirche nicht bereit war, sich daran zu beteiligen, gründeten wir uns als außerkirchliche Einrichtung. Die Berliner Gruppe „Frauen für den Frieden“ war auch eine außerkirchliche Gruppe.
Der Grund war, dass wir den Paternalismus der Kirchenleitung nicht akzeptierten. Wir wollten uns aus der Unmündigkeit, die uns der Staat auferlegte, befreien, aber auch nicht in eine neue Abhängigkeit geraten. Unser Verhältnis zur Kirche war also gespannt. Dennoch sind wir außerordentlich dankbar. Viele großräumige Veranstaltungen, wie Friedensseminare, Friedenswerkstätten, überregionale Frauentreffen und das jährliche Netzwerktreffen „Frieden Konkret“ (1982 bis 1989) wurden durch die kirchliche Infrastruktur möglich.
ED: Gab es vielleicht auch Pastoren, die weniger aus Angst vor der Stasi als aus weltanschaulichen Gründen heraus nicht so begeistert von Lesbengruppen oder von Frauengruppen waren?
SK: Ja, sicher. In Schriften wurde Homosexualität befehdet. Es gibt Texte von traditionellen, sehr konservativen Christen, die vertraten den Standpunkt: „Homosexualität, das ist Sodomie und ist verboten“. Es gab aber eben auch die anderen, die sagten: „Menschen sind geschaffen, um miteinander zu leben, und Liebe ist Gottes Wunsch“. Es gehörte allerdings Mut und Stärke dazu, als Pastor oder Pastorin zu sagen, „Wir akzeptieren Homosexualität als eine Form der Liebe“.
Es gab zum Beispiel 1989 in der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg eine Tagung unter dem Titel „Die ich rief, die Geister“, wo es um das Thema „Kirche und ihre Gruppen“ ging. Das fand noch unter Leitung von Elisabeth Adler statt, eine, finde ich, sehr wichtige Frau. Elisabeth Adler hat zum Beispiel 1982 eine Tagung zum Thema „Feminismus, Reizwort oder Programm?“ organisiert, und damit solche Themen in die gesellschaftliche Diskussion eingebracht. Sie hat 1982 auch eine Tagung „Homosexualität, ein Tabu?“ veranstaltet, und damit im Prinzip den Weg bereitet, dass Betroffene und KirchenvertreterInnen zusammenfanden.
Nach dieser Tagung sind dann die ersten Arbeitskreise Homosexualität innerhalb der Kirche, also die kirchlichen Arbeitskreise Homosexualität entstanden. Die Kirche hat also einerseits viel initiiert und sie hat natürlich auch vieles blockiert.
HC: Wieviel Mut brauchte man trotz des eventuellen Schutzes der Kirche, um in eine staatlich nicht genehmigte Frauengruppe zu gehen? Gab es eine rote Linie?
SK: Es war mit persönlichem Mut verbunden, in eine solche Gruppe zu gehen, sich dort zu äußern und dazu zu stehen – und dann auch immer die Risiken abzuwägen. Ja, es gab immer so eine unsichtbare rote Linie. Uns war immer bewusst, wenn wir die übertreten, ist die Gefahr sehr viel größer, ins Gefängnis zu kommen als sonst. Diesen Mut hatten nicht allzu viele. Vor dieser Linie haben wir versucht, die Freiräume auszunutzen und diese Linie immer so ein Stück hinauszuschieben.
Es war nämlich keine starre Linie: Jede hatte für sich ein Gespür, wo sie ist. Petra Lux zum Beispiel hatte als Leiterin eines Jugendclubs die Kompetenz, Veranstaltungen dort zu organisieren. Diese Kompetenz hat sie für die Gründung eines Frauenzentrums im Jugendclub benutzt. Ihr war mit Sicherheit bewusst, dass sie eine rote Linie übertritt. Sie hat es aber ausprobiert und gedacht: „Mal gucken, was passiert“. Letztendlich wurde sie 1983 entlassen. Wenn man sich die Entwicklung der DDR von den 50er-Jahren bis in die 70er-Jahre anschaut, hat sich die rote Linie doch hinausgeschoben. Die politischen Freiräume und der persönliche Mut sind deutlich größer geworden, gerade in den 80er-Jahren, auch durch die Arbeit der Gruppen.
Die Vernetzung der Frauengruppen
HC: Wie haben sich die Frauengruppen vernetzt? Wie funktionierten zum Beispiel die jährlichen DDR-weiten Frauentreffen?
SK: Was ich in meiner Dokumentation der DDR-Frauengruppen „Frauengruppentreffen“ nenne, war anfangs ein Treffen der Gruppen „Frauen für den Frieden“, die in vielen Großstädten der DDR eine eigene Gruppe hatten. Das erste dieser Treffen fand 1984 in Halle statt, dann in Berlin, Leipzig, Magdeburg, Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) und 1989 in Jena. Jedes Jahr war es in einer anderen Stadt, und jedes Jahr kamen mehr Gruppen hinzu. In den Jahren 1988-89 gab es dann Frauengruppentreffen, bei denen die „Frauen für den Frieden“ nur noch sehr wenig präsent waren. Dafür trafen sich Frauen aus Kirchenkreisen, Lesbenkreisen, feministischen Kreisen, feministische Theologinnen, Künstlerinnen. Es gab also ein breites Spektrum.
Die Treffen waren sehr gemischt. Wir konnten dadurch in einem sehr heterogenen Kreis diskutieren und uns austauschen. Was für eine Bereicherung das war, habe ich erst Jahre nach der Wende erkannt – weil es solche Begegnungen dann nicht mehr gab. Heute reden so unterschiedliche Menschen öffentlich kaum noch miteinander und wenn sie in medialen Talkrunden aufeinander treffen, dann suchen sie niemals einen Konsens, also nie etwas Verbindendes. Heute treffen sich Menschen in ihren eigenen geistigen Blasen. Dort suchen sie nicht nach Blickerweiterung, sondern nur nach Bestätigung der eigenen Meinung. Ich habe zum Beispiel, obwohl ich Atheistin bin, viel von den feministischen Theologinnen gelernt: Wie man kritisch Texte liest, wie man sich mit einer Geschichte, mit einer Institution wie die der Kirche kritisch auseinandersetzt.
Natürlich gab es eine große Lesben-Community innerhalb dieser Gruppen – das war unter den aktiven Frauen häufig – und die haben möglicherweise zu viel Raum eingenommen, weil sie sonst immer unsichtbar waren. Das hat auch zu Diskussionen geführt.
UP: Samirah Kenawi hat die Frauengruppen der 1980er Jahre in ihrem Buch aufgelistet. In diesen jährlichen Frauengruppen-Treffen haben wir uns über Themen, Methoden und mögliche Zusammenarbeit ausgetauscht. Nach meinem Eindruck gab es in den ersten Jahren mehr politische Themen, eine scharfe Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nahmen die feministischen Inhalte und damit die Forderungen nach Frauenrechten und Lesbenrechten zu. Die Lesbengruppen wurden immer dominanter und viele wollten einfach nur feiern und tanzen. Dagegen war ja auch nichts zu sagen, aber ich bedauerte, dass die radikalen politischen Forderungen verloren gingen.
Meine Position war, und die wurde auch von unserer Gruppe „Frauen für den Frieden“ in Berlin und der Hallenser Frauengruppe vertreten, für die Rechte aller zu kämpfen und nicht nur für Frauenrechte. Wir kritisierten die Feministinnen, wenn sie an die Universitäten gingen und Genderprofessorinnen werden. Sie sollten in die Wirtschaft gehen, ins Militär, in die Polizei, sie sollten Physikerinnen werden und Ingenieurinnen, sie sollten die Männerdomänen knacken und sich nicht schon wieder in der Wissenschaft und in der Politik – Sozialpolitik, Bildungspolitik – eine Frauennische suchen. Und das hatten wir auch am Feminismus im Westen kritisiert, den wir aus der Ferne beobachten konnten.
ED: Wie haben Sie in diesem halb legalen Raum neue Mitstreiterinnen rekrutiert und nach welchen Kriterien?
SK: Im Grunde war es Mund-zu-Mund-Propaganda. Jede kannte irgendwie Leute. Wir haben zum Beispiel in Dresden vom Kirchlichen Arbeitskreis Homosexualität aus 1985-87 drei DDR-weite Frauentreffen organisiert und dazu im Prinzip privat alle angeschrieben, die wir kannten, natürlich auch die anderen Lesbengruppen. Wir haben ungefähr 50 Briefe verschickt. Im ersten Jahr kamen 60 Frauen, im nächsten 100 und im dritten Jahr circa 200. Es sprach sich also herum und so entstanden größere Netzwerke. Es hat uns auch einige zähe Kämpfe gekostet, in Dresden im größten Jugendklub 1987 endlich auch außerhalb der Kirche eine homosexuelle Gruppe zu gründen und dort im Programm zu erscheinen. Das war für uns ein großer Sieg, dass es dadurch ein bisschen Öffentlichkeit gab. Es ging uns ja letztendlich darum, Menschen zu erreichen, die irgendwie merkten, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, und die Austausch suchten. Sie sollten in diesen Gruppen die Möglichkeit finden, sich über ihre eventuelle Homosexualität klar zu werden und wenn nötig ein positives Selbstbild zu entwickeln.
UP: Das Dresdner Beispiel ist sicher eine Ausnahme. In der Regel war es nicht möglich, öffentliche Räume, Restaurants, Klubhäuser zu mieten. In den 1970er-Jahren haben wir für eigene Kulturveranstaltungen in Berlin Jugendklubs genutzt, aber das rief die Stasi sofort auf den Plan. Manche Jugendklubs sind daraufhin sofort geschlossen worden. Die einzige Möglichkeit, um eine Halböffentlichkeit zu bekommen, waren kirchliche Räume. Deshalb haben wir als Frauengruppe auch mit der Pastorin Christa Sengespeick und der Auferstehungsgemeinde in der Friedenstraße in Berlin-Friedrichshain zusammengearbeitet. Dort haben wir Veranstaltungen organisiert, die sehr gut besucht waren, circa 400 Menschen kamen, vorwiegend Frauen.
Wir mussten uns in einemn liturgischen Rahmen kleiden, aber den Kompromiss sind wir gerne eingegangen, da wir dennoch unsere Botschaften unterbringen konnten. So gewannen wir an Sichtbarkeit, und bekamen Zulauf. Die Menschen, die den Kontakt zu uns suchten, mussten uns aber persönlich ansprechen. Eine andere Möglichkeit, Menschen zu rekrutieren, war die jährlich stattfindende Friedenswerkstatt in Berlin, wo in einem Kirchgarten die einzelnen Gruppen ihre Stände hatten. So konnte man mit Menschen ins Gespräch kommen und es fanden sich dann auch Leute, die an solchen Aktivitäten Interesse hatten.
HC: Gab es Kontakte in die BRD oder zu ähnlichen Frauengruppen im Osten?
UP: Seit Anfang der 1980er- Jahre entstanden eine Reihe von Kontakten zu Friedensgruppen in der ganzen Welt. Besonders über die Organisation European Nuclear Disarmament (END) waren Verbindungen entstanden, die uns an der blockübergreifenden Diskussion über eine neue Friedensordnung teilhaben ließen. Wir durften zwar nie zu den jährlichen END-Konferenzen reisen, aber erhielten auf illegalem Weg die Berichte und konnten unsere Positionen einbringen.
Für die Frauengruppe waren die Kontakte zu „Frauen für den Frieden“ in Westberlin wichtiger, und auch zu Frauengruppen in der Bundesrepublik. Als Bärbel Bohley und ich inhaftiert waren, demonstrierten Mitglieder von „Frauen für den Frieden“ aus Westberlin an der Grenzübergangsstelle „Checkpoint Charlie“ für unsere Freilassung. Auch Petra Kelly und Gerd Bastian von den „Grünen“ haben sich für unsere Freilassung eingesetzt und all die Jahre Kontakt zu uns gehalten. Zu Frauengruppen in Ostmitteleuropa hat es meines Wissens keine Kontakte gegeben.
SK: Die Berliner Lesbengruppe hatte Kontakte zu Westberliner Gruppen. Über diese Kontakte konnte die Ostberliner Gruppe zum Beispiel einen Selbstverteidigungskurs organisieren. Als die Lesbengruppe in Jena ab Januar 1989 den Rundbrief „frau anders“ herausbrachte, wurden sie von Westdeutschen Gruppen durch Sachspenden wie Papier und Toner unterstützt. Andere Gruppen erhielten vereinzelt Bücher aus dem Westen. Es gab also unterschiedliche, oft persönliche Kontakte zwischen ost- und westdeutschen Frauen beziehungsweise Frauengruppen.
HC: Vernetzung und Öffentlichkeit erfolgten oft im Ostblock durch heimliche Samisdat-Drucketzeugnisse. Warum haben sich Frauen so wenig in Samisdat geäußert? Es existieren nur vier spät erschienene Frauensamisdat.
SK: Ich glaube, Frauen haben sich schwerer getan, sich schriftlich zu äußern. Und vielleicht war das auch ein Zeitmangel.
UP: Ja, warum eigentlich haben sie sich schwerer getan? Das weiß ich auch nicht, aber das ist richtig, es gab von „Frauen für den Frieden“ eigentlich nie ein Samisdat. Also einzelne Erklärungen, die dann auch vervielfacht wurden, die gab es schon. Aber kein Periodikum, also nicht so etwas wie Der Grenzfall. Das war eine Zeitschrift der Initiative „Frieden und Menschenrechte“. Frauen haben darin geschrieben, allerdings sehr wenig.
Zum Großteil haben wir in Vollzeit gearbeitet, wir hatten alle Kinder, wir hatten wenig Geld und oft schlechte Wohnverhältnisse, und wir hatten fast jeden Tag noch Gäste, die mit uns diskutieren wollten, und wann sollten wir denn da noch irgendwelche Artikel schreiben? Ich erinnere mich an die Zeit, dass ich immer nur entsetzlich müde war.
SK: Ich vermute, der Zeitmangel war ein wesentliches Motiv. Und dann aber sicherlich auch, dass Frauen sich oder ihre Arbeit nicht so wichtig genommen haben. Das sage ich deshalb, weil, als ich dann das GrauZone-Archiv aufgebaut habe, es mich teilweise sehr viel Überzeugungsarbeit gekostet hat, Frauen dazu zu bringen, das, was sie an Dokumenten besaßen, herauszugeben, weil sie denen nicht so viel Bedeutung beigemessen haben. Sie dachten: „Ist doch nicht so wichtig.“ Jetzt höre ich jedoch immer öfter Frauen sagen „Mensch, toll, dass du das gemacht hast“, also dass Frauen dadurch Zugang zu ihrer Geschichte haben und im Archiv jetzt Sachen finden, die sie sonst weggeschmissen hätten.
UP: Es hat ja auch dreißig Jahre gedauert, ehe die Frauen mal ein Buch über die Berliner Frauengruppe „Frauen für den Frieden“ mit Selbstzeugnissen und zusammenfassenden Betrachtungen geschrieben haben.
Rollenverteilung in der DDR-Oppositionsbewegung
HC: Ulrike Poppe, Sie und Ihr damaliger Mann, Gerd Poppe, waren gleichzeitig in der Oppositionsbewegung sehr aktiv. Wie hat sich die Rollenverteilung in der Partnerschaft organisiert?
UP: Manche Paare hatten sich darauf geeinigt, dass nur einer sich mit Aktivitäten in einer oppositionellen Gruppe in Gefahr begibt. Aber ich brachte in die Ehe schon ein oppositionelles Vorleben ein und mein Mann auch. Wir blieben beide aktiv, und das bedeutete eine besondere Gefährdung für unsere Kinder. Wir hinterlegten Vollmachten für deren Betreuung, falls wir beide einmal verhaftet werden sollten. Wir waren beide voll berufstätig und teilten uns die Hausarbeit. Ich besuchte sogar neben der Arbeit noch die Volkshochschule, um englisch und französisch zu lernen, zeichnete Münzen, um noch etwas Geld dazu zu verdienen, nähte viel, mein Mann baute die Möbel selbst.
Wir hatten jahrelang kein Badezimmer, nur eine Außentoilette, die Kohleöfen funktionierten nur bei bestimmten Wetterlagen, wir wohnten im vierten Stock und von oben drang das Regenwasser in unsere Wohnung. Der Alltag war sehr anstrengend. Mein Mann half so viel er konnte, sonst hätte ich das nicht durchhalten können. 1989/90 saßen wir beide am Zentralen Runden Tisch, mein Mann für die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ und ich für „Demokratie Jetzt“. Er wurde dann Minister ohne Geschäftsbereich.
Als die ersten freien Wahlen anstanden, mussten wir entscheiden, wer von uns beiden sich in die Volkskammer wählen lässt. Ich habe verzichtet, weil mir klar war, dass ich als Abgeordnete in dieser Zeit mir einen 16-Stunden-Job aufbürden würde und für nichts anderes mehr Zeit hätte. Meine Kinder und meine anderen Interessen waren mir dann doch wichtiger. Als ich miterlebte, was mein Mann alles zu bewältigen hatte, war ich heilfroh über meine Entscheidung. Ich habe sie nie bereut.
Einfluss der Lesbengruppen in der DDR
HC: Die Homosexualität, sowohl die männliche als auch die weibliche, sollte in der DDR unsichtbar bleiben. Hat die politische Arbeit der Lesbengruppen in der DDR etwas verändert?
SK: Was die Homosexuellen-Arbeit betrifft, also den Kampf um die Emanzipation von Homosexuellen um gesellschaftliche Toleranz, ist das zwar nicht gesellschaftlich wahrgenommen worden, aber es hat zu einem politischen Umdenken geführt. Eine exemplarische Geschichte für die Unsichtbarkeit der Lesben und die doch stattfindenden Entwicklungen fand 1984 statt. Damals sind elf Frauen aus der Berliner Lesbengruppe ins ehemalige Frauenkonzentrationslager Ravensbrück gefahren, um dort der homosexuellen Opfer zu gedenken. Sie hatten sich als Gruppe dort angemeldet und wahrscheinlich, weil sowas bisher nie vorgekommen war, wurde das alles irgendwie genehmigt. Die Frauen hatten einen Kranz mit der Schleife „Wir gedenken der homosexuellen Opfer“ drucken lassen, haben den Kranz niedergelegt und sich dann ins Gästebuch eingetragen. Drei Tage später fuhr eine Frau nochmal hin und stellte fest, der Kranz war weggeräumt, und der Eintrag aus dem Gästebuch war herausgerissen worden. Daraufhin beschwerten sich die Frauen als Kirchlicher Arbeitskreis Lesben in der Gethsemane-Gemeinde beim Ministerium für Kultur.
Aber der Brief landete beim Staatssekretariat für Kirchenfragen, da die Behörde die Gruppe als eine kirchliche Gruppe betrachteten – das Wort „Lesben“ existierte nicht offiziell in der DDR. 1985 wollten die Frauen wieder nach Ravensbrück fahren, diesmal ganz gezielt zum 40. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers. Aber dieses Mal wurden sie alle von der Stasi verhaftet. Im Vorfeld sind nämlich alle Blumenläden informiert worden, dass sie eine eventuelle Anfrage für einen Kranz melden sollten. Offiziell sind die lesbischen Frauen also diskriminiert und schikaniert worden, sobald sie sichtbar werden wollten. Aber im Hintergrund ist an der Humboldt-Universität zu Berlin im Oktober 1984 – also nach dem ersten Besuch der Gruppe in Ravensbrück – eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zum Thema Homosexualität gegründet worden.
Um zu klären: Homosexualität, was ist das überhaupt?, hat der Staat Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen interdisziplinär zusammengerufen. Und die kamen relativ schnell zu der Erkenntnis, das ist keine Krankheit, das ist ein soziales Verhalten, das muss man tolerieren und, wenn diese Menschen eben ihre Liebe leben können, dann werden das ganz brave StaatsbürgerInnen.
Die Politik des Staates liberalisierte sich also. Zum Beispiel in Zeitschriften wie der Jungen Welt, die damals noch nicht so hart marxistisch war, wurde auch das Thema mal aufgegriffen. In Dresden konnten wir dann eben direkt mit staatlichen Stellen verhandeln und dann diesen staatlichen Klub für Homosexuelle im Jugendklub „Scheune“ gründen. So hat sich also langsam etwas auf Grund dieses Protests von elf Frauen verändert. Ich denke dabei auch an den Film Coming Out, der erste und einzige Film über Homosexualität in der DDR, der seine Premiere am 9. November 1989 hatte.
Also ja, es gab durchaus einen Einfluss auf die Gesellschaft. Doch was wir auch wollten, war eine öffentliche Diskussion, wie wir Gesellschaft umgestalten und mitgestalten wollen. Eine öffentliche Diskussion hat aber bis zum Ende nicht stattgefunden. Trotzdem haben die Oppositionsgruppen etwas bewegt in der Gesellschaft. Auch, dass zum Beispiel der §175 des Strafgesetzbuches zur Verfolgung von Homosexuellen letztendlich 1968 gefallen ist und der Folgeparagraph §151 im Jahre 1988 ausgesetzt und 1989 abgeschafft wurde.
Kritische Rezeption des westlichen Feminismus und Einflüsse aus dem Osten?
HC: Wie war damals Ihre Einstellung zum westlichen Feminismus?
UP: Wir waren etwas skeptisch in Bezug auf den Feminismus im Westen, aber das hatte verschiedene Gründe. Vielleicht waren wir auch nicht gut genug informiert. Als ich erfuhr, dass in einen Frauenbuchladen in Westberlin eine junge Frau mit ihrem sechsjährigen Sohn nicht eingelassen wurde, da habe ich mir gedacht, die haben doch alle eine Macke die West-Feministinnen, wenn das so weit geht. Aber vielleicht sind das nur Extrembeispiele. Jetzt weiß ich sehr viel mehr von deren Kämpfen um Anerkennung und Gleichstellung, und ich habe große Hochachtung vor den Frauen, die wirklich viel riskiert haben und viel Herzblut drangegeben haben und hart kämpfen mussten, um das zu erreichen, was sie bis heute erreicht haben.
SK: Bei aller Kritik an den westdeutschen Frauengruppen, die ich teile, sind wir natürlich auch durch Bücher aus dem Westen auf Themen aufmerksam gemacht worden, wie zum Beispiel Sexismus in der Sprache, Frauenbild in der Geschichte und in der Literatur oder Hexenprozesse. Wir haben uns immer damit kritisch auseinandergesetzt, aber es gab immer so einen Punkt, wo wir uns dachten: „Oh Gott, nee, das ist ja übertrieben!“ Also es war so ein zwiespältiges, ein kritisches Verhältnis zu der westdeutschen, europäischen und amerikanischen Frauenbewegung.
UP: Ich habe mich viel später mit Sibylle Plogstedt getroffen und sie hat mir erklärt, was die Auffassung der westlichen Feministinnen zum Sexismus am Arbeitsplatz ist. Während der Schule und des Studiums arbeitete ich im Stahlwerk Hennigsdorf, einem Männerbetrieb, das war harte Arbeit. Ich als junge Frau, Abiturientin, war extrem den Witzeleien, den sexistischen Anmachen ausgesetzt. Aber mir wäre nicht im Traum eingefallen, zu einem Vorgesetzten zu gehen, um mich zu beschweren.
Wir haben durch diesen autoritären Staat, durch diese immer wieder leidlich erfahrene Entmündigung eine solche Aversion gegen Hierarchien entwickelt, dass wir uns selbst wehren wollten, wenn wir uns angegriffen oder beleidigt fühlen. Wenn uns einer auf den Po geklatscht hat, haben wir zurückgeschlagen. Aber inzwischen weiß ich, dass das nicht die Methode ist, die man heute jeder empfehlen kann. Es ist gut, dass es heute Frauenbeauftragte gibt, an die man sich wenden kann. Aber damals habe ich gar nicht eingesehen, dass es so eine Instanz geben muss.
HC: Gab es Einflüsse aus dem Osten, aus Polen, aus der Tschechoslowakei oder gab es Anregungen aus der DDR, durch Literatur, Filme? Was stammte aus dem Osten in Bezug auf dieses Frauenbewusstsein, die Entscheidung, sich als Frau für und mit Frauen zu engagieren?
SK: Es gab eine starke Frauenliteratur: Autorinnen wie Christa Wolf , Irmtraud Morgner , Brigitte Reimann , Maxie Wander , Helga Königsdorf , und so weiter. Sie haben Bücher geschrieben, die für uns viel Stoff zur Diskussion boten und um über Gesellschaft, Rollenverständnis, andere Gesellschaftsentwürfe nachzudenken. Das kam eindeutig aus der DDR selbst.
Was das Thema Homosexualität betrifft, da gab es in den 1980er- Jahren einen Film, eine ungarische Koproduktion, der hieß Der andere Blick. Er war doppelt interessant, weil es da um Ungarn 1956, den früheren Versuch einer sozialistischen Reformierung ging, und da eine Journalistin zwischen die Fronten geriet, die eben auch noch homosexuell war. Es war der einzige Film, in dem das Thema vorkam. Wir sind in einer Situation aufgewachsen, in der es keine Vorbilder gab, ja teilweise nicht einmal ein Wort gab, als wir nach einer Identität als lesbische Frauen suchten. Aber was emanzipatorische Frauenentwürfe anging, da finde ich, dass es in der DDR-Literatur eine ganze Reihe an Anregungen gab.
UP: Und ich würde auch sagen im Film. Ein paar dieser Filme waren teilweise verboten, wie Das Kaninchen bin ich. Es gab aber doch einige, gerade mit Angelica Domröse und Jutta Hoffmann , die ein realistisches Frauenleben beschrieben als das offiziell propagierte, die einen Lebensalltag zeigten, in welchem die Frau nicht mit Leichtigkeit alles unter einen Hut brachte. Filme, die durchaus beschrieben, wie schwer der Alltag für die Frauen war, die gleichzeitig Beruf und gesellschaftliche Arbeit bewältigten, Kinder großzogen und dann noch eine attraktive Ehefrau sein sollten. Heute werden ja zum Teil alte Polizeirufe – das ist eine Krimireihe aus der DDR – gezeigt. Und selbst in diesen Filmen kann man entdecken, dass doch viel über die Realität der Frauen in der DDR gesagt wird.
SK: Das stimmt, im Film gab es auch kritische Auseinandersetzung mit der Situation in der DDR, was sowohl Gewalt in der Ehe als auch Doppelbelastung im Alltag betrifft. In der Rockmusik gab es natürlich Silly mit Tamara Danz .
UP: Und es gab die Sängerin Bettina Wegner !
SK: Es gab definitiv starke Frauen, in der bildenden Kunst zum Beispiel Angela Hampel. Als Frau gab es in der DDR keine Probleme, sich ein eigenständiges Leben vorzustellen. Es war nicht nur gesellschaftlich gewollt, sondern dafür gab es auch genügend Vorbilder. Im Bereich Homosexualität war es kritischer: Es war im Westen auch so, aber wir lagen mit der Entwicklung immer zehn Jahre zurück.
Repression und Hafterlebnisse
ED: Was hat die Stasi gegen die Frauengruppen unternommen? Wurden IM infiltriert? Gruppen einfach observiert? Gab es besondere Strategien in der Verfolgung der Frauengruppen?
UP: Kurz nach unserer Gründung wurde eine Inoffizielle Mitarbeiterin (IM) in unsere Frauengruppe eingeschleust. Später kamen andere hinzu. Wir mussten zwar damit rechnen, dass es Spitzel unter uns gibt, aber wir wussten nicht, wer es ist. Der Kontakt zu einer oppositionellen Gruppe bedeutete generell das Risiko, nicht mehr in bestimmten Berufen und in bestimmten Einrichtungen arbeiten zu dürfen, und auch auf ein Studium oder eine berufliche Fortbildung verzichten zu müssen.
Manche in unserer Frauengruppe verloren ihre Berufstätigkeit. Das betraf unter anderem drei Frauen in pädagogischen Berufen. Ich durfte mein Fachschulfernstudium, das ich neben meiner Arbeit im Museum begonnen hatte, nicht fortsetzen. Ein Kollege, der sich in einer Versammlung nicht von mir distanzierte, während ich im Gefängnis war, verlor ebenfalls seinen Studienplatz. Mein Mann und ich standen unter ständiger Beobachtung durch die Staatssicherheit. Einige Male hatte ich Hausarrest, wie andere Frauen auch, die kleine Kinder hatten. In der Wohnung fanden wir ein verdrahtetes Mikrophon. Das liegt jetzt in einem Museum.
Wir mussten natürlich damit rechnen, dass eine neue Wanze eingebaut werden würde, und dass jedes Wort in unseren privaten Räumen von der Stasi mitgehört und ausgewertet wird. Mehrmals wurden sowohl mein Mann als auch ich auf der Straße festgenommen und keiner konnte die Kinder von Kindergarten abholen. Aber im Evangelischen Kindergarten wusste man Bescheid und es fand sich immer jemand, der sich um die Kinder kümmerte. Als wir aus der Untersuchungshaft kamen, bekamen die Frauen der Frauengruppe anonyme Briefe, in denen Bärbel und ich bezichtigt wurden, uns auf eine Spitzeltätigkeit eingelassen zu haben. Aber allen war klar, dass die Briefe von der Stasi kamen. Weniger resistent haben wir uns erwiesen, als die Stasi im Rahmen ihrer Zersetzungsstrategien durch ihre IM böse Nachrede verbreitete, um Misstrauen zwischen uns zu säen, besonders zwischen Bärbel und mir. Die Angst war immer gegenwärtig, besonders bei denen, die Kinder hatten. Aber diese Willkür, wie beispielsweise in der Sowjetunion, wo die Kinder einfach aus der Familie geholt werden, gab es in der DDR jedenfalls in den 1980er-Jahren nicht. Allerdings, wenn beide Eltern verhaftet wurden, wie Lotte und Wolfgang Templin, und keine Vollmacht hinterlegt worden war, konnten die Kinder in ein Heim kommen. Antje Böttger, die sehr aktiv in der Frauengruppe war, hat fünf Kinder. Es gibt einen Vorgang in den Stasiakten, in dem beschrieben wird, wie die Staatssicherheit versuchte, Zeugen für eine Aussage zu gewinnen, dass ihre Kinder vernachlässigt werden. Aber es fand sich niemand. Alle Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen, Nachbarinnen sagten aus, dass die Kinder sauber gekleidet, freundlich und fleißig sind. (...)
SK: Natürlich wurde auch versucht, in Lesbengruppen Spitzel einzuschleusen. Es war aber schwieriger. Im Dresdner Arbeitskreis Homosexualität ist es gelungen. Im Vorbereitungskreis der Berliner Lesbengruppe (dem Organisationskreis der Gruppe, also dem inneren Zirkel) gelang es nicht. Allerdings haben in dieser Gruppe aus Angst entstandene Verdächtigungen das Miteinander zeitweise vergiftet.
HC: Ulrike Poppe, Sie wurden dann auch 1983 unter einem falschen Vorwand verhaftet, und dann inhaftiert. Gibt es besondere Erlebnisse als Frau in der Haft?
UP: Es gab das berüchtigte Frauengefängnis Hoheneck, ein Strafvollzug. Und das war wirklich sehr, sehr schlimm. Ein entsetzliches Gefängnis. Und in den 1950er-Jahren hat man tatsächlich den Müttern die Kinder, die sie im Gefängnis zur Welt gebracht haben, weggenommen. Sie wurden dann unter Umständen auch adoptiert. Da gibt es schlimme Geschichten.
Ich war nur in Untersuchungshaft, in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Hohenschönhausen zusammen mit Bärbel Bohley. Das, was ich als sexistisch bezeichnen würde: Man musste sich da als Häftling entkleiden. Neben mir stand eine Frau, die sagte: „Ziehen Sie sich aus!“ Aber ich hörte, wie Gelächter und Getrampel vor der Tür entstanden. Die Tür hatte so ein Guckloch. Und da waren die männlichen Aufseher und drängelten sich vor dem Guckloch. Ich habe die Frau gebeten, sie möge dafür sorgen, dass diese Männer weggehen, ich will keine Peepshow. Aber sie hat sich geweigert und dann musste ich mich vor diesen Männern ausziehen. Und das… naja. Das fand ich schon ziemlich schrecklich.
HC: Das nennt man heute sexuelle Gewalt?
UP: Ja.
Friedliche Revolution und Wiedervereinigung
ED: Sie waren beide in der Friedlichen Revolution politisch aktiv. Welchen Blick werfen Sie heute auf die Arbeit des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV) 1989/1990?
SK: Im Unabhängigen Frauenverband (UFV), der sich aus der DDR-Frauenbewegung heraus gegründet hatte, war uns schon klar, dass es Frauenrechte zu verteidigen galt. Die formaljuristische Situation der Frauen – und im Übrigen auch der Homosexuellen – waren in der DDR ja besser als die in der BRD, auch wenn das sozial anders aussah. Ich erinnere mich an das Jahr 1990 als eine Zeit, in der ich das Gefühl hatte, dass wir auf die ständigen Anforderungen reagieren, die von außen an uns herangetragen werden. Ich habe diese Zeit eigentlich als ziemlich frustrierend erlebt.
Ich hatte das Gefühl, dass wir im Herbst 1989 Gesellschaftsentwürfe geschrieben haben, weil wir die DDR reformieren wollten, wobei uns eigentlich schon nach dem Fall der Mauer klar wurde, dass es die DDR langfristig als eigenständigen Staat nicht mehr geben würde. Aber wir dachten, dass wir einiges mehr in diesem Vereinigungsprozess einbringen könnten – und das ist uns im Grunde nicht gelungen. Alle unsere Entwürfe sind vom Tisch gefegt worden. Sodass ich Ende 1990 meine Arbeit im UFV aufgegeben habe, weil ich keinen Sinn mehr in dieser politischen Arbeit sah. Ich selbst bin aus der Erfahrung der Wende zur Erkenntnis gekommen, dass eine politische und gesellschaftliche Vision oder Utopie eine ökonomische Basis braucht. Ich habe damals angefangen, mich mit Ökonomie zu beschäftigen. Es ging mir auch darum, den Kapitalismus zu verstehen.
UP: Der UFV hat zu Beginn eine – finde ich – sehr gute Analyse der Frauensituation in der DDR vorgelegt. Es lohnt sich, dieses Gründungspapier nochmal zu lesen. Wir als „Frauen für den Frieden“ haben im UFV nicht mitgemacht, weil wir nicht damit einverstanden waren, dass auch SED-Parteifrauen zugelassen waren. Wir waren nicht bereit, mit Frauen zusammen zu arbeiten, die vor Kurzem noch unseren Frauengruppen das Existenzrecht abgesprochen hatten. Dieser Frauenverband war uns zu politisch indifferent. Während des Zentralen Runden Tisches (ZRT) saßen zwei stimmberechtigte Vertreterinnen des UFV mit am Tisch und eine von beiden, Tatjana Böhm , hat die sogenannte Sozialcharta vorgelegt. Das war ein Entwurf für soziale Rechte, die wir teils aus der DDR, teils wünschenswert für eine reformierte Bundesrepublik in die deutsche Einheit mit hineinnehmen wollten. Die Sozialcharta hat zwar vom ZRT mehrheitlich Zustimmung bekommen, aber schließlich war nur von Bedeutung, was später im Einigungsvertrag stand.
ED: Woran sind die Sozialcharta und die Verfassung gescheitert? Welche Konsequenzen hat das bis heute?
SK: Der ZRT war so eine Art Interimsregierung, sie hat verschiedene Reformpapiere und Gesellschaftskonzepte vorbereitet. Es gab auch eine Kommission, die den Verfassungsentwurf erarbeitet hat. Es wäre sehr wünschenswert gewesen und hätte auch viel emotionalen Konfliktstoff aus dem späteren Vereinigungsprozess genommen, wenn sich wirklich Ost und West zusammengesetzt hätten und über einen neuen Gesellschaftsvertrag nachgedacht hätten. Und all diese Dinge – Sozialcharta, Verfassungsentwurf und viele andere Vorschläge, die es gab – sind nie in der Volkskammer, die am 18. März 1990 gewählt wurde, diskutiert worden.
UP: Die Volkskammer hatte es abgelehnt, sich mit dem Verfassungsentwurf zu befassen. Durch die schnelle deutsche Wiedervereinigung und die damit vollzogene Rechtsangleichung wurden alle diese Entwürfe obsolet. Einzig über die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs konnten sich die Verhandlungspartner zum Staatsvertrag nicht einigen. In der DDR galt seit 1972 eine Fristenregelung, die es Schwangeren erlaubte, innerhalb der ersten 12 Schwangerschaftswochen über einen Abbruch zu entscheiden. Diese Fristenregelung blieb zunächst auf dem ehemaligen DDR-Gebiet bestehen, während in den alten Bundesländern der Schwangerschaftsabbruch bis auf wenige Ausnahmen weiterhin unter Strafe stand. Erst nach äußerst heftig geführten Diskussionen wurde die liberale Regelung zum Schwangerschaftsabbruch in ganz Deutschland eingeführt, wofür die Frauenbewegung im Westen seit Jahrzehnten gekämpft hatte.
SK: Das war eben sehr frustrierend damals. Es hat viel dazu beigetragen, dass sich Leute, die in der DDR politisch aktiv waren, mehr oder weniger aus dem politischen Leben zurückgezogen haben. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass sie nach dem Mauerfall alles sagen konnten, aber dass keiner mehr zugehört hat. Das ist Demokratie!
Das Grau-Zone-Archiv
HC: Samirah Kenawi, wann haben Sie angefangen, Dokumente über den Unabhängigen Frauenverband zu sammeln, und mit welchem Ziel? Wie ist das GrauZone-Archiv entstanden?
SK: Die Idee ist im Jahre 1987 beim letzten Dresdner Frauentreffen entstanden. Dann war für mich schon klar, ich gehe nach Berlin zurück, mein Studium neigt sich dem Ende. Und in Dresden ist auch die Idee für eine Berliner Frauengruppe entstanden. Sie wollte sich Frauenzentrum nennen und wollte versuchen, Diskussionsraum zu schaffen und Frauen zum Diskutieren anzuziehen.
Vor diesem Hintergrund wollte ich das, was es an grauer Literatur gab – also an inoffiziellen Dokumenten, Flugblättern aus den verschiedensten Frauengruppen – zusammentragen, um es damit den Frauen zugänglich zu machen, weil das ja immer eher von Zufällen abhing, ob Frauen das irgendwie in die Hände kriegten. So ist die Idee für das Archiv entstanden, um den in Frauengruppen organisierten DDR-Frauen Zugang zu diesen mehr oder weniger legalen Dokumenten der Selbstorganisation zu verschaffen.
Nach der Wende, als ich wieder in Berlin lebte, kriegte ich sehr schnell mit, wie groß die Missverständnisse zwischen Ost- und Westfrauen waren, und dass DDR-Frauen Schwierigkeiten mit dem Feminismus im Westen hatten. Aber dieser ganz andere Emanzipationsanspruch von DDR-Frauen wurde von den Westfrauen wiederum nicht wahrgenommen. Um da so ein Stück Verständnis füreinander zu schaffen, habe ich dann ganz gezielt dieses Archiv weiter ausgebaut: um auch den Westfrauen gegenüber deutlich machen zu können, was es an eigenständiger DDR-Frauenbewegung gegeben hat, mit durchaus teilweise anderen Themen, durchaus anderen Organisationsformen.
HC: Könnten Sie ein Beispiel für diese West/Ost-Unterschiede in der politischen Arbeit geben?
SK: Zum Beispiel: Ein Problem, das uns in der Wende auf die Füße fiel, war, dass wir natürlich gar keine Erfahrung im Umgang mit Medien hatten und auch nichts über deren Bedeutung im politischen Kampf innerhalb einer Demokratie wussten. Es gab in der DDR keinen Zugang zu Medien für oppositionelle Gruppen. Folglich mussten wir erst in der Wende lernen, wie wichtig die waren. In der DDR gab es die absurde Situation, dass, wenn man eine politische Aktion machte, man sich nicht darum zu kümmern brauchte, die Presse einzuladen, weil die Stasi immer irgendwie da war und absurderweise als "Eckermann" oder als Presseersatz diente.
Weil die Stasi jede kleinste Reaktion von drei Frauen mit einem riesigen Schweinwerfer anstrahlte, wirkte alles riesenhaft. Deshalb waren wir überhaupt nicht gewöhnt, uns darum zu kümmern, eine Veranstaltung so zu planen, dass sie von der Presse wahrgenommen wird. Doch nach der Wende machten wir plötzlich eine Erfahrung: Wenn die Presse nicht zugegen war, dann, egal wie groß die Veranstaltung war, egal wie viele da waren, hat das eigentlich nicht stattgefunden. Wichtig ist nur, was in den Medien erscheint.
Im Amt für die „Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur“
ED: Ulrike Poppe, Sie waren ab 2009 Beauftragte des Landes Brandenburg für die Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur. Gibt es da eine besondere Art, als Frau an der Aufarbeitung der Vergangenheit zu arbeiten? Reagieren Frauen und Männer anders auf die Aufarbeitung?
UP: Ich kann nicht sagen, ob es von Vor- oder Nachteil ist, wenn eine Frau an der Aufarbeitung der Vergangenheit arbeitet. Vielmehr hat eine Rolle gespielt, ob die Leiterin der Aufarbeitungsbehörde zu DDR-Zeiten auf der Seite der Oppositionellen gestanden hat. Nach meiner Erfahrung gibt es jedoch deutliche Unterschiede in den Erzählungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Soweit für die Männer die Behinderungen ihrer beruflichen Entwicklung durch die Staatssicherheit einen höheren Stellenwert hatten und für viele Frauen die Bedrohung der Familie im Vordergrund stand, spiegelt sich das auch in der entsprechenden Vergangenheitsreflexion wider.
Zitierweise: Ulrike Poppe und Samirah Kenawi im Gespräch mit Hélène Camarade und Etienne Dubslaff, „Frauen in der Bürgerbewegung und während der Friedlichen Revolution", in: Deutschland Archiv, 08.12.2022, Link: www.bpb.de/516051. Der Text wurde von Manon Bienvenu-Crelot und Layla Kiefel transkribiert. Er erscheint voraussichtlich 2024 auf Französisch in: Hélène Camarade, Sibylle Goepper (éd.), Femmes de RDA avant et après 1989 (DDR-Frauen vor und nach 1989), Presses universitaires du Septentrion / Villeneuve-d'Ascq.
Ergänzend zum Thema:
Externer Link: "Für Angst blieb keine Zeit", Die Schriftstellerin Gabriele Stötzer (Kachold) über die Entmachtung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR durch Frauen in Erfurt, bpb Stasi-Dossier 10.04.2018.
Die französische Germanistin und Historikerin Hélène Camarade ist seit 2012 Professorin für deutsche Zeitgeschichte an der Universität Bordeaux Montaigne. Sie ist Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung, des DAAD und des Institut universitaire de France (Junior-Fellow 2014-2020). Ihre Themenschwerpunkte sind: Deutscher Widerstand im Nationalsozialismus, DDR-Opposition, Frauengeschichte, Erinnerungsfragen und Geschichte in Filmen und Comics. Letzte Bücher auf französisch: Les Mots de la RDA, Toulouse, 2019 (mit S. Goepper); Le tract en RDA 1949-1990. Instrument de résistance, d’opposition et de conquête de l’espace public, Bordeaux, 2022. Auf deutsch: « Die DDR in neueren deutschen Comics und Graphic Novels » in Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, 2018; „Reizthema Verrat. Der unmögliche Dialog zwischen ehemaligen IM und ihren Opfern in Dokumentarfilmen über die Staatssicherheit“ in A. Koetzing et al., Bilder der Allmacht, Göttingen, 2018; „Von der Revolution zur Wiedervereinigung. Betrachtungen aus französischer Sicht: Bilanzen und kontrafaktische Geschichtsschreibung“ in I.-S. Kowalczuk et al., (Ost)-Deutschlands Weg, BpB, 2021; „Heimat ist ein Raum aus Zeit (Thomas Heise, 2019). Ein Haufen deutscher (Familien-)Geschichte“ (mit M. Steinle), in C. Erk et al., Lola, Toni, Yella und die anderen. Der deutsche Film nach 1990, Paderborn, voraus. 03/2023.
Dr. Etienne Dubslaff ist Associate Professor für deutsche Landeskunde und Geschichte an der Université Paul-Valéry Montpellier 3 und Mitglied in der Forschungsgruppe CREG (Montpellier/ Toulouse). Er hat an der Sorbonne und an der Universität des Saarlandes zur ostdeutschen Sozialdemokratie promoviert und u.a. "Oser plus de social-démocratie." La recréation et l'établissement du Parti social-démocrate en RDA. 1989-1990 bei Peter Lang publiziert. Seine Forschungen konzentrieren sich auf die "Friedliche Revolution" in der DDR, die deutsche Sozialdemokratie seit 1945, den Wandel des deutschen Parteiensystems und die Bundestagswahlkämpfe.