Deutschland hat in der Europäischen Union eine besondere Position. Schon geographisch befindet es sich in einer zentralen Lage. Darüber hinaus hat es die meisten Einwohnerinnen und Einwohner. Es hat daher die meisten Abgeordneten im Europäischen Parlament und stellt auch in den Fraktionen häufig die größte Gruppe. Bei der doppelten Mehrheit im Rat kann es seine große Bevölkerungszahl in die Waagschale werfen. Und natürlich ist es auch trotz mancher Probleme eine dominante Wirtschaftsmacht. Ein solches Land steht selbstverständlich im Fokus der Aufmerksamkeit.
Als Leitbild für die deutsche Europapolitik lässt sich der Begriff der Selbstbindung heranziehen, d. h. die freiwillige dauerhafte Aufgabe nationaler Kompetenzen zugunsten europäischer Lösungen wurde von Deutschland als erstrebenswert empfunden. Die Rückkehr und Integration Westdeutschlands in die westliche Staatengemeinschaft war schon ab 1949 während der Kanzlerschaft von Interner Link: Konrad Adenauer oberste Priorität. Es galt, nach der entfesselten Gewalt des Zweiten Weltkriegs das moralisch völlig diskreditierte Land wieder an den europäischen Tisch zu bringen. Dieser Kurs hat sich seitdem kaum verändert. Die Wiedervereinigung 1990 erfolgte vor dem Hintergrund, dass Deutschland weiterhin in die Interner Link: europäische Integration eingebunden wird. Die neue Souveränität des wiedervereinigten Deutschlands stieß in Europa auf große Vorbehalte. Das galt vor allem in Ländern, die Leidtragende des Zweiten Weltkriegs waren. Die Zurückhaltung und vorsichtige Politik Deutschlands hat dem Land viel Vertrauen eingebracht. So änderte sich die Tonlage der Partner gegenüber Deutschland von Befürchtungen hin zur Forderung, das Land möge mehr Verantwortung und eine seiner Größe entsprechende Stellung einnehmen. Doch noch immer fürchtet es sich, als ein Land wahrgenommen zu werden, das nach einer Vorherrschaft in Europa strebt.
Außenpolitisches Engagement und sicherheitspolitische Zurückhaltung
Außenpolitisch ist Deutschland insbesondere Richtung Osteuropa aktiv. So war Deutschland zusammen mit Frankreich an der Aushandlung des Interner Link: Minsker Abkommens beteiligt, dem Versuch zur Beilegung des Konflikts in der Ost-Ukraine. Innerhalb der EU setzte es sich seit der Interner Link: Annexion der Krim durch Russland für Sanktionen ein, die seit der Ausweitung der russischen Angriffe auf die Ukraine im Februar 2022 mehrfach, auch auf Druck Deutschlands, verschärft worden sind. Aus der Geschichte des Landes lässt sich erklären, warum Deutschland militärische Auseinandersetzungen dagegen eher scheut. Deutschland versteht sich als Zivilmacht, die ihre Interessen, aber auch die gesamteuropäischen Interessen möglichst mit diplomatischen oder wirtschaftlichen Mitteln durchsetzen möchte. Militärische Eingriffe gelten eher als „ultima ratio“, das letzte Mittel in Konflikten, die sich anders nicht mehr beilegen lassen. Es beteiligt sich an zahlreichen Militäreinsätzen der Europäischen Union in Südosteuropa und in Afrika. Deutschland ist bereit, auch im militärischen Bereich eng mit den Partnern zu kooperieren, zumal es über vergleichsweise große militärische Kapazitäten verfügt. Die Stärkung gemeinsamer militärischer Fähigkeiten und die bessere Zusammenarbeit bevorzugt die Bundesregierung aber gegenüber einer europäischen Armee.
Wirtschaftspolitik und finanzpolitische Positionierung
Die Interessen Deutschlands werden insbesondere im wirtschaftlichen Bereich deutlich. Die Bundesregierung zögerte bei der Einführung des Interner Link: Euro. Die allgemeine Ansicht war, dass zunächst eine größere Annäherung der wirtschaftlichen Rahmendaten der Mitgliedstaaten hergestellt werden sollte, auf der die Gemeinschaftswährung aufbauen sollte. Als sich abzeichnete, dass Deutschland diese Position nicht durchsetzen konnte, bestand es auf Maßnahmen zur Sicherung des Euros. Dazu gehören die Unabhängigkeit der Interner Link: Europäischen Zentralbank ebenso wie zahlreiche Versuche, durch Stabilitätspakte das finanzpolitische Handeln der Mitgliedstaaten zu regulieren. Es setzte sich für möglichst niedrige Staatschulden und eine strikte Haushaltsdisziplin ein. Gemeinsame Kreditaufnahme und Haftung wurden abgelehnt. Zudem sprach sich Deutschland wiederholt für eine Begrenzung des EU-Haushalts aus und versuchte, dessen Finanzierung breiter zu verteilen. Bis heute bleibt Deutschland jedoch der wichtigste Nettozahler der Union.
In der Wirtschaftspolitik vertritt Deutschland durchaus eigene Interessen. In der Außenhandelspolitik setzt es sich für Freihandelsabkommen und möglichst niedrige Zölle ein, denn es profitiert Interner Link: als eines der größten Exportländer von der Globalisierung und erwirtschaftet (meistens) hohe Handelsbilanzüberschüsse. Insbesondere die Förderung und der Schutz der deutschen Autoindustrie liegt der Bundesregierung am Herzen. Forderungen nach mehr Umweltfreundlichkeit und neuen Formen der Mobilität werden daher immer auch mit den Wirtschaftsvertretern abgestimmt. Zudem setzt es sich gegen Dumping-Wettbewerb ein, bei dem sich einzelnen Staaten Vorteile auf Kosten von Sozialstandards im Arbeits-, Gesundheits- und Verbraucherschutz verschaffen.
Beim Bau der Nord-Stream-Pipelines zur Interner Link: Verbindung des russischen und deutschen Gasmarkts setzte sich Deutschland über Bedenken der europäischen Staaten, insbesondere der Ostsee-Anrainer, hinweg. Diese hatten eine größere Abhängigkeit Europas von russischer Energie erwartet und sich um die Sicherheit ihrer Länder gefürchtet. Auch die europäischen Institutionen, Kommission, Rat und Parlament, lehnten das Projekt ab und versuchten den Bau durch rechtliche Maßnahmen zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. Dennoch setzte sich Deutschland durch, wenngleich die Pipelines nach dem russischen Überfall auf die Ukraine außer Betreib genommen und durch einen Anschlag weitgehend zerstört wurden.
Der Einfluss des Föderalismus auf die deutsche EU-Politik
Eine deutsche Besonderheit macht die europäischen Partner oft ratlos: der Interner Link: Föderalismus. Oftmals sitzt auf Seiten Deutschlands nicht nur die Bundesregierung am Verhandlungstisch, sondern auch die 16 Bundesländer. In einem komplizierten Verfahren muss sich die Bundesregierung in vielen Fällen mit den Bundesländern bzw. dem Interner Link: Bundesrat abstimmen. Die deutsche Position ist daher nicht immer einheitlich. Zudem müssen die Bundesländer die EU-Rechtsakte umsetzen. Deutschland ist mehrfach vom Europäischen Gerichtshof verklagt worden, weil es Richtlinien und Verordnungen nicht rechtzeitig umgesetzt hat, da einige Bundesländer vorsätzlich oder unaufmerksam die Umsetzung verzögert haben. Diese Unübersichtlichkeit lässt deutsche Politik aus der Perspektive von außen und besonders aus zentralistisch aufgebauten Staaten wie z.B. Frankreich oder die Niederlande seltsam wirken.