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Freiheit und Sicherheit | Innere Sicherheit | bpb.de

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Freiheit und Sicherheit

Christoph Gusy

/ 6 Minuten zu lesen

Ohne ein Mindestmaß an Freiheit und Sicherheit ist keine Gesellschaftsbildung möglich. Umgekehrt kann es in einem Gemeinwesen weder grenzenlose Freiheit noch vollständige Sicherheit geben, sagt Christoph Gusy. Für die Politik und Gesellschaft bedeutet das, dass sie sich an den Ideen von Sicherheit und Freiheit orientieren und zugleich in einem gewissen Maße von ihnen distanzieren sollte, so der Bielefelder Staatsrechtler.

Der Einsatz von Ganzkörperscannern, auch "Nacktscanner" genannt, wie hier am Flughafen Schiphol in Amsterdam, wird heftig diskutiert: Kritiker sehen darin eine Verletzung der Privatsphäre, während Befürworter durch ihren Einsatz mehr Sicherheit erwarten. (© AP)

Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit ist wahrscheinlich ein Ewigkeitsthema. Zu ihm sind alle Fragen gestellt, die meisten allerdings höchstens vorläufig beantwortet. Solche Themen reizen, und sie ermüden zugleich. Nach neuerer Auffassung sind die grundsätzlichen Positionen recht eindeutig geklärt; erst ihre Auslegung und Anwendung in den einzelnen Sachbereichen führen zu Konflikten, die von der Politik gelöst werden müssen. Daher soll am Anfang nur die Feststellung stehen: Keine Freiheit ohne Sicherheit. Keine Sicherheit ohne Freiheit.

Freiheit und Sicherheit sind kein Selbstzweck

Freiheit und Sicherheit sind nicht nur Gegensätze. Sie weisen auch manche Gemeinsamkeiten auf. Beide sind um der Menschen und der Gesellschaft willen da. Sie sind also kein Selbstzweck, sondern Vorbedingungen anderer Zwecke. Bei beiden kommt es darauf an, was man daraus macht. In diesem Sinne sind Freiheit und Sicherheit einerseits ein individueller Zustand: Der Einzelne ist frei, ist sicher. Sie sind daneben aber auch ein gesellschaftlicher, ein politischer Zustand: Ein Gemeinwesen kann frei, kann sicher sein. In diesem Sinne ist die Beschreibung eines Individuums oder einer Gesellschaft als frei oder sicher ein gesellschaftliches Konstrukt.

Freiheit und Sicherheit bestimmen individuelles und gesellschaftliches Verhalten. Unter den Bedingungen von Freiheit verhält man sich anders als unter denjenigen von Unfreiheit; unter den Bedingungen von Sicherheit verhält man sich anders als unter denjenigen von Unsicherheit. Das gilt für Menschen und Gesellschaften.

Gesellschaftsbildung setzt Freiräume voraus

Ohne ein Mindestmaß an Sicherheit ist Gesellschaftsbildung gar nicht möglich. Wer die Folgen seines Verhaltens bei anderen Menschen oder Gruppen überhaupt nicht voraussehen kann, kann mit ihnen nicht zusammenleben, kann sich mit ihnen nicht sozialisieren. Vertrauen schafft Sicherheit, und Sicherheit schafft Vertrauen.

Aber auch ein Zuviel an Sicherheit macht Gesellschaftsbildung unmöglich: Wo alles kontrolliert, alles aufgezeichnet und alles gegen den Einzelnen verwendet werden kann, kann sich gleichfalls kein Vertrauen bilden. Gesellschaftsbildung setzt also immer das Vorhandensein von Freiräumen voraus. Und wo auch Freiheit sein muss, kann keine vollständige Sicherheit sein. Der alte Gemeinplatz, wonach es in einem auf Zusammenleben angelegten Gemeinwesen keine grenzenlose Freiheit geben kann, ist also dahingehend zu ergänzen, dass es in einem solchen Gemeinwesen auch keine grenzenlose Sicherheit geben kann.

Terrorismus oft eine Folge von zu viel Sicherheit

Beide sind aufeinander verwiesen, und beide verweisen auf Grundfragen des Zusammenlebens: Was hält die Gesellschaft zusammen? Hier wirkt das komplizierte Wechselspiel und Ergänzungsverhältnis Individualität und Sozialität, von Freiheit und Sicherheit. Was treibt die Gesellschaft auseinander? Niemand darf aus der Gesellschaft mehr als nötig herausgedrängt werden. So ist etwa Terrorismus nicht selten eher eine Folge von zu viel als von zu wenig Sicherheit.

Freiheit und Sicherheit sind eben keine absoluten, sondern relative Werte. So hängt etwa die Frage, ob sich eine Gesellschaft als "sicher" wahrnimmt, wesentlich ab

  • von den in ihr relevanten Sicherheitsbedürfnissen: Diese können individuell, gruppenspezifisch und politisch unterschiedlich sein! Wer sich verwundbarer fühlt, hat höhere Sicherheitsbedürfnisse. Das ist die Vulnerabilitätsfrage.

  • von den in ihr wahrgenommenen Quellen von Unsicherheit: Wo sind die Bedrohungen? Welche Umstände können ein Ereignis, einen Zustand, eine Entwicklung als Bedrohung erscheinen lassen? Dies sind nicht nur Wahrnehmungs-, sondern noch viel mehr Deutungs- und Bewertungsfragen. Hier stellt sich die Risikofrage.

  • von den in ihr relevanten Sicherheitsinstanzen, -funktionen und -akteuren: Dies können Institutionen (Polizei), Gruppen (peers) oder die Einzelnen selbst sein. Welches Maß an Vertrauen genießen sie? Dies ist die Copingfrage.

Politik ist nicht dazu da, eindimensionale Ideen gleichsam "eins zu eins" zu verwirklichen. Sie kann nie allein "die Freiheit" oder "die Sicherheit" umsetzen. Dafür gibt es viele Gründe:

  • Zu unscharf sind die Ideen: Welche Freiheit, welche Sicherheit ist gemeint?

  • Zu hoch sind die Kosten: Wer eine Idee vollständig umsetzt, muss andere vollständig unberücksichtigt lassen. Dies schafft Widerstände und politische Kosten.

  • Und zu hoch ist die Konkurrenz unterschiedlicher, gleichfalls berechtigter Ziele: Es gibt eben nicht nur Freiheit und Sicherheit, sondern auch Gleichheit, soziale Gerechtigkeit und den Schutz der Umwelt.

Freiheit und Sicherheit als Leitsterne für die Politik

Bildhaft lässt sich formulieren: Die großen Ideen (Freiheit, Sicherheit und andere) haben die gesellschaftliche und politische Funktion von Leitsternen. Man kann an ihnen die Richtung bestimmen, aber man kann, darf und wird sie nie erreichen. Insoweit gleichen sie dem Polarstern: Er zeigt die Richtung für die Seefahrt. Aber wenn man ihn erreicht, hat man irgendetwas falsch gemacht. Politik bedarf der Orientierung an jenen Ideen, aber zugleich eines gewissen Maßes an Distanzierung von ihnen.

Konkret sind Freiheit und Sicherheit zeit-, technik-, kulturell und sozial geprägt. Der Stand der Entwicklung auf diesen Gebieten ist geeignet, Realisierungsmöglichkeiten und -bedingungen von Freiheit zu schaffen und zu verändern. Hierfür bietet die Informationstechnik ein offenkundiges Beispiel. Ebenso sind jene Bedingungen aber auch geeignet, Grenzen und Risiken von Freiheit zu gestalten und zu verändern. Die Freiheit des einen ist oftmals die Grenze der Freiheit des anderen.

Solche Verschiebungen können sehr weit reichen. Wenn einer die Vorteile des Internets nutzen kann, können es auch andere, und zwar vielleicht auch auf Kosten des einen. So besteht die Gefahr, dass auf seine Daten oder Rechner zugegriffen wird. Auch die Schaffung technischer Bedingungen (zum Beispiel Software zur Nutzung von Online-Banking und Online-Shopping) oder die Entwicklung neuer Kulturtechniken (etwa die neue, häufig recht anonyme Kommunikation in sozialen Netzwerken) bergen die Möglichkeit des Missbrauchs.

Rolle der modernen Informationstechnologie

Hier wird die Freiheitsfrage auch zur Sicherheitsfrage. Es sind wesentlich dieselben technischen, kulturellen und sozialen Entwicklungen, die nicht nur den Stand der Freiheit, sondern auch die Möglichkeiten und Grenzen von Sicherheit determinieren. Ohne die Fortschritte der modernen Informationstechnologie gäbe es keine sekundenschnelle Massenverarbeitung von sicherheitsrelevanten Daten, ohne Internet keine Online-Überwachung. Technik ermöglicht Freiheit und begrenzt sie auch. Und Technik ermöglicht Sicherheit und begrenzt sie auch, sei es durch technische Zugriffssperren (Kryptografie); sei es durch faktische Zugriffsgrenzen, namentlich die "Ortlosigkeit" im Netz.

Die hier vorausgesetzten Entwicklungen verlaufen nicht allein in gleichsam naturwissenschaftlichen Bahnen. Sie unterliegen zwar auch dem Stand der naturwissenschaftlichen und technischen Entwicklung und sind dadurch "determiniert". Sie sind aber nicht allein davon abhängig. Technische Entwicklung bedarf daneben unter anderem der

  • Nützlichkeit: Nur wo ein prognostizierbarer Nutzen erkennbar wird, kann sich der notwendige Aufwand lohnen;

  • Rentabilität: Nur wo ein prognostizierbarer Gewinn erkennbar ist, wird der notwendige Aufwand auch getrieben werden;

  • Sozialen Akzeptanz: Was absehbar kulturell, sozial oder rechtlich nicht zu verwirklichen ist, lohnt den Aufwand nicht (Beispiel: Streit um Atomkraft, "Nacktscanner" oder "Pflegeautomaten").

Eine breite gesellschaftspolitische Debatte ist nötig

Diese und weitere Aspekte sind eben nicht nur technische Fragen. Sie stellen auch Fragen nach dem kulturellen und sozialen Selbstkonzept einer Gesellschaft, nach ihrer geistigen Verfasstheit sowie ihren Erwartungen und Potentialen an (Selbst-)Gestaltungskonzepten und -möglichkeiten. Solche Fragen sind unausweichlich. Es handelt sich um Fragen an Kultur-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaft sowie an die Politik. Werden sie dort nicht gestellt oder nicht beantwortet, so werden sie von Technikern, Ingenieuren oder Betriebswirten gleichsam en passant mitentschieden.

Sicherheit stellt sich nicht von selbst her. Sie muss geschaffen werden; und wer sie schafft, handelt und beweist soziale und politische Handlungsfähigkeit. Entgegen einem gerade in Deutschland verbreiteten Missverständnis gilt das für die Freiheit auch. Sie ist keine Folge gesellschaftlicher oder politischer Untätigkeit, Wahrnehmungs- oder Regelungsabstinenz, sondern muss gleichfalls immer wieder neu definiert, hergestellt und gesichert werden. Auch wer Freiheit schützt und herstellt, handelt und beweist Handlungsfähigkeit. So gesehen sind Freiheit und Sicherheit politisch nicht asymmetrisch, sondern symmetrisch. Beide fordern Engagement und können das Engagement lohnen – auch in der Politik.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Christoph Gusy hat den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte der Universität Bielefeld inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind die neuere Verfassungsgeschichte, Verfassungsrecht, insbesondere die Grundrechte, Polizei- und Sicherheitsrecht sowie Migrations- und Integrationsrecht.