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Terrorismus: Eine grafische Annäherung Auszug aus dem Zeitbild "Terrorismus im 21. Jahrhundert"
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Wie hat sich Terrorismus im Laufe der Zeit gewandelt? Gibt es heute mehr oder weniger Terrorismus als früher? Welche Regionen der Welt sind besonders betroffen? Sieben Grafiken geben einen Überblick.
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Der folgende Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in Jana Kärgel (Hrsg.):
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Das Phänomen „Terrorismus“ ist nicht leicht zu fassen. Das beginnt schon damit, dass es keine einheitliche Definition gibt, wie Alex P. Schmid in seinem Handbuch zur Terrorismusforschung feststellt (vgl. Schmid 2013: 39). Bis 2011 konnte er mehr als 250 unterschiedliche Terrorismus-Definitionen identifizieren. Diese Uneindeutigkeit hat konkrete Auswirkungen, denn die Definition von Terrorismus entscheidet darüber, was als Datengrundlage gilt – und was nicht. Wird mit unterschiedlichen Begriffsverständnissen gearbeitet, so kann es passieren, dass ein gewaltsamer Akt in einer Statistik als terroristisch klassifiziert wird, in einer anderen Erhebung nicht. Doch nicht nur die Begriffsdefinition birgt Unwägbarkeiten, sondern auch das zur Verfügung stehende Datenmaterial. So ist beispielsweise die – auch im Folgenden verwendete – Datenbasis der Global Terrorism Database (GTD) auf die internationale Medienberichterstattung angewiesen. Die Aufnahme von Daten zu Terrorakten in die GTD erfolgt also auf der Grundlage von Informationen aus zweiter Hand.
Eine weitere Problematik besteht darin, dass Terrorismus eng mit anderen Gewaltphänomenen verwandt ist. So ist die Abgrenzung zu bewaffneten Auseinandersetzungen im Rahmen von Bürgerkriegen, Pogromen oder der Gewalt von Rebellen, Milizen und Guerillakämpfer*innen nicht immer eindeutig. Da ein wichtiger Indikator für Terrorismus nicht nur die Gewalt selbst ist, sondern auch das planvolle Vorgehen und die damit einhergehende politische Motivation, müssen die Taten aufseiten der Rezipient*innen auch als terroristische Botschaft gelesen und erkannt werden. Wenn es kein Tatbekenntnis im Gefolge einer Tat gibt und auch die polizeilichen Ermittlungen die Hintergründe nicht eindeutig rekonstruieren können, ist eine Einordnung schwierig. Hinzu kommen Fragen, welche die Einstufung einer Tat als terroristisch ebenfalls verzögern oder gar verhindern können: Hätte sich der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) im November 2011 nicht selbst enttarnt, dann wären vielleicht auch seine Morde nicht als rassistisch motiviert begriffen worden. Und das, obwohl die Familien mehrerer NSU-Opfer den politischen – und damit rechtsterroristischen – Charakter der Mordserie frühzeitig erkannt hatten. Ihnen wurde jedoch nicht ausreichend Gehör geschenkt.
All diese Aspekte und Herausforderungen gilt es im Hinterkopf zu behalten. Natürlich kann auch eine grafische Annäherung die Schwierigkeiten bei der Betrachtung des Phänomens „Terrorismus“ nicht auflösen; ebenso wenig kann und will sie einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Was sie aber leisten kann: eine datenbasierte Einordnung ermöglichen und neue Zugänge zum Thema eröffnen. Und eine solche Annäherung kann unseren Blick schärfen, sei es für in Vergessenheit geratene Anschläge in der Vergangenheit oder für die Menschen und Orte, die aktuell besonders von Terrorismus betroffen sind.
Die Geografie des Terrorismus nach „9/11“
Terrorismus ist ein globales Phänomen, aber nicht alle Weltregionen sind gleichermaßen davon betroffen. In der Zeit nach der Zäsur „9/11“, von 2002 bis 2019, waren vor allem die sogenannte MENA-Region (der Nahe Osten und Nordafrika), Südasien und Subsahara-Afrika Schauplätze terroristischer Anschläge. In diesen Regionen wiederum wurden im Irak, in Afghanistan und Nigeria besonders viele Anschläge verübt.
Die historische Entwicklung von Terrorismus
Der 11. September 2001 gilt vielen Beobachter*innen als zentrales Datum, um sich vergleichend mit Terrorismus im 20. und 21. Jahrhundert auseinanderzusetzen. Insgesamt wird dabei deutlich: Das Phänomen „Terrorismus“ hat sich im Laufe der Zeit verändert. Vor „9/11“ gab es 1992 die meisten Terroranschläge: In dem Jahr wurde etwa die Hälfte der insgesamt rund 6.800 Terroropfer bei über 900 Anschlägen in Südasien und Subsahara-Afrika ermordet. Bei den terroristischen Anschlägen am 11. September in den USA wurden mehr als 3.000 Menschen getötet, das sind 40 Prozent der rund 7.000 Terroropfer im gesamten Jahr 2001. Im Jahr 2014 wurden etwa 13.500 Anschläge verübt, bei denen über 33.000 Menschen starben. Dies ist nicht zuletzt auf diverse islamistische Gruppierungen zurückzuführen; so begingen al-Qaida, al-Shabaab, Boko Haram, der sogenannte Islamische Staat und die Taliban zusammen über 3.000 terroristische Anschläge.
Ein Problem bei der empirischen Beschäftigung mit Terrorismus ist die Datengrundlage. Die umfangreichste Datenbank zum Thema ist die Global Terrorism Database (GTD), die seit 1970 terroristische Anschläge sammelt und verzeichnet. Von 1970 bis 1997 wurde die GTD durch ein privates US-Sicherheitsunternehmen, die Detektei Pinkerton, handschriftlich geführt, bei einem Umzug des Unternehmens ging der Datensatz für das Jahr 1993 verloren. Die hier farblich hervorgehobene Darstellung beruht auf einer unvollständigen nachträglichen Rekonstruktion. Heute wird die Datenbank vom National Consortium for the Study of Terrorism and Responses to Terrorism (kurz: START) an der University of Maryland in den USA geführt.
Der Terroranschlag im Fokus
Todesopfer pro Anschlag
Bei mehr als der Hälfte der in der Global Terrorism Database (GTD) verzeichneten weltweiten terroristischen Anschläge zwischen 1970 und 2019 – ohne das Jahr 1993 – wurden keine Menschen getötet, bei etwa einem Prozent mehr als 25 Personen. Zu etwa fünf Prozent der Anschläge liegen keine Informationen vor.
Bekenntnis zum Anschlag
Häufig ist für die Einschätzung eines Gewaltaktes als „terroristisch“ von zentraler Bedeutung, dass sich die Täter*innen oder die verantwortlichen terroristischen Gruppen zur Tat bekennen. Doch bei der überwiegenden Zahl der terroristischen Anschläge gibt es kein Bekenntnis zum Anschlag; bei etwa einem Drittel ist es laut GTD unklar oder unbekannt, ob es ein Tatbekenntnis gab. Anschläge mit einem Bekenntnis sind also eher die Ausnahme.
Anschläge nach Anschlagsart
Die GTD führt acht Kategorien von Anschlagsarten sowie jene, über die keine Informationen vorliegen („Unbekannt“). Ein Anschlag kann dabei in mehrere Kategorien gleichzeitig fallen, an dieser Stelle werden Anschläge ausschließlich hinsichtlich der Hauptkategorie dargestellt, in die sie seitens der GTD eingruppiert wurden.
Anschläge nach Waffentyp
Die GTD unterscheidet elf konkrete Waffentypen sowie die Kategorien „Sonstiges“ und „Unbekannt“. Anschläge mit Sprengstoff sind demzufolge mit Abstand am häufigsten.
Terrorismus in Deutschland: Das Beispiel München
München war Schauplatz von vier der sechs tödlichsten Terroranschläge in der Bundesrepublik. Doch auch einige der bekanntesten deutschen Terrororganisationen, wie der NSU oder die RAF, mordeten in oder nahe der bayerischen Landeshauptstadt. Wann wo wer Terrorakte beging, ist auf der Karte einsehbar. Die Darstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
10. Februar 1970: Gescheiterte Flugzeugentführung
Während des Zwischenstopps eines El-Al-Fluges von Tel Aviv nach London greifen drei Attentäter im Transitbereich des Flughafens München-Riem die Passagiere und das Bordpersonal an. Ihr Plan, das Flugzeug zu entführen, scheitert. Mehrere Sprengkörper explodieren, dabei wird der israelische Passagier Arie Katzenstein ermordet.
13. Februar 1970: Brandanschlag auf das Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde
Bei einem Brandanschlag auf das Gemeindezentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern sterben sieben jüdische Bewohner*innen des dort befindlichen Altenheims: Rivka Regina Becher, Meir Max Blum, Rosa Drucker, Arie Leib Leopold Gimpel, David Jakubovicz, Siegfried Offenbacher und Eliakim Georg Pfau. Zwei von ihnen hatten NS-Vernichtungslager überlebt, andere waren nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurückgekehrt. Der Anschlag ist bis heute nicht aufgeklärt, ein antisemitisches Motiv gilt jedoch als gesichert.
12. Mai 1972: RAF — Bombenanschlag
Die RAF zündet auf dem Parkplatz des Landeskriminalamts eine Autobombe. Mehrere Polizisten werden verletzt.
5. September 1972: Münchner Olympia-Attentat
Während der Olympischen Sommerspiele 1972 dringen Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer September in die Unterkunft der israelischen Mannschaft ein. Dort erschießen sie Josef Romano und Mosche Weinberg und nehmen weitere Sportler, Trainer und einen Kampfrichter als Geiseln. Ziel des Anschlags ist es, die Freilassung weiterer Terrorist*innen zu erpressen. Bei einem Befreiungsversuch werden alle neun Geiseln getötet: David Mark Berger, Zeev Friedman, Yossef Gutfreund, Eliezer Halfin, André Spitzer, Amitzur Schapira, Kehat Shorr, Mark Slavin und Yakov Springer, ebenso ein Polizist und fünf der acht Terroristen.
Mai 1976: Bombenanschlag auf US-Soldatensender
Beim Versuch eines Bombenanschlags auf den US-Soldatensender American Forces Network (AFN) explodiert ein selbstgebastelter Sprengkörper. Der Täter Dieter E., Bundeswehrgefreiter und Anhänger der extrem rechten Wehrsportgruppe Hoffmann, wird schwer verletzt.
26. September 1980: Oktoberfest-Attentat
Eine Bombe in der Nähe des Haupteingangs zum Oktoberfest reißt zwölf Menschen aus dem Leben: Gabriele Deutsch, Robert Gmeinwieser, Axel Hirsch, Markus Hölzl, Paul Lux, Franz Schiele, Angela Schüttrigkeit, Errol Vere-Hodge, Ernst Vestner, Beate Werner sowie die Geschwister Ignatz und Ilona Platzer, mit sechs und acht Jahren die jüngsten Opfer. Mehr als 200 Menschen werden zum Teil schwer verletzt. Der Täter Gundolf K. stirbt ebenfalls. Erst erneute Ermittlungen ab 2014 ordnen die Tat als eindeutig rechtsextrem ein. Bis heute bleiben Fragen zum Attentat offen, etwa zur Einzeltäterthese.
20. Oktober 1981: Gescheiterter Banküberfall
Auf dem Weg zu einem Banküberfall wird das Fluchtauto des Kommando Omega von der Polizei gestoppt. Bei einer anschließenden Schießerei in München-Waldperlach sterben zwei der fünf Insassen, beide Teil ihrer eigenen rechtsterroristischen Gruppe und Anhänger der NSDAP/AO.
7. Januar 1984: Brandanschlag auf die Diskothek „Liverpool“
Die deutsch-italienische rechtsterroristische Gruppe Ludwig wirft zwei Brandsätze in den Eingang der Diskothek „Liverpool“. Mehrere Personen werden verletzt, die Barangestellte Corinna Tartarotti erliegt später ihren schweren Verbrennungen.
1. Februar 1985: RAF — Mord
Ernst Zimmermann, Vorstandsvorsitzender der Motoren- und Turbinen-Union (MTU) und Vorsitzender des Bundesverbands der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie (BDLI), wird in Gauting bei München von einem Kommando der RAF in seinem Haus mit mehreren Schüssen in den Hinterkopf geradezu hingerichtet.
9. Juli 1986: RAF — Bombenanschlag
Mit einer Bombe werden Karl Heinz Beckurts, Physiker und Manager der Siemens AG, und Eckhard Groppler, Beckurtsʼ Fahrer, in Straßlach bei München ermordet. Die RAF bekennt sich zu der Tat.
29. August 2001: NSU — Mord
Der NSU ermordet Habil Kılıç in seinem Obst- und Gemüsegeschäft in München-Ramersdorf. Kılıç wird 38 Jahre alt. Er ist das vierte Opfer der NSU-Mordserie.
15. Juni 2005: NSU — Mord
Der NSU erschießt Theodoros Boulgarides, Mitinhaber eines Schlüsseldienstes, in seinem Geschäft in München-Westend. Der 41-jährige Boulgarides ist das siebte Mordopfer des NSU.
22. Juli 2016: Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum
In und um ein Schnellrestaurant am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) im Stadtbezirk Moosach erschießt David S. neun Menschen, weitere fünf Personen werden teils schwer verletzt. Zunächst als (unpolitischer) Amoklauf gewertet, wird die Tat aufgrund der extrem rechten Gesinnung des Täters später als rechtsterroristisch eingestuft. Die Opfer waren Muslime, Muslima, ein Rom, ein Sinto und mehrheitlich sehr jung: Sevda Dağ, Chousein Daitzik, Selçuk Kılıç, Giuliano Josef Kollmann, Can Leyla, Janos Roberto Rafael, Armela Segashi, Sabina und Dijamant Zabërgja.
Angst vor Terrorismus
Seit 1992 erhebt die Versicherungsgesellschaft R+V in einer repräsentativen Langzeitstudie die „Ängste der Deutschen“. In persönlichen Interviews werden die Befragten gebeten, auf einer Skala von 1 bis 7 (gar keine bis sehr große Angst) zu verorten, wie groß ihre Angst vor verschiedenen Phänomenen ist. Abgefragt werden dabei Themen wie Arbeitslosigkeit, Klimawandel, europäische Schuldenkrise und seit 1996 auch die Angst vor terroristischen Anschlägen. In den Jahren 2016 und 2017 rangierte die Angst vor Terrorismus ganz oben. 2016 bewerteten 73 Prozent der Befragten ihre diesbezügliche Befürchtung mit 5, 6 oder 7, sodass diese Werte zu „große Angst“ zusammengefasst wurden. 2017 waren es immer noch 71 Prozent.
Die Versicherung selbst stellt die Entwicklung der Angst vor Terrorismus in Zusammenhang mit einzelnen Anschlägen (hier in Grau dargestellt). Werden dem jedoch weitere Anschläge oder Anschlagsversuche gegenübergestellt (hier in Rot) – gescheiterte islamistische Anschläge in NRW oder rechtsterroristische Morde in Deutschland und weltweit –, so scheinen sich diese nicht im gleichen Maße in der kollektiven Wahrnehmung niederzuschlagen wie die Angst vor dem internationalen islamistischen Terrorismus.
Der sogenannte Islamische Staat (IS)
Ob das Massaker von Tikrit 2014 oder die Anschläge in Paris 2015 – der selbsternannte Islamische Staat (IS) schockierte weltweit. Dabei ist das Phänomen „IS“ komplex: Das Machtvakuum in der Region Syrien und Irak ausnutzend, versuchte die Terrororganisation einen eigenen Staat zu errichten. Die Idee dieses im Juni 2014 ausgerufenen „Kalifats“ erschien attraktiv für Islamist*innen vieler Länder. Davon zeugt die hohe Zahl an Personen, die sich ihm anschlossen. Mit dem Zerfall des „Kalifats“, aber auch durch die blutige Realität desillusioniert, kehrten einige Tausend Unterstützer*innen in ihre Heimatländer zurück.
Die Karte veranschaulicht die Größe des vom IS beherrschten Gebietes vom Höhepunkt im Jahr 2015 bis zu seinem Zerfall im März 2019 – mit der Schlacht von Baghuz galt er als militärisch besiegt. Die Übersicht zeigt, wie viele Menschen ausreisten, um den IS zu unterstützen, aus welchen Ländern sie kamen und wie viele zurückkehrten. Die verwendeten Zahlen wurden 2016 und 2017 erhoben – auch auf Grundlage offizieller Angaben der einzelnen Nationen. Diese zählten mal mehr, mal weniger sorgfältig ihre ausgereisten Staatsangehörigen.
Terrorismus vor Gericht
Wenn Terrorist*innen und mutmaßliche Terrorist*innen in Deutschland vor Gericht stehen, dann hat meist der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof (GBA) die Anklage gegen sie erhoben. Denn Fragen der Inneren Sicherheit, wie eben Terrorismus, der Sicherheit nach außen, wie Spionage, und die Revision von Verfahren gehören zu den Aufgabenbereichen des GBA. Als Staatsanwaltschaft des Bundes untersteht er dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV). Das bedeutet nicht, dass der GBA den Länderstaatsanwaltschaften vorgesetzt wäre, denn Justiz ist Ländersache. Vielmehr ist der GBA eine eigenständige Behörde.
Terrorismus im deutschen Strafrecht
Die strafrechtliche Verfolgung von Terrorismus ist kompliziert, eine Legaldefinition von „Terrorismus“ gibt es nicht. Dass die Mitgliedschaft in und die Bildung einer terroristischen Vereinigung unter Strafe steht, ist historisch unter dem Eindruck der jeweiligen Bedrohungslage gewachsen: Dieser Straftatbestand (§ 129a Strafgesetzbuch) wurde in Deutschland im Kontext der Auseinandersetzung mit der Roten Armee Fraktion (RAF) geschaffen, die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (§ 129b StGB) wurde nach den Anschlägen vom 11. September 2001 kriminalisiert. Damit können beispielsweise auch Personen strafrechtlich verfolgt werden, die nach Syrien oder in den Irak reisten, um sich dem sogenannten Islamischen Staat (IS) anzuschließen. Für die Verfolgung solcher Ausreiser*innen muss jedoch ein sogenannter Inlandsbezug gegeben sein – zum Beispiel über die deutsche Staatsbürgerschaft oder die Rückkehr in die Bundesrepublik. Zudem braucht es bei außereuropäischen Vereinigungen, wie eben dem IS, eine Ermächtigung des Justizministeriums. Diese „Ermächtigung kann für den Einzelfall oder allgemein auch für die Verfolgung künftiger Taten erteilt werden, die sich auf eine bestimmte Vereinigung beziehen“ (§ 129b StGB). Politische Erwägungen können hierbei also auch in die Entscheidung zur strafrechtlichen Verfolgung einfließen.
Maßgeblich für diesen „129er-Paragrafen“ ist die Form einer „Vereinigung“, die sich – unter anderem – erst dadurch konstituiert, dass „mehr als zwei Personen“ (§ 129 StGB) beteiligt sind. Daneben kann auch die Vorbereitung einer „schweren staatsgefährdenden Gewalttat“ (§ 89a StGB) mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Das bedeutet eine Vorverlagerung der Strafbarkeit: Nicht erst die Durchführung einer Tat kann geahndet werden, sondern bereits deren Planung und Vorbereitung. Hinzu kommen im konkreten Strafprozess die (mutmaßlich) verübten strafbaren Taten, für die sich die Angeklagten verantworten müssen. So wurde beispielsweise Beate Zschäpe nicht nur wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), verurteilt, sondern auch wegen der zehn Morde, die die Gruppe begangen hat.
Wann gilt eine Vereinigung als terroristisch?
Ob eine Vereinigung als „terroristisch“ gelten kann, muss in einem Prozess erst einmal nachgewiesen werden. Sobald dies jedoch gerichtsfest ist, muss diese Einschätzung nicht mehr in jedem weiteren Verfahren neu verhandelt werden. Zuschreibungen von Dritten, sei es aus der Wissenschaft, von Geheimdiensten oder zum Beispiel durch die Sanktionslisten der Vereinten Nationen oder der Europäischen Union, bilden keinen ausreichenden Beleg für das deutsche Strafrecht – trotzdem können diese Einschätzungen Berücksichtigung finden.
Wer führt das Verfahren?
Generell gehören Verfahren nach § 129a und b StGB zur originären Zuständigkeit des GBA. Doch auch Prozesse, in denen Mord, Totschlag, Geiselnahme, Brandstiftung, Herbeiführen von Explosionen und Ähnliches verhandelt werden, kann der GBA an sich ziehen. Voraussetzung hierfür ist, dass die Tat eine „besondere Bedeutung“ aufweist, also beispielsweise geeignet scheint, „den Bestand oder die Sicherheit eines Staates zu beeinträchtigen“ oder „Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben“, wie es das Gerichtsverfassungsgesetz vorsieht (§ 120 GVG). So wurden als prominente Fälle etwa die Prozesse gegen den Angreifer auf die spätere Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker oder gegen den Attentäter von Halle vom GBA geführt, obwohl die jeweiligen Täter nicht in „terroristische Vereinigungen“ im strafrechtlichen Sinne eingebunden waren. Sollte eine „mindere Bedeutung“ des Falles vorliegen, beispielsweise weil der oder die Täter*in zur Tatzeit minderjährig oder nur kurzzeitig Teil einer terroristischen Vereinigung war, so kann der Fall zurück an die jeweilige Landesstaatsanwaltschaft gegeben werden.
Die Zahlen
Nicht jedes Verfahren, das der GBA einleitet, wird von diesem selbst bis zu einem Urteil geführt, und nicht jedes eingeleitete Verfahren wird vor Gericht zur Anklage gebracht. So erklärt sich die Diskrepanz zwischen der hohen Anzahl der durch den GBA eingeleiteten Ermittlungsverfahren und der relativ niedrigen Anzahl an Anklagen: Beispielsweise hat der GBA im Jahr 2018 (zwischen 1. Januar und 10. Dezember) 1.168 Verfahren eingeleitet, von denen 263 an die Länder zurückgeben wurden – während 2018 und 2019 „nur“ 17 und 22 Anklagen in vom GBA geleiteten Verfahren erhoben wurden.
Die Grafik "Terrorismus vor Gericht" zeigt, wie viele Anklagen in von der Generalbundesanwaltschaft geführten Verfahren zwischen 2004 und der ersten Jahreshälfte 2021 erhoben wurden und welchem Phänomenbereich diese zuzuordnen sind. Die Daten hierfür stammen vom GBA selbst.
Die Visualisierungen wurden von Jonas Cleve und Anika Takagi (beide: Leitwerk. Büro für Kommunikation) im Auftrag der bpb umgesetzt.
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Hendrik Gunz ist Referent im Fachbereich Extremismus der Bundeszentrale für politische Bildung.