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Im Zeichen der Sicherheit: Die Migrationskrise an der polnisch-belarusischen Grenze im Herbst 2021

Kai-Olaf Lang

/ 8 Minuten zu lesen

Ab Sommer 2021 kamen zunehmend mehr Migrantinnen und Migranten an Polens Grenze mit Belarus. Sie wurden als "hybride Bedrohung" interpretiert und rigoros zurückgedrängt. Ein Rückblick auf Ursachen und Verlauf der Migrationskrise – und die polnische Reaktion.

Im Sommer und Herbst 2021 kam es an der polnisch-belarusischen Grenze zu einer starken Zunahme versuchter Grenzübertritte. Polen interpretierte dies als hybride Kriegsführung Belarus‘ und setzte auf Abschreckung und Verteidigung der territorialen Integrität. (© picture-alliance, AA | Stringer)

Im Sommer und Herbst 2021 kam es an der polnisch-belarusischen Grenze zu einer starken Zunahme versuchter Grenzübertritte, die von polnischer Seite als illegal eingeordnet wurden. Waren im Vorjahr 100 solcher Versuche registriert worden, nahm die Zahl ab dem Spätsommer massiv zu: Sie stieg von Externer Link: 3.500 im August auf 17.500 im Oktober. Ähnliches hatte sich Interner Link: einige Wochen zuvor an der litauisch-belarusischen Grenze ereignet. Bei den Personen, die die Grenzen überschreiten wollten, handelte es sich vornehmlich um Menschen aus dem Nahen Osten – vor allem aus dem Irak –, aus Afghanistan und teils aus Afrika. Die Wanderungswilligen kamen mit Touristenvisa nach Belarus. Medienberichten zufolge gelangten sie dann mit Unterstützung belarusischer Stellen in die Nähe der Grenzen zu Polen, Litauen oder Lettland.

Lukaschenko als Strippenzieher

Der Machthaber in Minsk, Alexander Lukaschenko, hatte Anfang Juli 2021 erklärt, er werde keine Migranten auf ihrem Weg nach Westen, "ins warme und komfortable Europa" mehr zurückhalten. Diese Äußerung wurde als Drohung betrachtet, denn Belarus war von der EU mit mehreren Sanktionspaketen belegt worden, nachdem Lukaschenko die Interner Link: Präsidentschaftswahlen im August 2020 offensichtlich gefälscht hatte und mit brachialer Repression gegen Proteste von Gesellschaft und Opposition vorgegangen war. Lukaschenkos Kalkül war es offenbar, die Nachbarländer durch die Generierung von Migrationsbewegungen zu destabilisieren und Unruhe in die Gesellschaften in Polen und Litauen zu bringen, wo man wenig Erfahrung mit der Aufnahme von größeren Zahlen Schutzsuchender hatte und der Zuwanderung aus nichteuropäischen Ländern traditionell ablehnend gegenüberstand. Gleichzeitig erhoffte sich das belarusische Regime, das ohnehin schon angespannte Verhältnis zwischen Brüssel und der Regierung in Warschau weiter zu zerrütten und die Spaltung der EU voranzutreiben. Nicht zuletzt bestand Lukaschenkos Kalkül wohl darin, die EU unter Druck zu setzen, um damit in Gespräche zur Aufweichung der Sanktionen eintreten zu können.

Interpretation

Die Beurteilung der Situation war eindeutig: Aus polnischer Sicht handelte es sich um eine Form Interner Link: "hybrider Kriegsführung". Auch die Partner Polens und die EU schlossen sich im Prinzip dieser Auffassung an. Gemeint sind hiermit gegen einen Staat gerichtete destabilisierende oder subversive Maßnahmen, die sich von konventionellen Angriffen dadurch unterscheiden, dass sie ein breites Spektrum an Aktivitäten umfassen: Sie können von niedriger oder hoher Intensität sein, sie lassen sich auf sämtliche Bereiche des öffentlichen oder privaten Lebens ausrichten und sie nutzen offene Flanken in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Durch hybride Maßnahmen soll die Trennung zwischen Krieg und Frieden verwischt werden. Anders als beim klassischen Angriffskrieg entsteht oft eine Grauzone und damit in den betroffenen Staaten eine Debatte darüber, in welcher Situation man sich befindet und wie zu reagieren sei. Wo "hybride" Kriegsführung endet und "reguläre" Kriegsführung beginnt, ist oft unklar. In der häufig konturlosen Diskussion über den Begriff behauptet die eine Argumentationslinie, hybride Angriffe seien das Gegenteil "kinetischer", also militärischer Attacken, während eine andere Richtung argumentiert, dass neben der "soften" Destabilisierung "harte" Mittel häufig zumindest indirekt in Stellung gebracht würden.

Polens Reaktion auf die Krise

Entsprechend der seit Beginn der Krise lancierten Interpretation der Migrationsbewegungen als "hybride Bedrohung" reagierte Polen dann auch mit militärischen Mitteln und setzte auf Abschreckung und Verteidigung der territorialen Integrität. Anfang September beschloss die Regierung in Warschau die Einführung des Ausnahmezustandes für eine bis zu drei Kilometer tiefe Zone in den beiden polnischen Verwaltungsbezirken, die an Belarus grenzen. Der Zugang dorthin war u.a. auch Medien versperrt, wodurch eine unabhängige Berichterstattung über die Situation an der Grenze verhindert wurde. Die Regierung in Warschau ließ überdies an der zuvor recht offenen Grenze rasch Stacheldrahtzäune aufbauen. Diese sollten später auf einer Länge von 180 km durch eine über fünf Meter hohe "Mauer" Interner Link: ersetzt werden. Parallel dazu entsandte die polnische Regierung neben Grenzschutz und Polizei auch Soldaten sowie Mitglieder der sogenannten Armee zur Territorialverteidigung an die Grenze. Vor allem als es zu gewaltsamen Versuchen des Grenzübertritts durch große Gruppen von Migranten kam, bekräftigte sich Polens Verteidigungsdispositiv. Polens Premierminister Morawiecki richtete sich mit den Worten "Ihr steht an der ersten Frontlinie!" an die Einsatzkräfte, die an der Grenze stationiert waren. Dieser Ansatz stand in einem Spannungsverhältnis zur Einhaltung humanitärer Standards. Denn im argumentativen Rahmen einer Angriffslage sind die Menschen an der Grenze nicht mit bestimmten Rechten ausgestattete Migranten oder Schutzsuchende, sondern primär "Waffen" oder "aggressive Grenzverletzer", die das Risiko der Abweisung billigend in Kauf nehmen.

Lukaschenkos Plan scheitert

Die Instrumentalisierung von Migration zur Erreichung politischer Ziele, wie sie an der polnisch-belarusischen Grenze 2021 zu beobachten war, ist weder ein Novum noch eine Seltenheit. Weltweit wird (Zwangs-)Migration als politisches Druckmittel genutzt, wobei sich Kontexte, Motive und Resultate natürlich unterscheiden. Die Migrationsforscherin Kelly M. Greenhill hat in ihrer Arbeit hierzu zahlreiche Fälle untersucht und dabei Muster und Erfolgschancen von derlei Destabilisierungsmaßnahmen analysiert. Ihrer Einschätzung zufolge hätte die belarusische Seite an sich gute Chancen gehabt, ihre Ziele zu erreichen. Denn mit einem autokratischen Regime als Migrationsgenerator und demokratisch verfassten Zielländern (Polen, Litauen) ergibt sich ein hoher Grad an Verwundbarkeit für die Staaten, die der Destabilisierung ausgesetzt sind. Dass die Regierung in Minsk letztlich aufgab und sich die Zahl versuchter Grenzübertritte an den Grenzen zu den Nachbarländern bis Ende 2021 substanziell verringerte, hat insbesondere mit drei Faktoren zu tun:

Erstens definiert sich Polen als verwundbarer Staat an der Ostflanke der Interner Link: NATO. Seit Jahren rechnete man mit destruktiven Schritten aus Russland; Belarus wurde spätestens seit der Selbstisolierung des Minsker Machthabers nach den Präsidentschaftswahlen im August 2020 ebenfalls zu einem Risikostaat. Die Krise im Sommer und Herbst 2021 wurde daher gleichsam als Bestätigung und Ernstfall schon lange befürchteter Szenarien betrachtet. Kritik an der Security First-Politik, wie sie von Teilen der polnischen Opposition oder Nichtregierungsorganisationen geäußert wurde, hatte keinen Einfluss auf die Haltung der Regierung. Ihre Nulltoleranzpolitik gegenüber den Flüchtenden an der polnisch-belarusischen Grenze genoss eine breite gesellschaftliche Unterstützung. Vorwürfe, man habe illegale Pushbacks vorgenommen – also Asylsuchenden das Recht auf Antragstellung verwehrt –, gingen in der innenpolitischen Debatte unter. Durch die Verbreitung von Interner Link: Bildern frierender und hungernder Menschen, die nicht über die polnische Grenzen kamen, aber von belarusischen Kräften daran gehindert wurden, das Grenzgebiet in Richtung Belarus zu verlassen, wurde die Verantwortung für die dramatische Situation auf das Regime in Minsk abgewälzt.

Zweitens konnte Polen für seinen Kurs mit internationaler Unterstützung oder zumindest einer wohlwollend-nachgiebigen Haltung rechnen, denn auch in Polens Partnerländern in EU und NATO dominierte die Lesart der Vorgänge als "hybride Bedrohung" durch Belarus. Das galt zumal deshalb, weil in den meisten EU-Mitgliedstaaten und EU-Organen noch die innenpolitischen Konsequenzen der Interner Link: Migrationskrise von 2015 präsent waren. Der Ruf nach Einhaltung von Grund- und Menschenrechten sowie völkerrechtlichen Verpflichtungen fiel verhalten aus, da auch andernorts in Europa eine Interner Link: Präferenz für Sicherheit und Grenzschutz bestand.

Drittens knüpfte der Kurs der Regierung an eine Interner Link: restriktive Linie in der EU-Migrations- und Asylpolitik an, die Polen seit Jahren verfolgte. In der Gemeinschaft hatte sich das Land – zusammen mit anderen Partnern etwa aus Ostmitteleuropa – erfolgreich gegen obligatorische Verteilquoten für Flüchtlinge gewehrt. Migrationspolitik wurde sowohl in großen Teilen der Gesellschaft als auch der politischen Landschaft als eine Domäne betrachtet, in der es um die Sicherung nationaler Souveränität durch eine zurückweisende Haltung ging. Dass es in Polen schon lange eine beachtliche Arbeitsmigration aus der Ukraine gab, änderte daran wenig, handelte es sich hierbei doch um eine Art "versteckte" Einwanderung, die keine direkte innenpolitische Relevanz entwickelte.

Vor diesem Hintergrund hatte die Infragestellung des sicherheitslastigen Vorgehens der polnischen Regierung durch Teile der Opposition oder Nichtregierungsorganisationen und Forderungen nach einer humanitären Aufnahme der Migranten keine Chance. Da sich die Situation an der Grenze im Spätherbst und im Winter stabilisierte und sich immer weniger Personen von Belarus nach Polen aufmachten bzw. gar nicht erst nach Belarus reisten , fühlte sich die Regierung bestätigt: Durch Konsequenz und Grenzabdichtung sei Lukaschenkos Kalkül nicht aufgegangen.

Primat der Sicherheit

Alles in allem ist die Krise an der polnisch-belarusischen Grenze vom Sommer und Herbst 2021 ein aufschlussreiches Beispiel für staatliche Reaktionen auf die Instrumentalisierung von Migration, die in der Regel eher dem Schutz von Grenzen als dem Schutz von Menschen Vorrang einräumen. Die Konsequenz, mit der die polnische Antwort auf die "weaponisation" von Wanderungsbewegungen ausfiel, hing aber verstärkt damit zusammen, dass die polnische und westliche Lageeinschätzung in einen ohnehin versicherheitlichten Kontext mit eindeutiger Verantwortungszuschreibung fiel: Polen ist ein Land, das sich (wie auch Litauen) als Frontstaat gegenüber Russland bzw. dem mit diesem verbündeten Belarus versteht. Damit war die Beurteilung von Anfang an eindeutig: Einem hybriden Angriff muss mit sicherheits- und verteidigungspolitischer Logik begegnet werden. Die Option, die Fluchtbewegung durch Offenheit ins Leere laufen zu lassen, galt als riskant. Ein "Deal" Interner Link: etwa nach türkischem Muster – also ein Abkommen, bei dem Belarus Mittelzuweisungen oder Erleichterungen bei Sanktionen erhalten hätte – war sowohl für Polen als auch die Partner in der EU nicht akzeptabel. Man wollte das Regime in Minsk nicht auch noch für die von Belarus selbst verfolgte Destabilisierungsstrategie belohnen und es aus der Isolation holen. Im Nachhinein war der Ausgang der Migrationskrise an der polnisch-belarusischen Grenze somit auch ein wuchtiges Signal des Westens an Belarus und faktisch an Russland: dass die offenen Gesellschaften Europas gewillt sind, sicherheitspolitischen Interessen Vorrang einzuräumen und dabei ihr humanitäres Selbstverständnis zu relativieren.

Dass Polen im Zusammenhang mit dem Interner Link: russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit Ende Februar 2022 komplett anders Externer Link: reagierte und seither Schätzungen zufolge mindestens anderthalb bis zwei Millionen Kriegsflüchtlinge aufgenommen hat, ist vor diesem Hintergrund nur auf den ersten Blick erstaunlich. Hier dominiert in einem ebenfalls versicherheitlichten Kontext eine völlig andere Deutung als ein halbes Jahr zuvor: Bei der Grenzkrise von 2021 ging die polnische Regierung davon aus, dass Polen das zumindest intendierte Opfer von Destabilisierung war und die Migrationswilligen zumindest in Teilen Mitverantwortung für die eigene Situation hatten. Im Gegensatz dazu sieht man jetzt in den Menschen aus der Ukraine die Opfer, denen man solidarisch uneingeschränkt beistehen muss.

Quellen / Literatur

Fussnoten

Fußnoten

  1. Greenhill identifizierte in ihrem Buch "Weapons of Mass Migration" seit 1951 64 Fälle der Instrumentalisierung von Fluchtbewegungen durch Staaten zur Durchsetzung politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Ziele gegenüber anderen Staaten. Ihr Buch wurde hochgelobt. Allerdings gibt es auch kritische Stimmen, die unter anderem Zweifel am methodischen Vorgehen und den daraus resultierenden Schlussfolgerungen äußern sowie davor warnen, Migranten zu bloßen Objekten staatlichen Handelns zu degradieren. Siehe dazu u.a. Lohmann, Johannes, Harnisch, Sebastian und Genc, Savas (2018): Wenn Staaten Migration (aus)nutzen. Über Exterritorialisierung und Akteurschaft in der strategischen Migrationspolitik. Zeitschrift für Flüchtlingsforschung, 2. Jg., Heft 1, S. 108-127. Externer Link: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/2509-9485-2018-1-108/wenn-staaten-migration-aus-nutzen-ueber-exterritorialisierung-und-akteurschaft-in-der-strategischen-migrationspolitik-jahrgang-2-2018-heft-1?page=1 (Zu-griff: 15.06.2022).

  2. Dies hat auch damit zu tun, dass die EU Fluggesellschaften und Reiseveranstaltern mit Sanktionen drohte, sollten sie sich weiterhin am Transport potenzieller Migranten nach Belarus beteiligen. Airlines in wichtigen Herkunfts- und Transitländern wie dem Irak und der Türkei stoppten daraufhin Flüge bzw. den Verkauf von Tickets an syrische, irakische und jemenitische Staatsangehörige nach Belarus. Überdies wirkten die EU bzw. Regierungen der betroffenen Staaten auf Exekutiven in Herkunftsländern ein, um das Reisen schwerer zu machen. Die irakische Regierung etwa unterband auf Drängen Litauens Direktflüge nach Belarus.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Kai-Olaf Lang für bpb.de

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ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Baltischen Staaten, Mittel- und Osteuropa, die EU-Erweiterungspolitik und die Östliche Partnerschaft.