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Wisława Szymborska | Polen | bpb.de

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Wisława Szymborska

Marta Kijowska

/ 6 Minuten zu lesen

Wisława Szymborska gilt als die wichtigste Lyrikerin Polens. 1996 erhielt sie den Literaturnobelpreis. Ihre stilistische Flexibilität wurde zu ihrem Markenzeichen. Die thematische Skala ihrer Lyrik reicht von der Banalität des Alltags bis zur Unergründlichkeit der Metaphysik.

Schriftstellerin Wisława Szymborska bei der Nobelpreisverleihung 1996. (© AP)
Zitat

Nichts kommt zweimal vor,
auch wenn es uns anders schiene.
Wir kommen untrainiert zur Welt/und sterben ohne Routine

Diese Zeilen stammen aus einem Gedichtband, der 1957 erschien, den Titel "Rufe an Yeti" trug und im damaligen Polen Ausdruck einer neuen Ära war: Noch kurz zuvor waren die Parolen des Sozialistischen Realismus umgegangen, und die Dichter hatten sich bemüht, die herrschende politische Ordnung und die Helden der sozialistischen Arbeit zu besingen. Nun aber wehte im Land ein frischer Wind, und das Publikum begeisterte sich für ganz neue Zauberworte: Paris, Existentialismus, Jazz. Die Autorin des Bandes war eine junge Krakauer Dichterin, die sich bald als eine der kraftvollsten Stimmen ihrer Generation entpuppen sollte. Ihr Name lautete Wisława Szymborska.

Obwohl diese Zeit lange zurückliegt und sie seit Jahren als Grande Dame der polnischen Lyrik gefeiert wird, ist über sie und ihr Leben nicht viel bekannt. Ihre Abneigung gegen jede Form von Publizität ist sprichwörtlich, die Konsequenz, mit der sie sich den Medien verweigert, geradezu imponierend. Alles, was sie über sich zu sagen habe, sei in ihren Gedichten zu finden, lautet ihre übliche Erklärung. So sind mehrere Publizisten, die gern ein Buch über sie geschrieben hätten, an ihrer Verschwiegenheit verzweifelt; andere haben lediglich Informationsfetzen gesammelt. Was sie in Erfahrung gebracht haben, würde gerade mal eine Seite füllen: Die Dichterin verehrt Michel de Montaigne und Thomas Mann, blättert gern im Tagebuch von Samuel Pepys und kann sich nicht vorstellen, dass jemand Charles Dickens` "Pickwick Club" nicht kennen könnte. Sie bewundert die Bilder des Holländers Jan Vermeer, einer ihrer Lieblingsregisseure ist Federico Fellini. Sie liebt die Natur, besucht gern archäologische Museen und schätzt gute Horrorfilme. Sie mag Pedanterie und ist eine Liebhaberin von Zitaten, Anmerkungen und Fußnoten. Ein Gedicht muss vollständig in ihrem Kopf existieren, bevor es aufgeschrieben wird.

Wenn man sie früher manchmal fragte, warum sie die Malerei der holländischen Altmeister so schätze, antwortete sie, sie würden das Gewöhnliche, Alltägliche, Banale in den Rang des Schönen emporheben. Ähnlich verhält es sich von Anfang an mit ihrer Poesie: Auch sie verleiht den alltäglichen Dingen die Aura des Schönen und Erhabenen. Das erreicht sie durch die oft unkonventionelle Perspektive, aus der sie ein Erlebnis, eine Situation oder einen Gegenstand betrachtet. Die Rückseite eines Bildes ist ihr ebenso wichtig wie die Vorderseite, ein Spalt im Bühnenvorhang erscheint ihr nicht minder interessant als der Platz in der ersten Reihe.

Die Überzeugung von der grenzenlosen Vielfalt der Welt ist bis heute eine ihrer wichtigsten Inspirationen geblieben, andere hat ihr schlicht ihr eigenes Leben geliefert. Es begann am 2. Juli 1923 in Bnin (heute Kórnik), einem Dorf bei Posen. Dort war ihr Vater, Wincenty Szymborski, als Gutsverwalter tätig. Er war auch derjenige, der ihr das aufmerksame Betrachten der Welt beibrachte und somit ihre spätere intellektuelle Grundhaltung prägte – die Auffassung, dass jede Reflexion ihren Ursprung in der Verwunderung habe. "Was immer wir von dieser Welt denken", wird sie in ihrer Nobelpreisrede sagen, "diesem unermesslichen Schauspiel, für das wir zwar eine Eintrittskarte haben, deren Gültigkeit aber lächerlich kurz ist, wir müssen immerfort über sie staunen."

Möglicherweise verdankt sie ihre Neugier und ihre Fähigkeit zu staunen aber auch dem intellektuellen Klima Krakaus, wo sie seit 1931 lebt. Hier machte sie unter der deutschen Besatzung das Abitur, studierte an der Jagiellonen-Universität Polonistik und Soziologie, arbeitete jahrelang in der Redaktion der Wochenschrift Życie Literackie (Literarisches Leben), für die sie auch die vielgelesene Kolumne "Außerplanmäßige Lektüren" schrieb. In Krakau ging sie eine kurze Ehe mit dem Dichter Adam Włodek und eine langjährige Beziehung mit dem Prosaiker Kornel Filipowicz ein. Und nicht zuletzt: Hier begann ihre literarische Karriere. Ihr erster Band mit dem schlichten Titel "Gedichte" (1948) wurde zwar "aus ideologischen Gründen" abgelehnt, doch schon ihre beiden Sammlungen aus den 1950er Jahren, "Deshalb leben wir" (1952) und "Fragen, die ich mir stelle" (1954), fanden die Zustimmung der Zensur und wurden in kurzer Zeit mit zwei Literaturpreisen bedacht. Sie waren genau das, was die kommunistischen Machthaber unter dem Begriff "engagierte Lyrik" verstanden.

Nach diesem Flirt mit dem Sozialistischen Realismus versuchte Szymborska allerdings nie wieder, dem Leser eine bestimmte Weltsicht aufzuzwingen. "Ich bin mir lieber als Menschenfreund/denn als Freund der Menschheit", stellte sie in einem Gedicht fest. Diese Erkenntnis spiegelte sich bald in ihrer gesamten Dichtung, in der sie mehr auf Fragen als auf fertige Antworten vertraute und auf der Verlässlichkeit individueller Erfahrung bestand. So brachten ihr die nächsten beiden Bände, "Rufe an Yeti" (1957) und "Salz" (1962), zwar erneut die Anerkennung der kommunistischen Behörden, aber auch das große Interesse der Kritik und der Leser ein. Endlich gelang es ihr, zu einem eigenen Stil zu finden. Seine Eigenart bestand unter anderem darin, dass es – so paradox es klingt – kein bestimmter Stil war. "Ich kenne keinen Dichter, der so findig seinen Stil von Gedicht zu Gedicht – je nach Leitidee, Thema, Gattungsart, Ziel – änderte", konstatierte Jahre später der renommierte Literaturkritiker Jerzy Kwiatkowski.

Diese stilistische Flexibilität wurde mit der Zeit zu Szymborskas Markenzeichen. Zugleich war mit jedem weiteren Band, etwa mit "Hundert Freuden" (1967), "Alle Fälle" (1972) und "Die Große Zahl" (1976), immer deutlicher sichtbar, worin der Reiz ihrer Lyrik liegt: darin nämlich, dass sie gewissermaßen kein Geheimnis in sich birgt. Doch das bedeutet nicht, dass ihre Gedichte einfach, leicht zu interpretieren sind – einfach und anschaulich sind nur die Mittel, mit denen sie ihre Gedanken zum Ausdruck bringt. Hinzu kommt ihr bewusst sparsamer Umgang mit der Sprache, der aus der Überzeugung resultiert, dass – im Leben wie in der Literatur – zu viel geredet werde. Sie kommt mit wenig Worten aus, wobei sie besonders gern auf einen knappen Satz vertraut: "Ich weiß nicht." Er sei zwar klein, hat sie einmal gesagt, würde aber unser Leben ungemein erweitern. Dies gelte auch für einen Dichter: "Mit jedem Gedicht versucht er, darauf zu antworten, doch sobald er nur einen Punkt gesetzt hat, beginnt er zu zögern."

Ihre (selbst)zweifelnde Haltung behält Szymborska fast immer, egal, welches Thema sie behandelt. Und die thematische Skala ihrer Lyrik ist nahezu grenzenlos. Sie reicht von der Banalität des Alltags bis zur Unergründbarkeit der Metaphysik, vom realen Erlebnis bis zum Traum, vom Sinn der Geschichte bis zur Beschaffenheit der Natur. Dabei schwankt sie stets zwischen Konkretheit und Abstraktion, zwischen Vorsicht und Bejahung, zwischen scheinbarer Naivität und hohem intellektuellem Anspruch. Dieses Schwanken ist die tragende Kraft ihrer Poesie. Gleichzeitig ist ihr ein Hang zu Ironie und Sarkasmus eigen – allerdings ist er kein Ausdruck von Zynismus, sondern ein Mittel, paradoxe Aspekte der Wirklichkeit ans Tageslicht zu holen. Dies demonstriert sie geradezu meisterhaft in ihrer Sammlung aus der Zeit des Kriegsrechts, "Menschen auf der Brücke" (1986), in der sie die Absurdität der politischen Situation entlarvt, ohne dazu direkt Stellung zu nehmen.

Seit dem Erscheinen dieses Bandes stieg ihr Ansehen enorm und als sie im Jahre 1996 mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde, galt sie endgültig als die wichtigste Lyrikerin Polens. Die Auszeichnung hatte für ihre Bewunderer auch negative Konsequenzen: Neun Jahre mussten sie auf ihren nächsten Gedichtband warten. Als er im Jahr 2002 unter dem Titel "Der Augenblick" erschien, löste er sofort neue Begeisterungsstürme aus: weil er die gleiche, unverkennbare Handschrift aufweist, aber auch weil man ihm ansehen kann, dass die Dichterin ihre Fähigkeit, über die Welt zu staunen, immer noch nicht eingebüßt hat.

Im Gegenteil, sie scheint sie besonders sorgsam zu pflegen, seitdem sie weiß, wie kostbar jeder einzelne "Augenblick" ist: wegen seiner Einzigartigkeit und weil mit seinem Vergehen das Ende ein kleines Stück näherrückt. Er ist Gewinn und Verlust zugleich. Letzteres erfüllt Wisława Szymborska mit verständlicher Melancholie – was noch deutlicher in ihrem bislang letzten Band, "Doppelpunkt" (2005), zu erkennen ist –, gleichzeitig aber empfindet sie immer noch jene "Freude am Schreiben", der sie einst in ihrem berühmten gleichnamigen Gedicht Ausdruck gab. Sie wird sie also hoffentlich weiterhin in die Sprache der Dichtung übersetzen, in der "jedes Wort gewogen wird, wo nichts gewöhnlich, nichts normal ist", und dabei überraschende Fragen stellen.

Quellen / Literatur

Halicka, Beata, Zur Rezeption der Gedichte von Wisława Szymborska in Deutschland, Berlin 2002.

Kijowska, Marta, "Der Weg vom Leid zur Träne ist interplanetarisch". Wisława Szymborska, Nobelpreis für Literatur 1996. in: Kerner, Charlotte (Hrsg.), Madame Curie und ihre Schwestern – Frauen, die den Nobelpreis bekamen, Weinheim/Basel 1997.

Lütvogt, Dörte, Untersuchungen zur Poetik der Wisława Szymborska, Wiesbaden 1998.

Dies., Zeit und Zeitlichkeit in der Dichtung Wisława Szymborskas, München 2007.
Beitrag aus: Externer Link: "Länderbericht Polen", hrsg. von Dieter Bingen und Krysztof Ruchniewicz (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung Bd. 735), Bonn 2009.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Die Germanistin Marta Kijowska, 1955 geboren, arbeitet als Journalistin, Übersetzerin und Biografin in München. Zuletzt verfasste sie eine Biografie über den polnischen Lyriker Stanislaw Jerzy Lec.