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Kommentar: Zur aktuellen Lage von Memorial International | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Zur aktuellen Lage von Memorial International Russland-Analysen Nr. 427

Anke Giesen

/ 7 Minuten zu lesen

Aus Russland vertrieben, wird sich Memorial mit der Verlegung des Schwerpunkts des Netzwerks nach Europa ein Stück neu erfinden müssen.

Teilnehmer der Kundgebung gegen die Auflösung der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial vor der russischen Botschaft in Berlin am 13.12.2021 (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild | Monika Skolimowska)

Als im November 2021 bekannt wurde, dass der russländische Staat den internationalen Dachverband des Memorial-Netzwerks sowie dessen Mitglied, das Menschenrechtszentrum Memorial, gerichtlich zu liquidieren sucht, war die Aufregung in Kreisen der mit Russland befassten Wissenschaftscommunity und zivilgesellschaftlichen Akteure groß. Wurde doch die Eröffnung der betreffenden staatsanwaltlichen Verfahren gegen beide Organisationen als weiterer bedeutender Schritt in der Entwicklung Russlands zum autoritären Staat gewertet.

Inzwischen ist es neun Monate her, dass Russland – fußend auf absurden Begründungen – die Ukraine überfallen hat und bis heute dort einen unmenschlichen Krieg gegen die Zivilbevölkerung führt. Es liegt zwei Monate zurück, dass die russische Führung Teile der eigenen Zivilbevölkerung für diesen Krieg mobilisiert hat.

Wie geht es unter dieser weiter verschärften Lage den Mitarbeitenden von den inzwischen liquidierten Organisationen und den anderen russländischen Mitgliedsverbänden des Memorial-Netzwerks?

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Ereignisse der letzten zwölf Monate das seit über dreißig Jahren im postsozialistischen Raum bestehende Netzwerk zu einer tiefgreifenden Neuorientierung zwingen.

In der Zeit von November 2021 bis zum Februar 2022 ging man im Moskauer Hauptquartier des Netzwerks noch relativ gelassen mit Anklage und dem Urteil zur Zwangsauflösung vom 28. Dezember 2021 um, auch wenn man sich über die Chancen des Erfolgs des Revisionsverfahrens keine Illusionen machte. Da die Zwangsauflösung erstmal "nur" den internationalen Dachverband und das Menschenrechtszentrum betraf, schien es zunächst möglich, die Arbeit der beiden Organisationen auf andere juristische Personen im Memorialnetzwerk zu verlegen. Die Räumlichkeiten wurden auf die Mitgliedsorganisation "Informations- und Aufklärungszentrum NIPC Memorial" und die Aufgabe der Koordination des Netzwerks innerhalb Russlands auf den russländischen Dachverband übertragen. Die im Rahmen des Menschenrechtszentrums aktiven Juristen und Menschenrechtler verlagerten ihre Tätigkeit in ein neu ins Leben gerufenes informelles Netzwerk. Man war sich allerdings klar, dass man das Risiko minimieren müsse, dass auch Memorial Russland gezwungen würde, sich als "ausländischer Agent" zu registrieren. Auch verbrachte man vorsorglich die Archive an einen sicheren Ort und begann deren Digitalisierung voranzutreiben.

Als kurz nach dem Einmarsch in die Ukraine jedoch die Moskauer Räumlichkeiten einer Razzia durch OMON-Truppen und den FSB unterzogen wurden, wurde deutlich, dass die Verlagerung der Arbeit auf andere juristische Personen im Netzwerk keine Lösung darstellt. Aus der Tatsache, dass dabei sämtliche Büros und alle Computer konfisziert wurden – ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu noch existierenden Memorial-Organisationen, wie NIPC oder Memorial Moskau – wurde geschlossen, dass es dem gesamten Netzwerk an den Kragen gehen sollte.

Die Befürchtung, dass auch die lokalen Machthaber in den Regionen die örtlichen Memorial-Organisationen zur Schließung zwingen würden, bewahrheitete sich glücklicherweise nur teilweise. So wurde bisher lediglich der Permer Memorialverband gerichtlich aufgelöst, der sich aber unter neuem Namen schnell reformieren konnte. Zurzeit wird jedoch gegen die Memorial-Organisation in Komi vorgegangen. Viele regionale Verbände blieben aber glücklicherweise bisher einigermaßen unbehelligt, was wohl auch damit zusammenhängt, dass die Mehrheit der lokalen Organisationen aufgrund ihrer sehr begrenzten finanziellen Mittel von den regionalen Behörden nicht als "gefährlich" in ihrer Wirkung auf die örtliche Bevölkerung eingeschätzt wird.

Sowohl der internationale Dachverband als auch das Menschenrechtszentrum hatten nämlich jeweils beträchtlich Summen an Fördergeldern aus dem Ausland akquirieren können, was ihre Unabhängigkeit gegenüber der Finanzierung aus russländischen und damit staatlich regulierbaren Quellen garantiert hatte. Damit waren sie – trotz ständiger Versuche seitens des Staates, sie über das Agentengesetz zu disziplinieren – staatlicherseits schwer kontrollierbare zivilgesellschaftliche Player gewesen – ein Status, der in einem durch die Putinsche Machtvertikale kontrollierten Russland weder auf der regionalen noch föderalen Ebene goutiert wird.

Wenn auch die regionalen Mitgliedsverbände als juristische Personen im vergangenen Jahr erstmal nicht im Fokus der behördlichen Verfolgung standen, sahen sich aber eine große Anzahl der Aktiven im russländischen Memorial-Netzwerk nach Kriegsbeginn persönlich in Gefahr: Viele hatten in Artikeln und sozialen Netzwerken ein Verständnis der russländischen Geschichte und Gegenwart offenbart, das mit den neuen, mit Kriegsbeginn verabschiedeten Fake-News-Gesetzen im Widerspruch stand. Die Sorge, deshalb persönlich zur Verantwortung gezogen zu werden, führte dazu, dass viele Mitarbeitende von Memorial-Organisationen im Verlauf des Frühjahrs das Land verließen und im Baltikum, Polen, Tschechien, Frankreich, Deutschland und weiteren EU-Ländern Zuflucht suchten.

Somit steht den in Russland verbliebenen Angehörigen des Memorial-Netzwerks seit über einem halben Jahr eine erhebliche Anzahl von "Memorialzy" gegenüber, die versuchen, ihre Arbeit in der Emigration fortzusetzen und in den betreffenden Aufnahmeländern – wenn überhaupt – auf eher kleine, hauptsächlich ehrenamtlich getragene Memorialverbände treffen.

Da sich die Flucht vieler Aktiver überaus kurzfristig und auf der Grundlage von Schengen-Visa vollzog, stellte sich in den Ankunftsländern die Frage nach Aufenthalt und Lebensunterhalt. Während einige mittelosteuropäische Länder relativ unkompliziert humanitäre Visa und damit auch Arbeitserlaubnisse ausstellten, gestaltet sich die Situation in Deutschland weitaus schwieriger. Im Zusammenwirken der Stiftung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen, der Russland-Co-Gruppe von amnesty international und Memorial Deutschlands konnte ein Auffangnetzwerk ins Leben gerufen werden, mit Hilfe dessen die ausgereisten Mitarbeitenden von russländischen Memorial-Verbänden mit Stipendien versorgt und auf verschiedene Einsatzorte in Museen, Gedenkstätten, staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen der Geschichtsaufarbeitung verteilt werden konnten. Jedoch verfügen nach wie vor die meisten Betroffenen weder über einen gesicherten Aufenthalt noch eine Arbeitserlaubnis. Die Stipendien, an denen der gegenwärtige Aufenthaltstitel nach § 18 d des Aufenthaltsgesetzes hängt, laufen zeitnah aus, eine Anschlussfinanzierung ist in vielen Fällen ungewiss. Trotzdem tut sich das Innenministerium – trotz gegenteiliger Verlautbarungen von Vertretern der Bundesregierung – mit der Erarbeitung einer Empfehlung für den Umgang mit der betroffenen Personengruppe, die den Ländern und damit auch den lokalen Ausländerämtern als Orientierung dienen könnte, schwer.

Diese unklare Zukunftsperspektive der zahlreichen in Deutschland befindlichen Aktiven wirkt sich natürlich auf den Zustand des Gesamtnetzwerks auf, der ja auch in Russland nicht als gesichert erscheint.

Im Vorstand von Memorial International, der unbeeindruckt von der rechtlichen Auflösung des Dachverbands weiter regelmäßig seine Vorstandssitzungen abhielt und über die Zukunft des Netzwerks beriet, war man sich schnell einig, dass das Hauptquartier des Netzwerks perspektivisch nicht in Moskau bleiben könne, sondern dass es einen neuen internationalen Dachverband mit Sitz in Europa geben müsse. Der ursprünglich ins Auge gefasste Standort Berlin schied einmal aus Gründen der deutschen Gesetzgebung für internationale Organisationen, aber auch wegen der Visa-Politik der Bundesregierung schnell aus und andere Städte wie Wien, Brüssel und Genf rückten in den Fokus. Neben der Entscheidung für einen geeigneten Standort erwies sich der Prozess der Ausarbeitung einer neuen Satzung, bei dem möglichst eine von Vielfalt gekennzeichnete Gruppe von Aktiven (Vertreter russländischer und europäischer, hauptstädtischer und regionaler Verbände, der jungen und der älteren Generation) miteinbezogen werden sollte, als langwierig.

Während eines weiteren Gerichtsprozesses zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Übertragung der Räumlichkeiten von Memorial International an das NIPC Memorial ging die Nachricht über die bevorstehende Verleihung des Friedens-Nobelpreises durch die Medien. Der Preis stellt vor dem Hintergrund dieser Situation zwar einen enormen Ausdruck von internationaler Wertschätzung und moralischer Unterstützung dar, kann aber dem Netzwerk leider auch keine nachhaltige Perspektive bieten.

Ob das Netzwerk, seine Menschenrechtsarbeit und seine Bemühungen zur Aufarbeitung der sowjetischen Staatverbrechen noch eine Zukunft haben, wird davon abhängen, inwieweit diese Tätigkeiten in größerem Maßstab in Russland überhaupt noch weiter möglich sein werden und die emigrierten "Memorialzy" im Ausland Bedingungen vorfinden, die ihnen nachhaltig erlauben, ihre historische Forschung, Aufklärungs- und Menschenrechtsarbeit weiter fortzuführen. Hilfreich wäre hier z. B. die Gründung einer gesamteuropäischen Stiftung, die – ähnlich der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur – Projektgelder und institutionelle Förderung für die Fortsetzung der Forschung zu den sowjetischen Staatsverbrechen und deren Folgen in den Staaten des postsozialistischen Raums sowie für die historischen Aufarbeitung und politische Bildung zur Verfügung stellen könnte.

Zudem ist von Wichtigkeit, ob der Umzug des Hauptquartiers des Memorial-Netzwerks nach Europa sowohl institutionell als auch mental gelingt. Memorial hat seine Identität immer aus dem Selbstverständnis der sowjetischen Bürgerrechtsbewegung hergeleitet, ein Zugang, der schon in der Vergangenheit bereits den Verbänden in Italien, Tschechien, Frankreich und Deutschland nicht in der gleichen Selbstverständlichkeit offenstand. Mit der Verlegung des Schwerpunkts des Netzwerks nach Europa wird sich Memorial ein Stück neu erfinden müssen und seine in der Sowjetunion bzw. Russland sozialisierten Angehörigen werden lernen müssen, eine weniger sowjetspezifische bzw. russländische Perspektive einzunehmen, sondern werden stärker gesamteuropäische Herangehensweisen entwickeln müssen. In diesem Prozess werden die nichtrussländischen Verbände (auch die in der Ukraine!) eine möglicherweise wichtigere Rolle einnehmen als bisher. Der jungen Generation wird diese Umstellung zweifellos gelingen, aber für diejenigen, die die Entwicklung Memorials seit den späten achtziger Jahren mitvollzogen haben, wird dieser Prozess auch mit emotionalen Verlusten und Fragen an die eigene Identität einhergehen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. Anke Giesen ist Mitglied des Vorstands von Memorial International und MEMORIAL Deutschland e.V.