Mit dem Zerfall der Habsburger Monarchie und des Osmanischen Reichs wurden neue Grenzen gezogen. Die Vorstellung von homogenen Nationalstaaten traf auf eine vieldeutige gesellschaftliche Wirklichkeit.
Nachdem zwischen West und Ost die Mauer gefallen war, entstanden in den 1990er Jahren in Südosteuropa immer neue Grenzen: Der Vielvölkerstaat Jugoslawien zerfiel in seine Teilrepubliken. Es wurden Kriege um ethnisch homogene Territorien geführt. Neue Grenzverläufe wurden im Großen und Ganzen von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt – die bisherigen Republiken sollten allein in ihren bis dahin geltenden Grenzen anerkannt werden.
Südosteuropa ist auch von neuen transnationalen Grenzen geprägt: EU-Außengrenzen. Während ein Teil mit Slowenien, Kroatien, Rumänien, Bulgarien und Griechenland Mitglied der EU ist, verharren Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien außerhalb der EU, an den zunehmend strenger überwachten Außengrenzen.
Osmanisches Reich und Habsburger Monarchie: Imperiale Grenzräume und bewegliche Grenzen
Oftmals wurde Südosteuropa als "Imperial Borderlands" bezeichnet. Hier befanden sich über Jahrhunderte die Grenzprovinzen zwischen dem Osmanischen Reich und der Habsburger Monarchie. Gerne wurde diese Grenze als substantielle Trennlinie zwischen "Islam und Christentum", gar als "christlicher Schutzwall" (Antemurale Christianitatis) aufgeladen, der ein halbes Jahrtausend zwei grundlegend verschiedene Zivilisationen voneinander getrennt habe. Eine solche Grenze hätte demnach besonders hermetisch und undurchdringlich sein müssen.
Das Grenze zwischen dem Habsburger Monarchie und Osmanischen Reich umfasste große geographische Gebiete, in denen besondere Privilegien galten – auf österreichischer Seite die sogenannte Militärgrenze (rot umrandete Grenzgebiete im heutigen Kroatien und Serbien im 19. Jahrhundert). (Public Domain, Scan plp, gemeinfrei, via Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de
Allerdings zeichnen zwei Charakteristika diese vormodernen Grenzen aus: erstens deren "Beweglichkeit", und zweitens deren zonaler Charakter, das heißt das Grenzgebiet konnte große geographische Räume umfassen.
"Beweglichkeit" bezieht sich insbesondere auf die lange Zeit Interner Link: expansive Eroberungspolitik des Osmanischen Reiches: Vom 15. bis zum 16. Jahrhundert veränderte sich der Verlauf der Grenzzone immer wieder vor allem in Richtung Nordwesten, in das Gebiet des heutigen Ungarns und Österreichs. Mit der Zweiten Belagerung Wiens im Jahr 1683 Interner Link: setzte ein gegenläufiger Prozess ein. Bis ins 19. Jahrhundert verlagerte sich die Grenze zwischen Habsburgern und Osmanen in Richtung Südosten.
Dabei bewegte sich nicht nur eine Linie. Auf beiden Seiten wurden große Gebiete mit einem besonderen Rechtstatus versehen. Im österreichischen Kontext handelte es sich dabei um die so genannte "Militärgrenze", im osmanischen wurden solche Grenzprovinzen als "Serhat" bezeichnet. Der Status eines Gebietes als Serhat brachte bestimmte Steuerprivilegien mit sich, war jedoch durch die Expansion befristet. Einzig in Bosnien-Herzegowina, das nach dem 17. Jahrhundert lange Grenzland blieb, entwickelte sich aufgrund des anhaltenden Status als Serhat in der muslimischen südslawisch sprechenden Oberschicht ein Selbstverständnis von einer herausgehobenen Stellung ihrer Provinz im gesamten Osmanischen Reich. Auf der habsburgischen Seite entwickelte sich ebenso entlang der Grenze zum Osmanischen Reich ein spezifischer Raum, in dem besondere Privilegien galten. Die dort ansässige Landbevölkerung erhielt einen besonderen Status als "Freier Bauer und Soldat".
Die Verhältnisse an dieser imperialen Grenze blieben in Bewegung. So kam es oftmals dazu, dass etwa südslawische Grenzwächter auf der osmanischen Seite mit ihren Dörfern auf die österreichische Seite wechselten, wenn dort die Verhältnisse besser waren – immerhin waren die Menschen an dieser Grenze recht gut über die Situation auf der jeweils anderen Seite informiert und sprachen zudem die gleiche südslawische Sprache.
Auch umgekehrt: Wenn die Besoldung auf der osmanischen Seite attraktiver erschien, wechselten ganze Mannschaften und deren Familien wieder zurück. Da in den ohnehin dünn besiedelten Gebieten für die Herrschaft Bevölkerung eine wichtige Ressource darstellte, versuchten Habsburger wie Osmanen jeweils die Grenzbevölkerung buchstäblich auf ihre Seite zu ziehen.
Berlin 1878 – Paris 1919 – Paris 1946: Von Grenzräumen zu Grenzlinien
Die Grenzziehungen zwischen den neuen Nationalstaaten waren keine Erfindung der neuen politischen Eliten der Balkanländer, sondern beruhten auf Vorstellungen und Praktiken von Staat und Territorium, die man aus den Staaten Mittel- und Westeuropas übernommen hatte. Zudem standen Grenzziehungen immer in Zusammenhang mit internationalen Machtkonstellationen, also der Präsenz und den politischen Interessen der Großmächte in und an Südosteuropa.
Karte Südosteuropa nach dem Berliner Kongress 1878 (Public Domain, J.G. Bartholomew, Decius, gemeinfrei, via Wikimedia Commons)
Formal lässt sich dies entlang der großen Konferenzen nachvollziehen, die neue territoriale Ordnungen für Südosteuropa festschrieben, indem sie die Souveränität neuer Staaten und ihrer Grenzen anerkannten: Nach dem Russisch-Osmanischen Krieg (1877-1878) der Berliner Kongress 1878, der zur Anerkennung der Souveränität Serbiens und Montenegros führte, der Bestätigung der Souveränität Rumäniens, sowie zur Gründung des teilautonomen Fürstentums Bulgarien, das 1908 die volle Unabhängigkeit erlangte.
Die Interner Link: Pariser Friedenskonferenz 1919 in Folge des Ersten Weltkrieges bedeutete das endgültige Ende zweier Imperien: Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich hatten bis dahin für lange Zeit die territoriale Ordnung und damit die Formen von Grenzen in Südosteuropa geprägt. Dennoch kam es nicht zu einer endgültigen Durchsetzung des nationalstaatlichen Prinzips, da vor allem mit dem Königreich Jugoslawien, aber auch Rumänien weiterhin Staaten deutlich multi-konfessionell und -national geprägt waren. Auch in Südosteuropa betrachteten viele politische Akteure die in Paris gezogenen Grenzen als Provisorium, besonders in Ungarn und Bulgarien. So intensivierte in der Zwischenkriegszeit der Diskurs "ungerechter", "künstlicher", von den Großmächten "aufgezwungener" Grenzen, der bis in die Gegenwart präsent bleiben sollte.
Karte Südosteuropa nach den Balkankriegen 1912/1913 (Public Domain, Jackanapes, gemeinfrei, via Wikimedia Commons)
Die Friedenskonferenz von Paris 1946 symbolisierte vor allem die Anerkennung und Festschreibung der Spaltung Europas in zwei Blöcke und neuartiger Grenzregime in Südosteuropa. Der Interner Link: Eiserne Vorhang verlief mitten durch die Region: Griechenland und die Türkei wurden Mitglieder der NATO, Bulgarien und Rumänien Teil des Warschauer Paktes, Jugoslawien wandte sich 1948 von der Sowjetunion ab. Seit den 1950er öffnete sich Jugoslawien dem Westen, womit auch die Grenze zu den westlichen Nachbarstaaten Italien und Österreich schrittweise durchlässiger wurden. Jugoslawische Staatsbürger konnten ab den späten 1960er Jahren visafrei nach West und nach Ost reisen. Albanien wiederum verbündete sich mit China – nach Konflikten mit der Sowjetunion. Dessen Grenzen zu Griechenland und Jugoslawien waren hermetisch abgeriegelt. 1989 bedeutete auch in diesem Teil Europas das Verschwinden des Stacheldrahtes.
Wie wurden die Grenzen festgelegt?
Abgrenzung auf der Grundlage der Zuordnung zu einer ethnischen oder nationalen Gemeinschaft ist ein sehr modernes Phänomen, das bisherige Zuordnungen konfessioneller und sozialer Art an den Rand drängte. In Südosteuropa vollzog sich dieser Prozess, bis er weite Teile der Gesellschaft erfassen sollte, in einer sehr komprimierten und damit oftmals gewaltvollen Form besonders seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Aus der Perspektive national homogener Staaten, die zugleich das Endprodukt dieser Entwicklung waren, wurde die Vielfalt von Zuordnungen auf dem Balkan dann als Anomalie betrachtet, die nur durch eindeutige Abgrenzung korrigiert werden konnte.
Mit dem Berliner Kongress von 1878 begann die Aufteilung des europäischen Teils des Osmanischen Reiches in neue Nationalstaaten. Während die Imperien – Habsburgermonarchie und Osmanisches Reich – für eine zu überwindende Vergangenheit standen, wurde mit dem modernen Nationalstaat Fortschritt und Prosperität in der Zukunft verbunden.
"Vereinigung" implizierte die Schaffung einer neuen nationalen Gemeinschaft, zusammenhaltend nach innen, abgrenzend nach außen. Die Verwaltungs- und politische Elite der neuen Staaten auf dem Balkan hatte zumeist in den Metropolen West- und Mitteleuropas (Paris, Berlin, Wien) studiert und sich dabei die Konzepte von Nationalstaatlichkeit angeeignet, die sie nun in ihren gesellschaftlichen Kontext zu übertragen suchte. Doch zumeist handelte es sich bei solcher "Vereinigung" nicht um einen Prozess, in dem aus den verschiedenen Provinzen die Befürworter der neuen nationalen Gemeinschaft in einem neuen Staat zusammenstrebten. Es war territoriale Expansion im Krieg, an dem die "befreiten Brüder und Schwestern" am allerwenigsten partizipierten.
Gerade die Interner Link: Balkankriege 1912/1913 zeigten die ganze Härte gegenüber jenen Menschen, die vermeintlich aus konfessionellen oder sprachlichen Gründen nicht in die neue Gemeinschaft "hineinpassten" und vertrieben wurden. Da die Regierungen in Athen, Belgrad und Sofia unterschiedliche Kriterien hatten, wer "passte", wurde nahezu die gesamte Bevölkerung des bisherigen osmanischen Makedonien potentielles Ziel von Gewalt und Vertreibung: slawischsprachige Menschen wurden von griechischem Militär vertrieben, griechischsprachige Menschen von bulgarischem Militär, Muslime schließlich von allen vier kriegführenden Staaten (Serbien, Montenegro, Bulgarien und Griechenland). Andere wurden auch in die neuen Gemeinschaften hineingezwungen, ohne sich dazugehörig zu fühlen. Die Definitionsmacht, wer wohin gehörte, lag schließlich bei den neuen Staatsmächten. Zugehörigkeit wurde zumeist im Sinne der Vorstellung einer biologistisch begründeten Abstammungsgemeinschaft definiert, ganz unabhängig von dem Willen der betroffenen Menschen.
Staats- und Nationenbildung in Südosteuropa
Vereinfacht kann von zwei Modellen politischer Gemeinschaft gesprochen werden, die übernommen wurden: Im Hinblick auf die territoriale Organisation wurde der französischem Zentralstaat zum Vorbild genommen. Das Verständnis von Nation orientierte sich hingen stärker an jenem der homogenen Kulturnation, wie sie im deutschsprachigen Raum verbreitet war: Das "Volk" wurde als Ethnos (Abstammungsgemeinschaft) begriffen, und nicht als Demos (politische Gemeinschaft).
Diese Kombination der Zielvorstellung eines straff organisierten Zentralstaats und der Vorstellung von Nation als einer homogenen, ethnisch begründeten Abstammungsgemeinschaft traf auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die von Vieldeutigkeit geprägt war – zum Beispiel im Hinblick auf Kulturen und konfessionelle Zuordnungen. Nationale Zuordnung entstand erst ganz allmählich. Aus der Perspektive der neuen Staatseliten galt es Ordnung in diesen Wirrwarr von flüchtigen Zuordnungen zu bringen. Der neue Staat sollte über eindeutige, klare Grenzlinien und ein national homogenes Volk verfügen, wie es den Vorstellungen von europäischer Moderne entsprach.
Es war die Aufgabe der modernen Wissenschaft, entlang von "rationalen" Kriterien wie Sprache, Konfession und Geschichte die Existenz homogener ethnischer Gemeinschaften unzweifelhaft zu "belegen". Dieses Muster etablierte sich nach 1878, definitiv mit den Balkankriegen und prägte die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch für die Umsetzung dieser Vorstellung von ethnischer Homogenität bedurfte es militärischer Gewalt. In der Publizistik dieser Zeit war diese Vorstellung von einem Zusammenhang zwischen Friedenssicherung und Bevölkerungsverschiebung weit verbreitet. Der Schweizer Ethnologe Georges Montandon trat etwa 1915 für eine "massive Transplantation" von Minderheiten ein, als Garantie eines dauerhaften Friedens.
Dieses Konzept gipfelte im Januar 1923 im Vertrag von Lausanne, in dem das Abkommen zum griechisch-türkischen "Bevölkerungsaustausch" unterzeichnet wurde. Als Kriterium, wer nun Grieche und wer Türke werden sollte (und davon abhängig jeweils seine bisherige Heimat zu verlassen hatte), wurde religiöse Zugehörigkeit festgelegt. So wurden auch turksprachige Orthodoxe als "Griechen" betrachtet, und umgekehrt griechischsprachige Muslime als "Türken". So landeten nach den Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen aus Anatolien in Griechenland, und ca. 400.000 Menschen wiederum hatten die Türkei als ihre neue Heimat zu betrachten.
Vor dem Zweiten Weltkrieg konnten die Staaten Südosteuropas nur geringe materielle Ressourcen für die Grenzsicherung aufbringen. Die Menschen in den Grenzgebieten hielten eigensinnig an ihren bisherigen Alltagspraktiken fest und überschritten, ignorierten oder modifizierten dieses neue Hindernis mehr oder weniger folgenlos.
Karte Europa im Kalten Krieg (CC, San Jose, via Wikimedia Commons)
Nach 1945 erlangten Grenzen eine neue Qualität als Barriere. Doch dies geschah unter vollständig veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Auch die bisherigen Herrschaftsformen sowie deren Akteure mussten einer neuen Ordnung Platz machen. In Südosteuropa führte die globale Dimension des "Systemgegensatzes" seit Ende der 1940er Jahre auf relativ kleinem Raum zu einer Dichte von Grenzen, die zu unüberwindbaren Hindernissen ausgebaut wurden. Das zeigte sich insbesondere an den Grenzen Bulgariens zur Türkei und Griechenland: Viele Staatsbürgerinnen und Staatsbürger der DDR, die einen Urlaub in Bulgarien nutzten, um in den Westen zu fliehen, strebten eine Flucht über Griechenland an. Interner Link: Die große Mehrzahl war erfolglos, einige kamen bei dem Versuch ums Leben.
Grenzen und die Kriege der 1990er Jahre in Jugoslawien
Während 1989 der Eiserne Vorhang verschwand, der Europa in Ost und West trennte, schienen in Jugoslawien neue Grenzen zu entstehen – im Zuge des Staatszerfalls und der Kriege zwischen 1991 und 1995, sowie 1999. Oftmals werden die Kriege der 1990er Jahre in Jugoslawien vereinfacht als Ausbruch ethnischen Hasses zwischen den Völkern Jugoslawiens gedeutet. Die Forschung zu den Kriegen in Jugoslawien hat indessen gezeigt, dass es die ureigenste Funktion dieser Gewalt war, überhaupt erst klar abgrenzbare ethnisch fundierte Täter- und Opferkollektive zu schaffen. Ethnische Abgrenzung ging hervor aus einer gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Krisensituation Ende der 1980er Jahre als dominante Strömung und einem neuen ethnonationalistisch – oder völkisch – ausgerichteten Populismus.
In einer vergleichbaren Umbruchssituation befanden sich nahezu alle realsozialistischen Staaten. Diese Aushandlung zwischen den schon zuvor erwähnten Prinzipien Ethnos und Demos, die den Transformationsprozess in Ostmittelmitteuropa prägte, geriet im jugoslawischen Kontext zunächst in der Teilrepublik Serbien aus der Balance. Während bis Mitte der 1980er beide Strömungen gleich stark gewesen waren, schlug mit der populistischen Demobilisierung der Öffentlichkeit – die vor allem den Zweck hatte, undemokratische Herrschaftsformen zu verlängern – das Pendel um zugunsten des Ethnos als gesellschaftlichem Ordnungsprinzip. Dieser Prozess spielte sich in unterschiedlichen Formen und zeitversetzt auch in Kroatien und Bosnien-Herzegowina ab.
Erst mit der Dominanz von Ethnos wurde die Frage nach Grenzen zwischen den Republiken dann auch ganz anders gestellt. Denn aus der Perspektive von Ethnos als Grundlage gesellschaftlicher Ordnung konnten allein die Grenzen des "serbischen", des "kroatischen" etc. Volkes natürlich, wahrhaftig und gerecht sein. Die bestehenden Republiksgrenzen waren in dieser völkischen Optik bloße "administrative Grenzen", sie wurden als "künstlich" diffamiert – obwohl jede Staatsgrenze letztlich "künstlich" ist und zumeist aus einer komplexen Interaktion von Machtpolitiken und im besten Fall zwischenstaatlichen Vereinbarungen hervorgeht.
Wie diese ethnonational begründeten Grenzen nun bestimmt werden sollten, war letztlich willkürlich. Dabei griffen die Protagonisten ethnischer Grenzen auf Konzepte zurück, wie sie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts europaweit in Mode waren. Sie argumentierten mal historisch, mal ethno-demographisch. So hieß es in Bezug auf das Kosovo, dass hier die Wiege serbischer Staatlichkeit liege. In Bosnien und Kroatien wurde dagegen mit einer serbischen Bevölkerungsmehrheit in den beanspruchten Gebieten argumentiert. Kroatische Nationalisten wiederum führten einerseits die "tausendjährige Geschichte" des kroatischen Staates und andererseits in den in Bosnien beanspruchten Gebieten eine kroatische Bevölkerungsmehrheit an. Diese Legitimationen gaben sich den Anschein, sie seien Ergebnisse "streng wissenschaftlicher" Untersuchungen.
Der Widerspruch zwischen diesen Phantasien von Eindeutigkeit und einer vieldeutigen gesellschaftlichen Realität konnte nur mittels Gewalt aufgelöst werden. Daher konnte erst militärische Gewalt diese neuen Trennlinien schaffen. Der Einsatz von Gewalt zeigte zudem an, wie groß die Beharrungskraft eines Alltags war, in dem für die meisten Menschen solche imaginierten ethnischen Grenzen belanglos waren. Die gewaltvolle Zerstörung dieser bisherigen sozialen Realität, wie sie in den Kriegen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina zum Vorschein kam, war die Voraussetzung dafür, dass solche ethnischen Grenzen verwirklicht werden konnten. So genannte ethnische Säuberungen und die Verbrechen an der Zivilbevölkerung waren inhärente Momente dieser Grenzziehungen.
Dass die Tragik der 1990er Jahre in Jugoslawien bis heute nicht verarbeitet ist, zeigt sich im Hinblick auf das Kosovo. Dort ist von "Bevölkerungsaustausch" und damit der Anpassung von Grenzen an ethnisch homogene Räume als weiterhin realer Option die Rede.
Dabei scheint die Perspektive auf ein vereintes Europa zunehmend in Frage zu stehen. Der "Warteraum" Westbalkan – wie es der Ethnologe Stef Jansen genannt hat – war einmal gedacht als provisorische Bezeichnung für jene Staaten in der Region, die noch nicht Mitglied der EU sind. Mit der schwindenden Aussicht einer Beitrittsperspektive scheint er zu einem Dauerzustand zu werden. So gewinnen hier wie dort Grenzen wieder an Attraktivität als einem Symbol der Sicherheit. Dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer.
Dr. Nenad Stefanov ist wissenschaftlicher Koordinator des Interdisziplinären Zentrums für Grenzforschung Externer Link: "Crossing Borders" an der Humboldt Universität zu Berlin.
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