Jugendkriminalität - Tatsachen und öffentliche Wahrnehmung
Christian Miesner
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Überfälle in der U-Bahn, emotionale Debatten: Spektakuläre Fälle lassen den Eindruck entstehen, dass schwere Gewalttaten unter Jugendlichen stark zugenommen haben. Immer wieder werden schärfere Sanktionen gefordert. Tatsächlich begehen Jugendliche hauptsächlich Bagatelldelikte, und härtere Strafen erscheinen oft kontraproduktiv.
Kaum ein Kriminalitätsthema ist in den vergangenen Jahren so intensiv diskutiert worden wie das der Straffälligkeit Jugendlicher und Heranwachsender. Dabei wurden im öffentlichen, nicht akademischen Diskurs Forderungen laut, die Strafpraxis zu verändern und härtere Strafen zu verhängen. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die meist von den Medien getragene Debatte mit den jüngsten U-Bahn-Überfällen und dem posthum veröffentlichten Buch "Das Ende der Geduld“ der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig.
Jugendkriminalität = schwere Kriminalität?
Durch die Fokussierung der Berichterstattung auf besonders schwerwiegende Taten entsteht der Eindruck, Jugendkriminalität sei in erster Linie schwere Kriminalität. Darüber hinaus kann durch überregionale Berichterstattung der lokale Zusammenhang der Tat in den Hintergrund gedrängt werden. Dadurch entsteht der Eindruck, dass von Jugendlichen an jedem Ort eine potenzielle Gefahr ausgehe und dass, wenn es zu Gewalttaten kommt, diese für die Opfer meist schlimme Folgen habe.
So stellt sich die Frage, ob das, was oftmals unter dem Begriff "Jugendkriminalität" diskutiert wird, eine echte Gefahr für den Einzelnen oder gar für die gesamte Gesellschaft darstellt. Was zeichnet die Kriminalität von Jugendlichen und Heranwachsenden aus, und was ist von Forderungen nach einem härteren Umgang mit der Tätergruppe zu halten?
Wer ist eigentlich jugendlich? Der juristische Rahmen
Für den Bereich der Jugendkriminalität setzt in Deutschland das Jugendgerichtsgesetz (JGG) den Rahmen. Hier wird bestimmt, dass ein Mensch ab dem vierzehnten bis zum (nicht einschließlich!) achtzehnten Lebensjahr als jugendlich im Sinne des Gesetzes gilt. Die Vorschriften finden unter bestimmten Voraussetzungen auch Anwendung bei den Heranwachsenden, also Personen, die über achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt sind.
Eine eigene Gesetzgebung für die Altersgruppe der Jugendlichen soll den Veränderungen und Umbrüchen in dieser Zeit Rechnung tragen, zu der häufig auch das Brechen von Regeln und das Austesten von Grenzen gehörten. Am Ende dieser Lebensphase sollte aus dem jungen Menschen ein mündiger Erwachsener geworden sein, der die Regeln und Verhaltensweisen der Erwachsenengesellschaft erlernt hat und sie respektiert.
Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht
Daher stellt das Jugendgerichtsgesetz den erzieherischen Gedanken der Strafe in den Vordergrund. Denn zum einen sei die weitere Entwicklung des Jugendlichen ungewiss und zum anderen könne Strafe zum Beispiel durch die damit einhergehende Stigmatisierung zu einer Verstetigung kriminellen Verhaltens beitragen.
Dass diese eigenständige Gesetzgebung für die Gruppe der Jugendlichen und Heranwachsenden sinnvoll ist, wird durch die statistischen Befunde des sogenannten Kriminalitätshellfeldes und die Ergebnisse der Dunkelfeldforschung - also die Untersuchung der nicht statistisch registrierten Kriminalität – unterstrichen.
Jugendkriminalität in der Polizeilichen Kriminalstatistik
Aussagen zur Jugendkriminalität basieren zumeist auf der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Dabei handelt es sich um eine Ausgangsstatistik, das heißt um eine Erfassung jener Taten, die von der Polizei ermittelt worden sind und an die Staatsanwaltschaft weitergereicht werden. Da die PKS nur Tatverdächtige erfasst, kommt es in diesen Fällen nicht zwangsläufig auch zu einer Verurteilung.
Die PKS bildet nur das polizeilich bekannt gewordene Kriminalitätshellfeld ab. Der überwiegende Teil der Straftaten, das sogenannte Dunkelfeld, bleibt in dieser Statistik unberücksichtigt.
Die Ausdehnung des Hellfeldes wird unter anderem durch Größen wie die Anzeigenbereitschaft, die Kontrollintensität durch die Polizei oder Veränderungen im Strafrecht beeinflusst. Neben der PKS existieren noch weitere Kriminalstatistiken, wie beispielsweise die Strafverfolgungsstatistik und die Verurteiltenstatistik.
Jugendkriminalität: ein männliches Phänomen
Mit Blick auf die PKS ist zunächst einmal festzuhalten, dass Jugendkriminalität - wie die Erwachsenenkriminalität auch - zuvorderst männlich ist. Junge Frauen stellen nur etwa 25 Prozent der Gesamttatverdächtigen. Nach Altersgruppen betrachtet, sind die Jugendlichen und Heranwachsenden für etwa 20 Prozent der polizeilich registrierten Fälle verantwortlich. Dabei ist eine deutliche Abnahme der Fallzahlen zu beobachten.
Relativ zu ihrem Bevölkerungsanteil - in der PKS wird dieser Zusammenhang mit Hilfe der sogenannten Tatverdächtigenbelastungszahl (TVBZ) dargestellt - ist diese Altersgruppe jedoch stark belastet. Die Tatverdächtigenbelastungszahl beschreibt die Zahl der Tatverdächtigen je 100 000 Angehörige der jeweiligen Altersgruppe. Dabei zeigt sich, dass die TVBZ von Jugendlichen mit etwa 6 500 dreimal so hoch ist wie die der Erwachsenen.
Ist die Furcht vor Jugendkriminalität begründet?
Aus der Statistik geht hervor, dass ein Großteil der Straftaten Jugendlicher einfache Diebstahlsdelikte und Sachbeschädigungen sind, sich also im Bereich von Bagatelldelikten mit relativ niedriger Schadenssumme bewegen.
Für Aufmerksamkeit sorgen jedoch weniger die zahlreichen Diebstähle oder die Graffiti an Gebäudefassaden in den Innenstädten, sondern hauptsächlich die öffentlich begangenen schweren Körperverletzungen. Die PKS gibt darüber in erster Linie durch die Einzelschlüssel Körperverletzung bzw. schwere/gefährliche Körperverletzung sowie den Summenschlüssel Straßenkriminalität Auskunft. Auch hier zeigt sich eine besonders hohe Belastung von Jugendlichen. Ist die Angst vor dieser Altersgruppe also doch begründet? Wächst hier eine Generation heran, für die Gewalt, Vandalismus und Diebstahl auch im Erwachsenenalter Handlungsoptionen sind? Diese Fragen sind aus verschiedenen Gründen zu verneinen.
Merkmale jugendlicher Straftaten
Zunächst einmal ist festzustellen, dass statistisch gesehen eine höhere Kriminalitätsbelastung von Jugendlichen bereits seit Einführung der PKS im Jahr 1953 zu verzeichnen ist. Diese Höherbelastung erklärt sich vor allem dadurch, wie und wo Jugendliche ihre Taten begehen. Jugendkriminalität findet zu einem großen Teil in der Öffentlichkeit, auf Straßen und Wegen statt. Die meisten Taten sind weder geplant noch zeichnen sie sich durch besonderen kriminellen Einfallsreichtum aus. Sie sind als opportunistisch einzuschätzen, das heißt, im sozialen und örtlichen Nahraum gegebene Tatgelegenheiten und Tatanreize begünstigen eine spontane Tatbegehung. Peergroups, die Clique oder Gleichaltrigengruppe, spielen eine große Rolle. Sie können kriminelles Verhalten aufgrund von Gruppendruckphänomenen mit Mutproben u.ä. begünstigen und verstärken.
Hohe Fallzahlen beim Ladendiebstahl
Beispielhaft für diese Zusammenhänge ist der Ladendiebstahl. "Gelegenheit macht Diebe“ - das trifft auch auf junge Menschen zu. Oft übersteigen die materiellen Wünsche die finanziellen Möglichkeiten Jugendlicher, die wirtschaftlich meist noch an die Eltern gebunden sind. Daher suchen sie vermeintlich einfache, alternative Möglichkeiten, um an begehrte Güter zu gelangen. Läden und Supermärkte bieten dabei die kleinsten Hürden. Obendrein ist die "frische Beute“ besonders geeignet, um vor Freunden den eigenen Mut und eine gewisse Verwegenheit zu demonstrieren.
Allerdings wird, wie man es in vielen Eingangsbereichen moderner Supermärkte lesen kann, jeder Diebstahl zur Anzeige gebracht. Die Kombination von meist dilettantischer, spontan-unüberlegter Tatausführung einerseits und verstärkter Überwachung durch Sicherheitspersonal der Kaufhäuser andererseits lässt die Zahlen in diesem Deliktfeld für diese Gruppe ansteigen.
Überwiegend leichte Delikte bei der Körperverletzung
Auch bei der Körperverletzung gilt: Die Taten spielen sich meist in der Öffentlichkeit ab und sind in der Mehrzahl den leichten Körperverletzungsdelikten zuzuordnen. Selbst die Kategorie der schweren und gefährlichen Körperverletzung muss bezogen auf Jugendliche relativiert werden, denn hier werden nicht nur solche Delikte erfasst, die schwere Verletzungsfolgen haben, sondern auch solche, die laut §224 Strafgesetzbuch (StGB) "mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich“ begangen werden.
Dies ist "also gerade die jugendtypische Konstellation bei Raufhandeln unter Gruppen Gleichaltriger […], die sich im Regelfall gerade nicht durch die von der Tatbestandsbezeichnung suggerierte besonders gefährliche Tatintention oder -ausführung auszeichnet.“ Diese Zusammenhänge bestätigt auch die Opferbelastungszahl, die in der PKS analog zur TVBZ gebildet wird. Vor allem männliche Jugendliche sind überdurchschnittlich stark gefährdet, Opfer von Körperverletzungsdelikten zu werden.
Jugendkriminalität: episodenhaft und ubiquitär
Diese Ausführungen machen deutlich, dass Jugendkriminalität wesentlich differenzierter betrachtet werden muss, als dies häufig geschieht. Dies gilt auch vor dem Hintergrund der Dunkelfeldforschung, die einen tendenziellen Rückgang der Jugendgewalt belegt. Die Forschung hat auch bestätigt, dass kriminelles Verhalten von jungen Menschen normal oder - wie es in der Kriminologie heißt – "ubiquitär“ (überall verbreitet) ist. Demnach ist davon auszugehen, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit wohl jeder Jugendliche und letztendlich auch jeder Erwachsene einmal straffällig wird.
Dies lässt den Schluss zu, dass Jugendkriminalität grundsätzlich nicht den Einstieg in eine kriminelle Laufbahn bedeutet, sondern für die große Mehrheit lediglich eine Episode im Leben ist, die sich mit den persönlichen und sozialen Veränderungen und Reifungsprozessen im Laufe der Zeit legt. Daher und auch aufgrund der schlechteren Erfolgsprognose bei Jugendstrafen ist von einer Sanktionsverschärfung, womöglich nach Erwachsenenrecht, abzuraten.
Christian Miesner, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Münster im Forschungsprojekt "Kooperative Sicherheitspolitik in der Stadt" und Lehrbeauftragter an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW.
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