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„Wer hat, dem wird gegeben“ – Über die Logik von gesellschaftspolitischen Diskursen auf sozialen Medien

Dr. Natalie Berner

/ 12 Minuten zu lesen

Ein Like, ein Post, ein kurzer Kommentar – alles nur belanglose Handlungen im digitalen Raum ohne große Auswirkung auf gesellschaftliche Diskussionen? Eine individuelle Handlung auf sozialen Medien verpufft angesichts der schieren Menge an Beiträgen? Diskurstheoretisch denkende Personen würden hier widersprechen. Was vordergründig als unbedeutend oder banal erscheinen mag, kann aus einem anderen Blickwinkel als relevante Beteiligung verstanden werden.

Illustration: www.leitwerk.com

„Wer hat, dem wird gegeben“ – Über die Logik von gesellschaftspolitischen Diskursen auf sozialen Medien

Beiträge auf sozialen Medien sind nicht banal, sondern erhalten Gewicht, wenn wir sie wie jede Äußerung im öffentlichen Raum als Teil des gesamtgesellschaftlichen Diskurses verstehen, in dem Normen, Leitbilder und die Verteilung von Anerkennung verhandelt werden. Dabei müssen die Gegenstände, über die wir sprechen, nicht auf den ersten Blick politisch anmuten, um gesellschaftspolitisch relevant zu sein. Auch der digital-öffentliche Austausch über Familie, Ernährung, Karriere, Lebensmodelle oder Konsumentscheidungen ist Bestandteil von gesellschaftspolitischen Diskursen – ohne dass Tagespolitik, Gesetzesvorhaben oder Parteiprogramme überhaupt tangiert sein müssen. Um diesen Zusammenhang besser verstehen zu können, soll im Folgenden ein erster Einstieg in die diskurstheoretische Perspektive auf soziale Medien und ihre Rolle bei gesellschaftspolitisch relevanten Debatten geliefert werden. Hierfür wird auf die Dynamik und die Logik von Diskursen auf sozialen Medien eingegangen sowie ihre strukturellen Bedingungen reflektiert.

Begriffsbasis: Was sind Diskurse und wann sind sie gesellschaftspolitisch relevant?

In den Lehrbüchern der Kommunikationswissenschaft wird oft von der Orientierungsfunktion der Massenmedien gesprochen. Das geht auf eine Zeit zurück, als man noch überzeugt war, dass die Nutzung von Medien den Menschen die Orientierung in der Welt erleichtert. Heute wird angesichts der medialisierten (d.h. von Medien geprägten bzw. durchdrungenen) Gesellschaft und eines exponentiell gewachsenen Medienangebots öfter eine mediale Orientierungslosigkeit diagnostiziert. Auf digitalen Plattformen und in sozialen Medien sind Menschen einem Strom von Meinungen, Bildern und Äußerungen ausgesetzt, die es scheinbar unmöglich machen, dahinter Logiken und Regelmäßigkeiten zu erkennen. Dabei ist genau das Erkennen von Hintergründen, Entstehungsbedingungen und Gesetzmäßigkeiten die Voraussetzung, um sich selbstbestimmt und souverän in medialen Räumen bewegen zu können.

Wie soziale Medien den gesellschaftlichen Diskurs beeinflussen, darüber wird viel nachgedacht: Mal werden die digitalen Plattformen vor allem als Risiko und Gefahrenquelle gesehen für Hass, Desinformation oder die psychische Gesundheit der Einzelnen, ein andermal liegt der Fokus auf den Vorteilen und Chancen, die durch Teilhabe und neue Sichtbarkeiten möglich werden. Um die Logik und Wirkung von gesellschaftspolitisch relevanten Diskursen auf sozialen Medien im Kontext gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu verstehen und kritisch zu reflektieren, ist eine gemeinsame begriffliche Basis nötig. Es lohnt daher vorab die Klärung, was unter gesellschaftlichem Diskurs im Allgemeinen und gesellschaftspolitischen Diskursen im Speziellen verstanden wird. In einer vereinfachten Definition lässt sich gesellschaftlicher Diskurs als die Gesamtheit an Aussagen verstehen, die an verschiedenen gesellschaftlichen Orten (z. B. Politik, Medien, Wirtschaft, staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen) über einen Gegenstand geäußert werden. Der Diskurs ist dabei nichts Statisches, sondern befindet sich in stetem Wandel. Jede einzelne Aussage kann dabei als Diskursfragment verstanden werden. In der Summe machen die Diskursfragmente den Diskursraum aus und stecken ab, was zu einem bestimmten Zeitpunkt über einen Gegenstand gesagt wird und gesagt werden kann. Ein solches Fragment kann im Kontext von digitalen Plattformen beispielsweise ein Facebook-Post, Instagram-Beitrag, X-Tweet oder TikTok-Video sein. Aussagen werden dabei von Sprecher*innen oder Akteur*innen getätigt, die einen spezifischen Hintergrund haben und unterschiedliche Interessen verfolgen. Im Diskurs zeigen sich gesellschaftliche Machtverhältnisse und Machtverschiebungen. Wer welche Aussagen wo mit welcher Reichweite treffen kann und dabei legitimiert oder delegitimiert wird, ist ein Ausdruck von Machtstrukturen. So können Akteure mit einer hoher Kapitalausstattung oder bestimmter Reputation als Meinungsführer oder Meinungsführerinnen Debatten entscheidend mitprägen. In der Corona-Pandemie etwa zeigte sich, wie sich die Interessen von Kindern und Jugendlichen, als Bevölkerungsgruppen mit weniger gut organisierter Lobby und wenig kommunikativer wie institutioneller Macht, zunächst kaum Berücksichtigung fanden. In Bezug auf den Diskursraum wird oft von hegemonialem Diskurs als dem dominanten Diskurs und von Gegendiskurs als einer oppositionellen Bewegung dazu gesprochen.

Der Gegenstandsbereich von gesellschaftspolitischen Diskursen umfasst nun Handlungskonzepte für die Gesellschaft als Ganzes. Gesellschaftspolitik kann dabei zunächst aus einer normativen Sicht betrachtet werden, also mit Blick darauf, wie sie betrieben werden sollte. Sie ist grundsätzlich darauf ausgerichtet, wer welche Stellung, Rechte, Entfaltungsmöglichkeiten oder Chancen in einer Gesellschaft haben soll. In einer idealtypischen, normativen Vorstellung nach Jürgen Habermas bekommen im Diskurs der Zivilgesellschaft unterschiedliche Meinungen und Interessen einen fairen Raum, die dann als „Anregung“ in das politische System eingespeist werden und sich dort gegebenenfalls zu gesellschaftspolitischen Maßnahmen formen können, sofern die betreffenden Anliegen begründet sind. Ein nicht-normatives Verständnis von gesellschaftspolitischen Diskursen fragt hingegen danach, wie sie faktisch ablaufen und wodurch sie geprägt werden. Nach einem Diskursverständnis z. B. im Anschluss an Michel Foucault setzen sich diskursiv und letztlich auch politisch jene Positionen durch, deren Interessensgruppen über die größte gesellschaftliche Macht und somit Durchsetzungskraft verfügen.

Grundsätzlich können gesellschaftspolitische Diskurse also in Entscheidungen im politischen System münden, müssen es aber nicht zwangsläufig. So werden viele Themen erst einmal normativ diskutiert, ohne dass sie gleich politisch reguliert werden (z. B. informelle Altersgrenzen, innerhalb derer ein Verhalten als angemessen gilt, oder Mode in westlichen Gesellschaften). Bei anderen Dingen widersetzen sich starke Kräfte der Politisierung des Themas und erklären sie zu einer reinen Privatsache (früher etwa das Thema Care-Arbeit).

Themen, die idealtypisch in gesellschaftspolitischen Diskursen behandelt werden, betreffen das Zusammenleben in einer Gesellschaft sowie Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen und sind den einzelnen politischen Bereichen wie beispielsweise Bildungspolitik, Sozialpolitik oder Wirtschaftspolitik übergeordnet, d.h. sie sind oftmals nicht nur einem Bereich zuzuordnen, sondern grundsätzlicherer Natur. Fragen können dabei auf einer normativen Ebene sein: Wie lässt sich die Lage von benachteiligten Bevölkerungsgruppen verbessern? Wie kann wirtschaftlicher Wohlstand gerechter verteilt werden? Wie sind Lebensbedingungen in einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen zu optimieren? Oder sich auf konkrete Gegenstände beziehen: Welcher Drogenkonsum wird in einer Gesellschaft toleriert? Welchen Wert hat Care-Arbeit? Welchen Stellenwert haben Menschen, die nicht mehr erwerbsfähig sind oder sozialen Randlagen angehören? Aber auch: Wie sollen Umweltpolitik, Medizinethik oder Außen- und Migrationspolitik nachhaltig gestaltet werden? Der Diskurs kann auch konkrete Vorstellungen des Alltagslebens betreffen: Was gilt als gutes Leben, gute Arbeit, gute Ernährung, gute Erziehung oder eine gute Beziehung? Was oder wer wird als „gesund“ oder „krank“ angesehen oder welche Lebensformen sind gesellschaftlich legitim? Unterschiedliche Personengruppen und Akteure mit heterogenen Interessen verhandeln direkt oder indirekt über solche Fragen in gesellschaftspolitischen Diskursen – auch oder vor allem auf sozialen Medien. In der Praxis geht es bei solchen Themen jedoch nicht unbedingt um mehr Anerkennung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, und nicht immer werden die Diskurse nur mit sachlichen, wohlbegründeten Beiträgen geführt. Es geht schließlich um Verteilungsfragen, um die auch mit Frustration und Wut gekämpft wird, wenn sich bestimmte Interessensgruppen benachteiligt fühlen. Wichtig ist allerdings zu verstehen, was gesellschaftspolitische Diskurse prinzipiell anstreben: die Verteilung von gesellschaftlichen Ressourcen und Anerkennung.

Im Diskurs werden Werte, Vorstellungen und Leitbilder einer Zeit einerseits bestätigt, aber auch herausgefordert, verändert oder verworfen. Und zwar entweder im Sinne einer Erneuerung oder eine Rückkehr zu einer tatsächlichen oder fiktiven Tradition oder einem verlorenen „natürlichen“ Zustand. Beispiele für besonders wirkmächtige Leitbilder sind etwa Familienleitbilder oder das Mutter -, Vater-, oder Elternleitbild einer Zeit.

Es macht einen Unterschied, auf welcher gesellschaftlichen Diskursebene wir Aussagen betrachten, denn jede Diskursebene folgt einer eigenen Logik. So produziert der Alltagsdiskurs andere Diskursfragmente als der Diskurs auf politischer oder medialer Ebene. Dies gilt nun auch im besonderen Maße für soziale Medien, deren Gesetzmäßigkeiten wir im nächsten Abschnitt betrachten.

Welche Besonderheiten gelten für Diskurse auf sozialen Medien?

Diskurse auf sozialen Medien finden im Gegensatz zum Alltagsdiskurs innerhalb der Strukturen von digitalen Plattformen statt, die überwiegend kommerzielle Interesse verfolgen. Die Angewiesenheit auf diese technische Infrastruktur gibt diesen Plattformen und den betreibenden Unternehmen eine machtvolle Position. So können mittels Algorithmen Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit für bestimmte Themen, Positionen und Gruppen zentralisiert oder marginalisiert und Reichweiten beeinflusst werden. Kostenlos bereitgestellte Inhalte durch Nutzer*innen, Mediennutzungsdaten, die für Werbetreibende verwertet werden, sowie die Aufmerksamkeit von Nutzer*innen sind die Waren der Plattformbetreiber, was Nutzenden oftmals nicht in diesem Maße bewusst ist. Prinzipiell sind die Zugangsbarrieren für die Produktion von Inhalten auf sozialen Medien gering. Vorausgesetzt die technische Infrastruktur besteht, kann theoretisch jeder und jede teilhaben und sich am Diskurs beteiligen. Das heißt aber nicht, dass die Bevölkerung repräsentativ auf sozialen Medien vertreten ist. Trotz der scheinbar gleichen Ausgangslage sind Sichtbarkeit und Reichweite der Positionen sehr unterschiedlich sowie die soziodemographischen Hintergründe nicht deckungsgleich mit den Anteilen in der Gesamtbevölkerung. So gaben 2022 16,2 Prozent der befragten Personen in einer repräsentativen Umfrage der Gesellschaft für integrierte Kommunikation (GfK) an, keine sozialen Medien zu nutzen. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass der Diskurs auf sozialen Medien nicht zwangsläufig den gesamtgesellschaftlichen Diskurs abbildet, sondern dass es auf eine spezifische Ressourcenausstattung und Fähigkeiten ankommt, um Sichtbarkeit zu erlangen. Das demokratische Potenzial von sozialen Medien wird auch nach der Einschätzung des Kommunikationswissenschaftlers Christian Fuchs überschätzt, während problematische Aspekte des digitalen Kapitalismus oft vernachlässigt werden. Dazu gehören die intransparente und kommerzielle Verwertung von Datenspuren, unsichtbare Arbeit sowie verschiedenen Formen der Ausbeutung und Klassenfragen. So gibt es auf der einen Seite hochbezahlte Arbeiter*innen in Internetfirmen und auf der anderen Seite die überwiegend unbezahlten Internetnutzer*innen, die Inhalte liefern, oder ausgebeutete Arbeiter*innen in Entwicklungsländern, die jene Mineralien fördern, die für die Herstellung von Computerhardware und Netzinfrastruktur benötigt werden und so soziale Medien erst möglich machen.

Während diese Aspekte vor allem die Infrastruktur von digitalen Plattformen betreffen, auf denen gesellschaftspolitische Diskurse zirkulieren, gibt es auch inhaltliche Besonderheiten für gesellschaftspolitische Diskurse auf sozialen Medien. So sind diese in besonderem Maße von Emotionen und Affekten geprägt. Beiträge, die Emotionen – positiv wie negativ – ansprechen, haben höhere Wahrscheinlichkeiten verbreitet zu werden und Aufmerksamkeit und dadurch Reichweite zu generieren (etwa durch Likes, Shares, Followerzuwachs). Soziale Medien zählen laut der Kommunikationswissenschaftlerin Margreth Lünenborg besonders auf die „Erregung“ von Rezipient*innen und werden von ihr daher als „Affektgeneratoren“ bezeichnet. Damit meint Lünenborg, dass der Aufbau und die Handlungsmöglichkeiten auf sozialen Netzwerkplattformen maßgeblich auf die Affekte (z. B. geteilter Hass, Empörung oder empathische Solidarität) der Nutzenden abzielen, mit dem Zweck die Verweildauer auf der Plattform und die Intensität der Nutzung zu steigern. Gesellschaftspolitische Diskurse werden gerade wegen ihrer emotionalen Anknüpfungspunkte auf sozialen Medien so entschieden geführt. Damit können Diskurse auf sozialen Medien auch symptomatisch sein für eine „übersteigerte Emotionskultur“, wie sie der Soziologe Andreas Reckwitz der Spätmoderne attestiert. Soziale Medien verleiten laut Reckwitz unter anderem dazu, unter dem Credo der Aufmerksamkeitsmaximierung „Peak experiences“, also positive Erlebnisse von höchster Intensität, als Ideal erscheinen zu lassen. Das Normale oder Alltägliche erscheint zunehmend wertlos, denn es kann nicht medial verwertet werden. Dabei bringe die Kultur der positiven Emotionen und „Vergleichstechnologien“ wie soziale Medien paradoxerweise gerade negative Emotionen hervor: Enttäuschung, Frustration, Überforderung, Neid, Wut, Angst, Verzweiflung oder Sinnlosigkeit, für die gesellschaftlich laut Reckwitz die legitimen Orte fehlen würden. Das Scheitern an dem besonders anspruchsvollen Modell des selbstbestimmten und erfolgreichen Lebens in der Spätmoderne („Möglichkeiten voll ausschöpfen“) wird in die individuelle Verantwortung gestellt. Soziale Medien hingegen fördern den quantifizierten Vergleich (Klicks, Likes) und die ständige Überprüfung, wo das Individuum in Vergleich zu anderen steht (von Bildung und Einkommen über Attraktivität des Lebensstils, Urlaubsziele, Lifestyle, Wohnsituation, Freunde, Partner*innen etc.). Die Selbstdarstellung auf sozialen Medien, die es möglich macht, das eigene Leben mit der Ich-Konstruktion von Milliarden von Menschen zu vergleichen, potenziert so die Möglichkeiten für Frustration und Unzufriedenheit. Auch dies können reale Effekte sein, die in wirkmächtigen Diskursen auf sozialen Medien ihren Ursprung haben.

Funktion von gesellschaftspolitischen Diskursen auf sozialen Medien

Auf gesellschaftlicher Ebene vermittelt der Diskurs auf sozialen Medien eine Vorstellung darüber, was oder wem gesellschaftlich Wert zugesprochen wird (z. B. in Bezug auf Lebensstil, Ernährung, Aussehen oder Kindererziehung) oder wem oder was Wert aberkannt wird bzw. wessen Lebensrealitäten nicht auftauchen. Die Spätmoderne und hier insbesondere die neuen Medien produzieren hier Gewinner und Verlierer: Die einen bekommen Aufmerksamkeit im Übermaß, die anderen sind unsichtbar oder bekommen negative Aufmerksamkeit wie Shitstorms, die oft auch das Offline-Leben nachhaltig belasten können. Gleichzeitig kann durch soziale Medien Solidarität und Sichtbarkeit für weniger bekannte Problemlagen erreicht werden (Stichwort Crowdfunding oder Plattform-Aktivismus). Auch mit vermeintlich randständigen Gefühlen, Zuständen oder Positionen finden Menschen auf sozialen Medien Personen, Accounts oder Kreator*innen, die sich in ähnlichen Lebenssituationen befinden, das gleiche mögen, ablehnen oder lustig finden.

Prinzipiell können gesellschaftspolitischen Diskurse auf sozialen Medien in verschiedene Richtungen wirken: Sie können den öffentlichen Diskurs erweitern und öffnen oder einschränken und verengen. Einerseits können alte Normen und Leitbilder hinterfragt, aufgebrochen oder ergänzt werden und andererseits werden neue idealisierte Vorstellungen geschaffen, progressive Ideen angegriffen oder Positionen delegitimiert. Gesellschaftspolitische Diskurse entzünden sich dabei an ganz unterschiedlichen Themen wie Familie, Elternschaft, Kindererziehung, Arbeit, Partnerschaft, Gesundheit, Geschlechteridentität, Migration, Umwelt, Nachhaltigkeit oder Ernährung. Diese Dynamik (Herausfordern vs. Verteidigung) zeigt sich beispielsweise auch bei dem Diskurs um Mutterschaft: Auf der einen Seite gibt es Positionen, die die Idealisierung von Mutterschaft aufbrechen wollen (z. B. der „Regretting Motherhood“-Diskurs) und ein neues gesellschaftliches Leitbild fordern. Auf der anderen Seite hingegen gibt es Positionen, die diese Diskursverschiebungen abwehren und ihre Ideen von Mutterschaft verteidigen und schützen wollen. Unabhängig von dem konkreten Gegenstand formieren sich Leitbilder in solchen Prozessen neu und pendeln sich oftmals bei einem Mittelweg zwischen den unterschiedlichen Positionen ein. So werden Aspekte aus dem Gegendiskurs in ein neues Leitbild integriert und somit anerkannt, allerdings auf weniger absolute Art und Weise. Dies zeigt sich etwa darin, dass alle Parteien in ihren Parteiprogrammen die Erwerbstätigkeit beider Eltern und insbesondere der Mutter prinzipiell fördern möchten. Eine andere Strategie kann es sein, dass bestimmte Entscheidungen in den Bereich der persönlichen Vorliebe verschoben werden (etwa bei dem Thema Ernährung) und so das Thema diskursiv entschärft wird, indem auf die individuelle Verantwortung verwiesen wird.

Insofern haben diskursdynamisch auch extreme Positionen einen Sinn oder sind sogar notwendig für die Ausgeglichenheit des Diskurses und die stete Weiterentwicklung durch Auseinandersetzung mit dem Einspruch von anderen Positionen. In den meisten Fällen lassen sich die Positionen von beteiligten Akteuren über die sozioökonomischen und politischen Hintergründe und Interessen erklären. In der Diskurserweiterung werden „Tabuthemen“ angesprochen oder eigene Erfahrungen beschrieben, die vom hegemonialen Diskurs abweichen. Hier kann man erneut das Beispiel „Regretting Motherhood“ heranziehen. Dieses Thema, also das Bereuen der eigenen Mutterschaft, wurde 2015 ausgelöst durch eine Studie von Orna Donath und breit in den Leitmedien aufgegriffen, gerade weil damit eine zuvor tabuisierte Position (wie etwa jener der nicht-liebenden Mutter) besetzt wurde. Prinzipiell kann der Diskurs auch als Korrektiv fungieren und neue Impulse in die öffentliche Debatte geben.

Fazit

Es lässt sich festhalten: Bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Diskursen auf sozialen Medien muss bedacht werden, dass diese Diskurse wirkmächtig sind, Menschen emotionalisieren und innerhalb von kommerziellen Strukturen stattfinden. Ihre Dynamik zeigt auf, wie Anerkennung gesellschaftlich verteilt ist und wie unterschiedliche Interessensgruppen um Deutungshoheit ringen. Dabei müssen bei einer differenzierten Betrachtung die Hintergründe und subjektiven Ausgangslagen der beteiligten Akteure stets mitgedacht werden. Nicht vergessen werden darf auch, dass die Infrastruktur und die „Spielregeln“ in sozialen Medien von digitalen Plattformen und ihren Betreibern geformt werden, die in den allermeisten Fällen mehr kommerziellen Interessen als einem Gemeinwohl verpflichtet sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Im gesellschaftlichen Diskurs gibt es Asymmetrien, was die Sichtbarkeit und den Einfluss angeht. So können Positionen mit großer Reichweite den Diskurs stärker prägen und ihre Interessen eher durchsetzen. Darauf bezieht sich auch die Überschrift, die auf den Interner Link: Matthäus-Effekt referiert.

  2. Engels Dietrich, „Gesellschaftspolitik“, 08.06.2022, Externer Link: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Gesellschaftspolitik.

  3. Natalie Berner, Die Konstruktion der Mutter in Politik, Wirtschaft, Medien und Alltag. (Köln: Herbert von Halem Verlag, 2022).

  4. F. Schneider, Sabine Diabaté und Kerstin Ruckdeschel, Familienleitbilder in Deutschland. Kulturelle Vorstellungen zu Partnerschaft, Elternschaft und Familienleben. Beiträge zur Bevölkerungswissenschaft 48. (Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich, 2015).

  5. Christian Fuchs, Soziale Medien und Kritische Theorie. Eine Einführung. (München, Tübingen: UVK Verlag, 2021).

  6. Gesellschaft für integrierte Kommunikationsforschung (GiK), Best for Planning 2022, 2022, Externer Link: https://gik.media/best-4-planning/.

  7. Christian Fuchs, Soziale Medien und Kritische Theorie. Eine Einführung. (München, Tübingen: UVK Verlag, 2021).

  8. Margreth Lünenborg, „Soziale Medien, Emotionen und Affekte,“ Working Paper des SFB 1171 „Affective Societies - Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten“ (2020), Externer Link: https://doi.org/10.17169/REFUBIUM-27701.

  9. Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. (Berlin: Suhrkamp, 2020).

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Dr. Natalie Berner ist Kommunikationswissenschaftlerin am Institut für Medienforschung der Technischen Universität Chemnitz. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich Mediendiskurse und qualitative Methoden. Promoviert hat sie zur Konstruktion von Mutterschaft auf verschiedenen gesellschaftlichen Diskursebenen am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München.