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Kommentar: Wie sehr geht es bei der strafrechtlichen Verfolgung von "Rehabilitierung des Nazismus" um politische Repressionen? | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Wie sehr geht es bei der strafrechtlichen Verfolgung von "Rehabilitierung des Nazismus" um politische Repressionen? Russland-Analysen Nr. 440

Andrii Nekoliak Elizaveta Klochkova

/ 6 Minuten zu lesen

In Russland werden erinnerungspolitischen Gesetzen mit dem strafrechtlichen Vorgehen gegen regierungskritische Menschen verknüpft.

Bediensteter vor dem Moskauer Golowinskij Bezirksgericht, in dem Oleg Orlow wegen der Diskreditierung der russischen Armee angeklagt wurde. (15.09.2023) (© picture-alliance/dpa, TASS | Mikhail Tereshchenko)

Zusammenfassung

Nach dem Beginn des großangelegten russischen Einmarsches in die Ukraine im Februar 2022 kam es im Land zu einer Welle von Protesten gegen den Krieg. Die russische Regierung hat die politischen Repressionen intensiviert, indem Gesetze verabschiedet wurden, mit denen hart gegen Gegner des russischen Krieges in der Ukraine und des zunehmend kriminellen Regimes von Wladimir Putin vorgegangen wird. Dieser Kommentar führt aus, dass die Verfolgung gemäß dem Paragraphen „Rehabilitierung des Nazismus“ (§ 354.1 des russischen Strafgesetzbuches, der 2014 eingeführt wurde) in Russland ein Mittel zur politischen Repression darstellt. Der Paragraph wird zunehmend eingesetzt, um Regimegegner zu verfolgen, wobei fälschlicherweise ein legitimes gesellschaftliches Anliegen als Vorwand für die Verfolgung dient. Dieser Fall ist ein weiteres Beispiel einer Verknüpfung von erinnerungspolitischen Gesetzen mit dem strafrechtlichen Vorgehen gegen regierungskritischen Protest.

Der Kontext der erinnerungspolitischen Gesetze in Russland

Russlands Gesetzgebung zur „Stärkung der Erinnerung“ besteht aus verwaltungs- und strafrechtlichen Bestimmungen. Im Jahr 2014, nach der Annexion der Krim durch Russland, wurde der Paragraph 354.1 in das Strafgesetzbuch aufgenommen, der die „Rehabilitierung des Nazismus“ unter Strafe stellt. Er zielt zweigleisig auf Tatbestände ab:

  1. Auf die Leugnung von Sachverhalten, die durch ein Urteil des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg festgestellt wurden, auf das Gutheißen von Verbrechen, die durch ein solches Urteil festgestellt wurden, auf die Verbreitung von wissentlich falschen Informationen über das Vorgehen der UdSSR während des Zweiten Weltkriegs; sowie

  2. auf die Verbreitung despektierlicher Äußerungen über militärische Ruhmesdaten, auf die Schändung von Symbolen militärischen Ruhmes wie auch auf die Beleidigung von Kriegsveteranen.

Im Kontext von Russlands Erinnerungspolitik sollte diese Gesetzesänderung das offizielle russische Geschichtsnarrativ bekräftigen, das eine sowjetische Beteiligung am Ausbruch des Krieges 1939 und den verbrecherischen Charakter von Stalins Regime leugnet. Eine Analyse der Inhalte der Strafverfahren, die 2023 eingeleitet wurden, zeigt, dass Paragraph 354.1 meist nicht dazu eingesetzt wird, um Geschichtsnarrative von Neonazis zu verfolgen (was man vermuten könnte, wenn man vom Beispiel der in Europa verbotenen Holocaust-Leugnung ausgeht). Vielmehr soll das derzeitige Geschichtsnarrativ des russischen Staates bekräftigt werden. Wer aufgrund des Paragraphen 354.1 strafrechtlich verfolgt wird, sieht sich mitunter zusätzlich Beschuldigungen wegen einer Diskreditierung der russischen Streitkräfte (§ 280 Strafgesetzbuch) und/oder der Verbreitung von Falschinformationen über die Armee (§ 270.3) gegenüber.

Der russische Staat ist dem Problem, dass die Antikriegs-Proteste in Russland von einem anderen Geschichtsnarrativ durchzogen sind, mit einem weiteren „Erinnerungsgesetz“ entgegengetreten, das die Regierung 2022 verabschiedete. Im April 2022 erließ das russische Parlament ein Verbot für öffentliche Handlungen, die das Vorgehen der Sowjetunion und Nazi-Deutschlands während des Zweiten Weltkrieges vergleichen (also für eine Gleichsetzung von „Zielen, Entscheidungen und Handlungen“ der politischen und militärischen Führungen sowie von Militärangehörigen der beiden Länder). Die Bestimmung stellt auch eine Leugnung „der entscheidenden Rolle des sowjetischen Volkes beim Sieg über Nazi-Deutschland sowie der humanitären Mission des UdSSR bei der Befreiung der Länder Europas“ unter Strafe (§ 13.48 des russischen Gesetzbuches über Ordnungswidrigkeiten). Das Verbot bezieht sich auf Äußerungen in der Öffentlichkeit oder in den Medien, wie auch auf Posts in sozialen Medien. Parallel zum oben genannten Gesetz wurde im März ein Großteil der Gesetzesbestimmungen über „Diskreditierung“ und „Falschinformationen“ erlassen, ausgeweitet oder geändert (§§ 207.3, 280.3, 284.2 des Strafgesetzbuches sowie §§ 20.3.3 und 203.4 bei den Ordnungswidrigkeiten), die – unter anderem – Proteste eindämmen sollen. Das verweist auf eine „Verknüpfung“ der genannten Gesetze. Zudem ist zu berücksichtigen, dass in Russland neue erinnerungspolitische Gesetze stets dann erlassen wurden, wenn es zuvor eine größere Spirale aus verstärkter Kontrolle über die Gesellschaft und Repressionen gegeben hatte. Die Verabschiedung des Gesetzes gegen eine „Rehabilitierung des Nazismus“ war seinerzeit, 2014, auf die Annexion der Krim und der daraufhin öffentlich geäußerten Ablehnung in Teilen der Bevölkerung gefolgt. Angaben von OWD-Info zufolge hat es mit Stand vom Juli dieses Jahres in 78 Regionen Russlands (einschließlich Sewastopols und der Krim) gegen 620 Personen Verfahren aufgrund eines oder mehrerer der genannten Paragraphen gegeben.

Rehabilitierung des Nazismus: Juristische Strategien der Staatsanwaltschaften

Es gibt mindestens vier Strafverfahren, die belegen, dass Paragraph 354.1 eingesetzt wird, um Personen wegen ihrer kriegskritischen Haltung zu verfolgen. In diesen Fällen wird der Paragraph genutzt, um die Anschuldigungen gegen diese Personen „aufzustocken“ (um eine härtere Strafe zu ermöglichen) oder um schlichtweg jede Haltung gegen den Krieg zu ächten. 2023 gab es 27 Strafverfahren mit Beschuldigungen aufgrund Paragraph 354.1. Allein im Zeitraum von Mai bis Juni sind 14 neue Strafverfahren bekannt geworden. Hinsichtlich dieser Verfahren ist nicht bei allen zu belegen, dass die betreffende Person wegen einer kriegskritischen Haltung verfolgt wurde. Bei Strafverfahren aufgrund einer Schändung von Kriegsdenkmälern (also aufgrund von Abs. 3 § 354.1) geht es eigentlich um „Vandalismus“ (Sachbeschädigung) oder mildere Formen von „Hooliganismus“ (Landfriedensbruch). Mit anderen Worten: Die Einordnung dieser Fälle erfordert eine sorgsame Einordnung des Kontextes.

Ende Mai wurde ein Strafverfahren aufgrund Absatz 2 des Paragraphs 354.1 gegen einen Bewohner des Gebietes Orenburg eröffnet, weil dieser angeblich Falschinformationen über das Vorgehen der UdSSR während des Zweiten Weltkrieges verbreitet hatte. Der Beschuldigte hatte auf seinem Profil in den sozialen Medien behauptet, dass die Sowjetunion zusammen mit Nazi-Deutschland mit verantwortlich für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war, weil sie bei der Teilung Polens im September 1939 mitmachte (an anderer Stelle wurden im Sommer 2022 Behauptungen über eine Beteiligung der Sowjetunion bei der Teilung Polens von einem russischen Gericht verboten, wobei das Gesetz vom April 2022 eingesetzt wurde). Ebenso wurde ein Bewohner der Region Krasnodar beschuldigt, Falschinformationen über die russischen Streitkräfte verbreitet und den Nazismus gutgeheißen zu haben. Es wird behauptet, der Beschuldigte habe Posts in sozialen Medien verfasst, die besagten, dass „Stalin genauso ein Aggressor war wie Hitler“, und dass die russischen Streitkräfte in der Ukraine Zivilisten umbringen und Städte zerstören (unter Verweis auf die Bombardierung des Theaters in Mariupol im April 2022).

2022 wurde Oleg Orlow, einer der Anführer der Organisation „Memorial“, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, mit einer Geldstrafe belegt, weil er auf dem Roten Platz in Moskau mit einem Plakat demonstrierte, auf dem zu lesen war: „Die UdSSR 1945: ein Land, das den Faschismus besiegte; Russland 2022: ein Land, in dem der Faschismus gesiegt hat.“ Orlow wurde mit einer Geldstrafe belegt, weil er die Streitkräfte diskreditiert habe, indem er diese historische Parallele zog (später, im März 2023, folgte zusätzlich ein Strafverfahren). Die Organisation „Memorial“, die durch ihre jahrzehntelange Dokumentierung von Menschenrechtsverletzungen für ihre Antikriegs-Haltung bekannt ist, war unter Druck geraten. 2021 wurde sie durch einen russischen Gerichtsbeschluss als juristische Person aufgelöst. Seither läuft ein Strafverfahren gegen die Organisation. Den russischen Behörden zufolge habe „Memorial“ in seinem Register der Opfer der politischen Repressionen die Namen von drei Personen veröffentlicht, die möglicherweise während des Zweiten Weltkrieges mit den Nazis zusammengearbeitet haben (und dabei in der Sowjetunion in den 1930er Jahren oder nach dem Krieg auch Opfer von Repressionen wurden). Die Behörden setzten legalistisch den Paragraphen 354.1 ein: Allein der Umstand, dass im Register Informationen über Opfer der Repressionen veröffentlicht wurden, die vielleicht auf unterer Ebene Nazi-Kollaborateure waren, reichte für die Einleitung eines Strafverfahrens (obwohl „Memorial“ in einer Erklärung unterstrich, dass keinerlei Rehabilitierung beabsichtigt war, sondern lediglich ein Register von Opfern politischer Repressionen geführt werden sollte).

Im Juni 2023 wurden Ermittlungen gegen Michail Beloussow gestartet, einen Historiker in St. Petersburg. Den Ermittlungen zufolge habe Beloussow bei einem Treffen mit Student*innen Sachverhalte geleugnet, die vom Internationalen Militärtribunal in Nürnberg festgestellt wurden. Über den Inhalt des Verfahrens und die tatsächlichen Äußerungen Beloussows ist bislang nur wenig bekannt. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die „Leugnung von Sachverhalten, die das Internationale Militärtribunal in Nürnberg festgestellt hat“, nichts anderes als ein Euphemismus für Äußerungen über die Rolle der Sowjetunion unter Stalin beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Beloussow, der für seine Haltung gegen den Krieg bekannt ist, war zudem wenige Wochen vor Beginn des Ermittlungsverfahrens sein Dozentenposten an der Universität St. Petersburg entzogen worden. Das deutet darauf hin, dass Beloussow durch das Strafverfahren kaltgestellt werden soll.

In der Menschenrechts-Community und bei westlichen Diplomaten, die die Situation in Russland verfolgen, sollte wahrgenommen werden, dass die Verfolgung für eine „Rehabilitierung des Nazismus“ eng mit dem Bestreben des Putin-Regimes verbunden ist, Proteste gegen den Krieg zu bestrafen und das Land noch stärker in den Griff zu nehmen. In dieser Hinsicht stellt § 354.1 eine ideologische Säule des kriegslüsternen Regimes in Russland dar. Oberflächlich mag es erscheinen, als diene die strafrechtliche Verfolgung einer „Rehabilitierung des Nazismus“ einem legitimen Zweck, nämlich in einem Land, das wie andere Nationen der ehemaligen Sowjetunion ganz erheblich im Zweiten Weltkrieg gelitten hat. Die Praxis zeigt jedoch, dass die aktuelle Anwendung dieses Gesetzes zunehmend darauf verweist, dass es auf die Bekämpfung von abweichenden Meinungen ausgerichtet ist. Die hier aufgeführten Fälle lassen keinen anderen Schluss zu.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist promovierter „Memocracy“-Forscher am T.M.C. Asser Institute der Universität Amsterdam. Seinen Doktortitel in Politikwissenschaft erhielt er an der Universität Tartu (Estland).

ist Menschenrechtlerin und im Monitoring Team von OWD-Info tätig. Sie hat die Central European University (Ungarn/Österreich) mit einer Masterarbeit zum Thema Öffentliche Ordnung absolviert.