Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Sicherheit im ländlichen Raum | Innere Sicherheit | bpb.de

Innere Sicherheit Sicherheitsbegriff Dimensionen des Sicherheitsbegriffs Freiheit und Sicherheit Das Gewaltmonopol des Staates Innere Sicherheit in Parteiprogrammen Die Kriminalitätslage – im Spiegel der Polizeilichen Kriminalstatistik Ethik der inneren Sicherheit Urbane Sicherheit Sicherheit im ländlichen Raum Sicherheitsprobleme Zahlen und Fakten Grafiken: Terrorismus Migration und Kriminalität Cyberkriminalität Jugendkriminalität Wirtschafts- und organisierte Kriminalität "Ausländerkriminalität" Politisch motivierte Gewalt Wie entsteht kriminelles Verhalten? Kriminalitätsfurcht Sicherheitsarchitektur Polizeien in Deutschland Gewalt durch und gegen Polizistinnen und Polizisten Private Sicherheitsdienste Nachrichtendienste Europäisierung von innerer Sicherheit Das Zusammenwachsen von innerer und äußerer Sicherheit Jugendhilfe und Polizei Kontrolle der Polizei Sicherheitsproduktion Situative Kriminalprävention Stadtplanung als Kriminalprävention Technische Überwachungsmaßnahmen Strafe und Strafvollzug Debatte: Extremismus und Sicherheitsbehörden Glossar Redaktion

Sicherheit im ländlichen Raum

Nina Oelkers

/ 13 Minuten zu lesen

Für viele Menschen ist die moderne Großstadt ein Ort der Unsicherheit und Kriminalität. Der ländliche Raum gilt hingegen oftmals als Ort der Geborgenheit und menschlichen Nähe. Tatsächlich bestätigt die Statistik, dass die Kriminalitätsbelastung erheblich mit der Gemeindegröße ansteigt. Prof. Dr. Nina Oelkers stellt zudem fest, dass auch die Unsicherheitswahrnehmungen bzw. die Kriminalitätsfurcht der kleinstädtischen und ländlichen Bevölkerung wesentlich schwächer ausfallen. Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass die länger andauernden Sozialkontakte sowohl die informelle Sozialkontrolle als auch das Sicherheitsgefühl fördern.

Spezialisten der Polizei untersuchen einen Brandort. Bei Löscharbeiten in dem Pferdestall sind zwei Leichen gefunden worden. (© picture-alliance/dpa)

Der ländliche Raum wird von jeher als (besonders) lebenswert eingeschätzt und gilt in der Vorstellung vieler Menschen als Ort der Geborgenheit und menschlichen Nähe, "Gemeinschaft, Einfachheit, Bescheidenheit und Natürlichkeit, kurz als "Quell des Wahren, Guten und Schönen". Neben solchen romantisierenden Sichtweisen handelt es sich auch um eine Raumkategorie, die auf eine geringere Einwohnerdichte verweist (vgl. deutsches Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR)) und sich vom stark verstädterten Raum mit hoher Einwohnerdichte unterscheidet. Vom ländlichen Raum wird bspw. gesprochen, wenn dort unter 5.000 Einwohner leben, vom intermediären Raum, wenn es zwischen 5.000 und 50.000 Einwohner sind. Für die BRD ist festzuhalten, dass 98% der Gemeinden eine maximale Einwohnerzahl von 50.000 haben. Rund 60% der Gesamtbevölkerung der BRD (48.436.362 Menschen) leben in Gemeinden mit einer Einwohnerzahl von bis zu 50.000 (nach ZENSUS 2011, Gebietsstand 31.12.2012). Allerdings gibt es nicht "den" ländlichen oder ländlich geprägten Raum, weil es keine Homogenität der als ländlich zu bezeichnenden Räume gibt. Zudem wird Ländlichkeit oder kleinstädtisches durch die dort lebenden Menschen hergestellt, denn Ländlichkeit ist als soziale Konstruktion zu betrachten. So sind der Zusammenhalt, das sich Kennen und die Gegenseitigkeit typische Phänomene, die mit Ländlichkeit zusammen gedacht werden. Diese soziale Konstruktion oder Herstellung von Ländlichkeit muss also nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit (administrativen) Raumkategorien und Einwohnerzahlen stehen.

Problemviertel, Brennpunkt, Ghetto: Vierteln mit sozialer Benachteiligung haftet das Stigma von Perspektivlosigkeit und Kriminalität an. Doch die Betrachtung von "außen" bleibt klischeehaft und verdeckt die sozialen Differenzierungen. (© picture-alliance/dpa)

Sicherheitsmentalitäten im Stadt-Land-Verhältnis

Gemeinhin gilt die moderne Großstadt als Ort der Unsicherheit oder Kriminalität, während ländliche Räume und Kleinstädte häufig mit Vorstellungen wie "hier ist es sicher" sowie informeller Sozialkontrolle und sozialem Zusammenhalt in Verbindung gebracht werden. Informelle Sozialkontrolle beschreibt weitestgehend alle nicht direkt staatlich organisierten Maßnahmen und Prozesse, die auf die Herstellung und Sicherung einer sozialen Ordnung hinwirken, also beispielweise die Kontrolle durch "Privatpersonen" wie Nachbarn, Eltern, Freunde, Bekannte etc. Sozialer Zusammenhalt (auch Kohäsion genannt) ist ein Merkmal von Gruppen, die beispielsweise gemeinsame Werte und Verhaltensanforderungen teilen, sich ihrer Gemeinschaft zugehörig und auch verpflichtet fühlen.

Die Anonymität der Großstadt bzw. die universelle Fremdheit ihrer Bewohner/innen untereinander ("ich kenne niemanden hier") und die Integration in eine sozialräumlich gedachte (ländliche) Gemeinschaft ("hier kennt jeder jeden") stehen sich in der Alltagswahrnehmung der Bevölkerung, aber auch der professionellen Akteure (Polizei, Justiz, Soziale Arbeit etc.) häufig gegenüber. Das Kriminalitätsverständnis wird weitestgehend von (groß)städtischen Unsicherheitserzählungen und Problemlagen geformt. Unsicherheitserzählungen sind jene Geschichten, die über Orte erzählt werden, an denen Furcht und Unsicherheit empfunden wird, aufgrund von tatsächlichen Vorkommnissen ("da wurde schon mal jemand angegriffen") oder Befürchtungen ("da ist es dunkel und manchmal halten sich dort Betrunkene auf"). Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Umweltkriminalität oder das "Familiendrama" in der Vorstadt) fällt es uns schwer, das Verhältnis "Großstadt = Unsicher" zu "Land = Sicher" anders zu denken. Diese Annahmen beeinflussen auch unsere sicherheitsbezogenen Wahrnehmungen, unsere Meinungen und unser Handeln oder anders gesagt: die sogenannten Sicherheitsmentalitäten. Sicherheitsmentalität zeigt sich beispielsweise in den wahrgenommenen Bedrohungen, dem Ergreifen von Schutzmaßnahmen, den Meinungen zur Kriminalitätskontrolle oder in den Erwartungen an die Sicherheitsinstitutionen (z. B. Polizei).

Nähert man sich entlang kriminalstatistischer Daten der ländlichen/kleinstädtischen Kriminalitätsbelastung und setzt diese in ein Verhältnis zur großstädtischen, so zeigen sich die o.g. Vorstellungen weitestgehend bestätigt (siehe Tabelle 1). Entlang einer Zeitreihe lässt sich zwar durchweg ein Anstieg der registrierten Kriminalität seit Mitte der 1960er Jahre nach vollziehen, aber die Kriminalitätsbelastung steigt konstant mit der Gemeindegröße an. Das Verhältnis von 1:3 in der Kriminalitätsbelastung, wenn man ländliche Regionen und Metropolregionen vergleicht, bleibt bestehen.

Tab. 1.: Kriminalitätsbelastung in der BRD nach Gemeindegröße: Anzahl der bekannt gewordenen Fälle von Straftaten auf 100.000 Einwohner, ohne Straßenverkehrsdelikte (Gesamtkriminalitätsziffer, nach 1990 Ost und West, entnommen GESIS-ZUMA Abt. Soziale Indikatoren XII Öffentliche Sicherheit und Kriminalität, S. 1-2, Indikator K001)

Insgesamt Bis 20.000 Einwohner 20.000-100.000 Einwohner 100.000-500.000 Einwohner Über 500.000 Einwohner
1964 2.998 1.520 2.097 3.601 4.616
1970 3.924 1.883 2.750 4.191 6.267
1975 4.722 2.763 4.803 6.018 7.547
1980 6.198 3.565 6.469 7.806 10.078
1985 6.909 3.731 6.867 8.985 12.454
1990 7.108 3.688 7.102 8.445 13.671
1995 7.774 4.846 8.353 10.552 14.260
2000 7.625 4.533 7.555 9.990 13.829
2005 7.747 4.533 7.925 10.388 13.650

Hinweis: Mit "insgesamt" ist die Häufigkeitszahl "Straftaten je 100.000 Einwohner" bundesweit gemeint. In den weiteren Spalten wird dies auf die Gemeinegrößenklassen bezogen. Hier wird deutlich, dass in kleinen Gemeinden eine unterdurchschnittliche Kriminalitätsbelastung vorliegt, während Kommunen mit mehr als 100.000 Einwohner größere Häufigkeitszahlen aufweisen.

Dennoch greift eine einfache Gegenüberstellung zu kurz: Auch wenn durch den subjektiven Eindruck der Bevölkerung, sich untereinander zu kennen und den kleinstädtischen und ländlichen Raum überblicken zu können, das Land als gefahrenarm und "sicher" angesehen wird, wird dabei verkannt, dass diese (kollektiven) Sichtweisen von den Besonderheiten eines ländlichen/kleinstädtischen Kohäsionsmodus (siehe oben) geprägt sind, die im Weiteren erläutert werden.

Sicherheitswahrnehmung und das "Kriminalität in der Distanz"–Phänomen

Nicht nur die Kriminalitätsbelastung im kleinstädtischen und ländlichen Raum ist geringer, auch die Unsicherheitswahrnehmungen bzw. die Kriminalitätsfurcht in der Bevölkerung fällt wesentlich schwächer aus (siehe Tabelle 2).

Tab. 2: Kriminalitätsfurcht Standardfrage: Gibt es eigentlich hier in der UNMITTELBAREN Nähe – ich meine so im Umkreis von einem Kilometer – irgendeine Gegend, wo Sie nachts nicht alleine gehen möchten? (auf Grundlage der Daten des ALLBUS 2008, eigene Auswertung)

Einwohner Ja, gibt es hier Nein, gibt es hier nicht Gesamt
Bis 20.000 16,9% 31,6%
Ab 500.000 81,1% 68,4%
(n) 1.199 / 100%

Kriminalitätsfurcht, also die Befürchtung einem strafrechtlich relevanten Übergriff zum Opfer zu fallen, ist vor allem als ein großstädtisches Phänomen zu betrachten. Dies zeigt sich in großen Bevölkerungsumfragen (siehe Tabelle 2) ebenso wie in Interviews und Gruppendiskussionen mit ländlich verorteten professionellen Akteuren (bspw. Polizei, Justiz oder Sozialen Arbeit) sowie mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen (bspw. Jugendliche, junge Erwachsene, Eltern, ältere Menschen). Kriminalität ereignet sich, nach Einschätzung der Befragten, weitestgehend "woanders". Der ländlich-kleinstädtische Raum wird unter der Prämisse beschrieben, wonach "hier die Welt noch in Ordnung sei". Dies bedeutet, im ländlichen oder kleinstädtischen Nahraum fühlt man sich relativ sicher. Dies bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf das alltägliche Handeln: Immer wieder wird von Seiten der Polizei oder privater Sicherheitsdienstleister beschrieben, dass es aufgrund dieser zugrunde liegenden Sicherheitsvorstellungen auch zu Nachlässigkeiten der Anwohner im ländlichen Raum kommt: […] wenn ich jetzt bei uns durch das Dorf fahre, wo ich wohne, dann finde ich von den Hintertüren, nicht die Vorderen, aber von den Hintertüren, finde ich Pi mal Daumen 10 Prozent nicht verschlossen vor, da komme ich rein.[…] (SIMENTA-Gruppediskussion: Experten).

Angleichung der Lebensstile und regionale Unterschiede

Auch wenn die dokumentierte Kriminalitätsbelastung im ländlich-kleinstädtischen Raum geringer ausfällt als in Großstädten, steigt sie im Laufe der Jahre doch kontinuierlich an (siehe Tabelle 1). Dieser Anstieg fällt mit einer Angleichung ländlicher und (groß)städtischer Lebensstile zusammen: Die ländliche und kleinstädtische Bevölkerung ist mobiler und auch hier werden die Lebensstile individueller, sind also weniger traditionell vorgezeichnet. Städtische Zentren sind für weite Teile der Bevölkerung erreichbar und die sozialen Schichtungen und sozialen Milieus in städtischen und ländlichen Regionen haben sich tendenziell angeglichen. Vor diesem Hintergrund fällt es schwer, (groß)städtische und ländliche Lebensstile als entgegengesetzt zu verstehen (unsicher – sicher).

Außerdem sind auch regionale Unterschiede des ländlich-kleinstädtischen Raumes zu beachten: Berücksichtigt werden muss, ob es sich zum Beispiel um sogenannte ländliche bzw. städtische Wachstumsregionen innerhalb des Strukturwandels handelt (zum Beispiel im Sinne von Suburbanisierungsbewegungen rund um regionale Zentren und sogenannte "Speckgürtel" um prosperierende Großstädte) oder um Regionen, die vor erheblichen strukturellen Problemen stehen (bspw. hohe Arbeitslosigkeitsquoten, Abwanderung der Bevölkerung, wirtschaftliche Schwäche etc.). Ähnliches gilt für grenznahe Landkreise oder aber stark touristisch geprägte Orte, die häufig eine erhöhte Kriminalitätsbelastung aufweisen.

Wertorientierungen und die Wahrnehmung sozialer Probleme

Die Frage ist, wie sich die unterschiedlichen Sicherheitswahrnehmungen erklären lassen, wenn es doch weitgehend eine Angleichung der Lebensstile zwischen Stadt und Land gibt. Um diese Frage zu klären, sollte betrachtet werden, wer vor welchem Hintergrund über Sicherheit oder Kriminalität spricht. Bei der Betrachtung der Einstellungen der ländlich-kleinstädtischen und großstädtischen Bevölkerung lassen sich unter anderem Unterschiede auf der Ebene der politischen Präferenzen feststellen (in diesem Falle entlang des sogenannten Inglehart-Index): Zwar dominieren sowohl in ländlichen Regionen wie in Großstädten sogenannte Mischformen von materialistischen bzw. post-materialistischen Wertorientierungen, dennoch lassen sich konservative und konsensorientierte Orientierungen eher ländlichen Regionen zurechnen sowie liberale und individualistisch geprägte Orientierungen verstärkt in großstädtischen Regionen auffinden. Darüber hinaus zeichnen sich ländliche und kleinstädtische Kommunikationsformen durch einen ausgeprägten Gemeinschaftsbezug wie durch eine hohe Konsensorientierung aus. Sie prägen dabei die Einstellungen gegenüber Kriminalität und Strafe, aber auch gegenüber Recht und Ordnung im Allgemeinen. Bedeutsam erscheint darüber hinaus die Wahrnehmung von gesellschaftlichen Konflikten und Problemlagen. Folgt man den Daten von Bevölkerungsumfragen (z.B. der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage in den Sozialwissenschaften, ALLBUS) werden sie vor allem in kleinstädtischen und ländlichen Zusammenhängen tendenziell dramatischer beschrieben. Da die Welt "hier" noch in Ordnung ist, werden gleichzeitig die Probleme der weiten Welt "da draußen" zugerechnet und in dieser als verunsichernd erlebt. Dies gilt zum Beispiel für die Wahrnehmung von Konflikten zwischen den Generationen, zwischen Reich und Arm sowie bezüglich der Einstellung gegenüber Migration. Sozialer Wandel wird vor dem Hintergrund einer (erlebten und immer wieder unterstellten) Homogenität ländlich-kleinstädtischer Räume als bedrohlicher wahrgenommen, als in großstädtischen Settings, die weitaus toleranter gegenüber Differenzen und Abweichungen zu sein scheinen.

Unsicherheitserzählungen und ländlich-kleinstädtische Sicherheitsproblematiken

Aber welche Themen werden in den lokalen Kriminalitäts- und Unsicherheitserzählungen (im sogenannten Crime Talk) verhandelt? Es fällt es auf, dass sich die Thematiken im ländlich - kleinstädtisch geprägten Raum kaum von städtischen Settings unterscheiden: Einerseits werden Gewalt, Sexualstraftaten und Jugendkriminalität (mit und ohne Migrationshintergrund) in den Erzählungen problematisiert. Dabei werden die Sicherheitswahrnehmung und das Sicherheitserleben hochgradig geschlechtsspezifisch thematisiert: Weiblichkeit - Vulnerabilität (Verletzlichkeit) – Viktimisierung (Opferwerdung) werden als zusammenhängend betrachtet. Vor diesen (angenommenen) Zusammenhang wird das Verhalten im Alltag gedeutet. Unabhängig von einem tatsächlichen Risiko, Opfer zu werden, werden der ländliche Raum oder besser bestimmte Orte im ländlich-kleinstädtischen Raum als unsicher für Mädchen und Frauen wahrgenommen: "Man geht einfach nicht alleine nach Hause und das möchte keiner gerne, gerade von den Mädchen nicht. […][…] Also das ist halt nen Muss. Das gerade als Mädchen, als Frau muss man eben aufpassen und das ist in jeder Stadt so, in jedem Land" (Teilnehmerin SIMENTA-Gruppendiskussion Studierende).

Insgesamt wird deutlich, dass sich im Rahmen von Gruppendiskussionen die Unsicherheitserzählungen auf bestimmte Orte beziehen, die generell und ereignisunabhängig zu bestimmten Zeiten als unsicher wahrgenommen werden. Der sogenannte "Crime Talk" wird hier zum "Place Talk", in dem unsichere Orte thematisiert werden und es weniger um tatsächliche Kriminalitätsereignisse, als vielmehr um als unsicher empfundenen Plätze geht (z.B. spezifische Parks, Bars, Treffpunkte von Jugendlichen, Parkplätze), die aber häufig in keinerlei Beziehung zu einer erhöhten Kriminalitätsbelastung stehen. In den Erzählungen zum ländlichen Raum ist auffällig, dass Verweise auf die "üblichen" (Ordnungs-)Störungen (z.B. Graffiti, sichtbare Obdachlosigkeit und Drogenszene) fehlen, die innerhalb städtischer Erzählungen und kriminologischer Forschung häufiger thematisiert werden. Ein Problemstatus wird diesen Störungen weder aus der ländlichen-kleinstädtischen Bevölkerung, noch von professionellen Akteuren zugeschrieben. Dagegen spielen das Auto und die Sicherheit im Straßenverkehr häufig eine entscheidende Rolle, wenn es um die Wahrnehmung lokaler Sicherheitsproblematiken geht (beispielsweise überhöhtes Tempo auf Landstraßen oder Trunkenheit am Steuer).

Erklärungsansätze, Herausforderungen und Wirkweisen

Wie sind die unterschiedlichen Sicherheitswahrnehmungen zu erklären? Sozialer Zusammenhalt im kommunalen Nahraum durch langjährig stabile Netzwerke von Bekanntschaften sowie durch intensivere Kontakte zu Nachbarn formt im ländlich-kleinstädtischen Raum einen besonderen Umgang mit Abweichungen und Störungen, der sich von der Großstadt unterscheidet. Die soziale Kontrolle mit Nachbarn und durch Nachbarn wird sowohl von professionellen Akteuren als auch von der Bevölkerung als zentral erachtet. Scheitert diese informelle Sozialkontrolle, wird die Polizei in der Pflicht gesehen. Der intensive Kontakt zu Nachbarn und einer Vielzahl bekannter Personen ermöglicht darüber hinaus ein gemeinsames Verständnis geteilter Normen, die vor Ort gültig sind und regt dazu an, sie im Störungsfalle geltend zu machen. Allerdings kann ein vermehrter Zuzug neuer Personengruppen, zum Beispiel im Kontext von Neubaugebieten oder dem Anwachsen der Region, diese Selbstverständnisse verstören. Neue Handlungsmuster treffen auf althergebrachte Ordnungsvorstellungen und geraten in Konflikt. Ob die Ordnungsvorstellungen (Normen und Regeln) dabei weiterhin gelten, bleibt offen. In diesen Situationen, so zumindest der internationale Stand der Forschung in diesem Bereich, werden bis dahin selbstgeregelte Alltagskonflikte dann gehäuft als "Kriminalität" betrachtet und auch der Polizei gemeldet. Es kommt stellenweise zu höheren Unsicherheitsgefühlen gegenüber den "Fremden" oder "Neuen" durch die "alteingesessen" Bewohner/innen. Diese "Alteingesessenen" können ihren Verunsicherungen und Kriminalitätswahrnehmungen in der Regel Geltung verschaffen. Sie profitieren von ihrem Status in der Gemeinschaft, dem erhöhten Kohäsionsgrad und besonders von den etablierten Zugängen zu öffentlichen Institutionen (Politik, Verwaltung, Polizei). In solchen Fällen kann es auch zu einer Abnahme informeller Kontrollbemühungen und somit einem vorübergehenden Anstieg der registrierten Kriminalität kommen: In einem eher unklaren und konfliktreich wahrgenommenen Kontext zieht man sich unter Umständen zurück oder meldet sich nicht mehr zu Wort. Der häufig zitierte "Nachbar", wie der immer wieder konstatierte Gemeinschaftsbezug stoßen demnach an ihre Grenzen, wenn "Fremde" den Zusammenhalt und die informelle Kontrolle stören.

Kulturelle Vorstellungen von Ländlichkeit und ländliche Sicherheitsmentalitäten

Die Situation des Zuzugs von "Fremden" könnte auch als Verstörungen der kulturellen (also traditionellen) Vorstellungen von Ländlichkeit begriffen werden. Es kann nicht vorausgesetzt werden, dass die "Zugezogenen" den ortüblichen Konsens über Normen so tragen, wie es von der alteingesessenen Bevölkerung erwartet wird. Sie bewegen sich auch nicht in den gleichen Netzwerken, die diese Erwartungen transportieren.

Die zuvor beschriebenen sicherheitsrelevanten Prozesse werden von Überzeugungen getragen, wonach ländliche und kleinstädtische Settings kriminalitätsarm und weitestgehend sicher sind (ländlichen bzw. kleinstädtischen Sicherheitsmentalitäten). Die Sicherheitsmentalitäten sind geprägt von einer hohen Vernetzung von professionellen Akteuren vor Ort, einer hohen regionalen Einbindung zum Beispiel in Vereine und durch eine längere Wohndauer (bzw. seltene Umzüge) der Bevölkerung. Dieses Setting fördert zusammen mit den ländlich-kleinstädtischen Sicherheitsmentalitäten das Vertrauen in Nachbarn wie in die Nachbarschaft insgesamt ("Jeder achtet auf den anderen"). Da die Einigkeit über Normen und Wertorientierung vorausgesetzt wird, gelten eigene Kontrollaktivitäten (informelle Sozialkontrolle) im öffentlichen Raum als legitim. Es wird bspw. vom Nachbarn eingegriffen, wenn jemand fremdes auf den Hof fährt oder wenn die Kinder aus der Nachbarschaft etwas "anstellen". In diesem Sinne wirken länger andauernde Kontakte somit sowohl positiv auf die informelle Sozialkontrolle wie auch auf das Sicherheitsgefühl: "[Das ist, g]laube ich ganz wichtig hier, die Kontakte werden ja intensiv hier gepflegt [...]. Wenn man da in ne Ecke zieht, dann lernt man die Leute kennen, die gehen auf einen zu und jeden den man kennt, [ist] auch nicht mehr so beängstigend. Den kann ich einschätzen" (Teilnehmer Gruppendiskussion Experten). Die Bedeutung der intensiven Kontakte und Einbindung in die ländlich-kleinstädtische Gemeinschaft findet sich auch in den Selbstdeutungen professioneller Akteure wie zum Beispiel einzelner Polizeibeamter, die sich häufig als stark eingebunden in einen lokalen Zusammenhang erleben ("mit dem bin ich zusammen im Verein". Das eigene Handeln, wie die eigene Darstellung gegenüber Dritten, scheint hier als eine besondere Herausforderung, da man sich häufig gleichzeitig als Mitglied der regionalen Gemeinschaft erlebt. Der Wert der Beziehungen wird anerkannt und vorausgesetzt. Die Interviews mit professionellen Akteuren verweisen darauf, dass ein verstärkt repressives oder kompromissloses Vorgehen in der Gemeinschaft mit der Befürchtung eines sozialen Ausschlusses einhergeht.

Die "dunkle Seite" der Gemeinschaft


Die mit der starken Gemeinschaft im kleinstädtischen und ländlichen Raum zusammenhängende geringe Kriminalitätsbelastung und Kriminalitätsfurcht hat allerdings auch Nachteile. Die beschriebene Form der nachbarschaftlichen Vergemeinschaftung und der damit einhergehenden erhöhten informellen Kontrolle wird von den an der SIMENTA Studie teilnehmenden Experten/innen wie auch Bewohner/innen als ein "zweischneidiges Schwert" beschrieben: Einerseits bietet die starke soziale Kohäsion Sicherheit, andererseits kann diese auch als Einschränkung empfunden werden. Letzteres vor allem auch durch nicht selbst zu steuernden Tratsch und stellenweise unliebsame Kontakte zu Nachbarn. Informelle soziale Kontrolle berührt demnach nicht nur "unliebsame Fremde", sondern auch jeden in seiner persönlichen Freiheit. Generell erscheint die Frage der hohen sozialen Kontrolle ländlicher und kleinstädtischer Räume widersprüchlich. Sie mag für einige schutzgewährend erscheinen, während andere Akteure sie als erheblich einschränkend erleben und sich auch gerade deshalb gegen eine Wohnortwahl im ländlichen Raum entscheiden.

Quellen / Literatur

  • Elias, N./Scotson, J.L. (1993): Etablierte und Außenseiter. Frankfurt am Main.

  • Franzen,N. et al. (2008): Herausforderung Vielfalt – Ländliche Räume im Struktur- und Politikwandel. Unter: http://shop.arl-net.de/media/direct/pdf/e-paper_der_arl_nr4.pdf (letzter Abruf: 13.11.2013).

  • Gängler, H. (1990): Soziale Arbeit auf dem Lande. Vergessene Lebensräume im Modernisierungsprozeß. Weinheim und München.

  • Girling, E./Loader, I./Sparks, R. (2000): Crime and Social Change in Middle England. London.

  • Klimke, D. (2008): Wach- & Schließgesellschaft Deutschland – Sicherheitsmentalitäten in der Spät-moderne. Wiesbaden.

  • Oelkers, N./ Schierz, S. (2015): Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum. In: Dollinger, Bernd/ Schmidt-Semisch, Henning (Hg.): Sicherer Alltag? Politiken und Mechanismen der Sicherheitskonstruktion im Alltag

  • Tietz, M. (2015): Crime Talk auf dem Lande. Eine Rekonstruktion der dominanten ruralen Deutungsmuster bezüglich (Un)Sicherheit. In: Kriminologisches Journal (im Erscheinen).

  • Völschow, Y./ Helms, Z.-M. (2015, eingereicht): "Jeder achtet auf den anderen" – Informelle Kriminalitätskontrolle in ländlich geprägten Regionen. In: Kriminologisches Journal.

  • Yarwood, R. (2001): Crime and Policing in the British Countryside: Some Agendas for Contemporary Geographical Research. In: Sociologica Ruralis 2/41, S. 201-219

Fussnoten

Fußnoten

  1. Gängler, H. (1990): Soziale Arbeit auf dem Lande. Vergessene Lebensräume im Modernisierungsprozeß. Weinheim und München, S. 164

  2. Die hier dargestellten Befunde, empirischen Daten und Theoriekonzepte entstammen dem durch das BMBF im Rahmen der Forschung für die Zivile Sicherheit geförderten Projektverbund "SIMENTA Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum". Weiter Informationen unter: Externer Link: www.simenta.de sowie unter Oelkers/ Schierz 2015, Tietz 2015 sowie Völschow/ Helms 2015.

  3. Vgl.: Klimke, D. (2008): Wach- & Schließgesellschaft Deutschland – Sicherheitsmentalitäten in der Spät-moderne. Wiesbaden.

  4. Vgl.: Girling, E./Loader, I./Sparks, R. (2000): Crime and Social Change in Middle England. London.

  5. Vgl.: Girling, E./Loader, I./Sparks, R. (2000): Crime and Social Change in Middle England. London, S. 5.

  6. Vgl. weiterführend: Tietz, M. (2015): Crime Talk auf dem Lande. Eine Rekonstruktion der dominanten ruralen Deutungsmuster bezüglich (Un)Sicherheit. In: Kriminologisches Journal (im Erscheinen).

  7. Vgl.: Elias, N./Scotson, J.L. (1993): Etablierte und Außenseiter. Frankfurt am Main.

  8. Yarwood, R. (2001): Crime and Policing in the British Countryside: Some Agendas for Contemporary Geographical Research. In: Sociologica Ruralis 2/41, S. 201-219

  9. Vgl.: Völschow, Y./ Helms, Z.-M. (2015, eingereicht): "Jeder achtet auf den anderen" – Informelle Kriminalitätskontrolle in ländlich geprägten Regionen. In: Kriminologisches Journal.

  10. Vgl. weiterführend: Völschow, Y./ Helms, Z.-M. (2015, eingereicht): "Jeder achtet auf den anderen" – Informelle Kriminalitätskontrolle in ländlich geprägten Regionen. In: Kriminologisches Journal.

  11. Völschow, Y./ Helms, Z.-M. (2015, eingereicht): "Jeder achtet auf den anderen" – Informelle Kriminalitätskontrolle in ländlich geprägten Regionen. In: Kriminologisches Journal.

  12. Vgl.: Franzen,N. et al. (2008): Herausforderung Vielfalt – Ländliche Räume im Struktur- und Politikwandel. Unter: http://shop.arl-net.de/media/direct/pdf/e-paper_der_arl_nr4.pdf (letzter Abruf: 13.11.2013), S. 9.

Weitere Inhalte

Weitere Inhalte

Ländliche Räume

Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum

Die Gesundheitsversorgung steht in ländlichen Regionen vor besonderen Herausforderungen. Wie können Krankenhäuser, Arztpraxen und andere Gesundheitseinrichtungen wirtschaftlich auskömmlich…

Ländliche Räume

Sicherung der Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen

Die Daseinsvorsorge umfasst die Versorgung aller Bevölkerungsgruppen – etwa mit Strom, Wasser, Internet und öffentlichem Verkehr ebenso wie mit Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Sie muss an…

Informationen zur politischen Bildung

Kommunale Strategien zur Entwicklung ländlicher Räume

Die Kommunen bilden neben Bund und Ländern die dritte Ebene im politischen System Deutschlands. Für die lokalen und regionalen Herausforderungen ländlicher Räume ist diese Ebene von besonderer…

Informationen zur politischen Bildung

Wirtschaftliche Vielfalt ländlicher Räume

Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts arbeiteten im Deutschen Reich mehr Erwerbstätige in der Industrie als in der Landwirtschaft. Inzwischen dominiert in ganz Deutschland der Dienstleistungssektor –…

Informationen zur politischen Bildung

Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen

Daseinsvorsorge umfasst alle lebensnotwendigen Dinge für eine wohnortnahe Grundversorgung und soll damit im Sinne des grundgesetzlich fixierten Sozialstaatsprinzips möglichst gleichwertige…

Informationen zur politischen Bildung

Dörfer und Kleinstädte im Wandel

Gegenwärtig leben etwa zwei Drittel der Bevölkerung Deutschlands außerhalb von Großstädten. Die Lebensverhältnisse in Dörfern sowie in Klein- und Mittelstädten haben sich durch die…

Prof. Dr. Nina Oelkers ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziale Arbeit am Institut für Soziale Arbeit, Bildungs- und Sportwissenschaften (ISBS) an der Universität Vechta.