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Binnenmigration in Deutschland 1991-2022 | Deutschland | bpb.de

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Binnenmigration in Deutschland 1991-2022

Jeroen Royer Jonathan Gescher Tim Leibert

/ 12 Minuten zu lesen

Jährlich ziehen etwa vier Millionen Menschen innerhalb Deutschlands über Gemeindegrenzen. Welche allgemeinen Trends der Binnenmigration gibt es? Wie haben sie sich mit der Zeit verändert? Ein Überblick.

Ein Umzugswagen steht am 11.06.2013 vor einem Mehrfamilienhaus in Berlin. (© picture-alliance/dpa, Bodo Marks)

Migration als Motor der regionalen demografischen Entwicklung

In Medien und Politik wird zunehmend über den Interner Link: demografischen Wandel diskutiert. Dabei ist insbesondere die Frage relevant, inwieweit Binnen- und internationale Migration die demografische Entwicklung einer Region beeinflussen. Doch der Wanderungssaldo ist dabei nicht der einzige relevante Faktor. Der natürliche Bevölkerungssaldo, also die Differenz aus Geburten und Sterbefällen, hat erhebliche Auswirkungen auf die langfristigen demografischen Entwicklungen. Zwischen 1990 und 2022 gab es in Deutschland 24,7 Millionen Geburten und 29,3 Millionen Sterbefälle, was zu einem Bevölkerungsdefizit von 4,6 Millionen Personen führte. Der negative natürliche Saldo bedeutet, dass die Bevölkerung Deutschlands Interner Link: ohne Zuwanderung aus dem Ausland geschrumpft wäre.

Als Migrantinnen und Migranten werden – unabhängig von der Staatsangehörigkeit – Personen definiert, die eine Verwaltungsgrenze überschreiten. Dabei müssen bei der Untersuchung von Migrationszahlen mehrere Faktoren berücksichtigt werden, z. B. die geografische Bezugseinheit, die Art der Migration (Binnen- oder internationale Migration) und welche Untergruppen umziehen, beispielsweise nach Alter, Geschlecht oder Nationalität. Migration ist ein vielschichtiges Phänomen, das über Nettozahlen, Haupttreiber und -zielorte hinausgeht. Die individuellen Beweggründe für Migrationsentscheidungen sind vielfältig. Vor diesem Hintergrund werden wir uns auf die übergreifenden Trends und Muster konzentrieren.

Der Beitrag beginnt mit einem kurzen Einblick in die aktuellen Entwicklungen der internationalen Migration nach Deutschland. Es folgt eine Beschreibung der allgemeinen Trends und Tendenzen der Binnenwanderungen in Deutschland, wobei der Schwerpunkt auf der sich verändernden Dynamik liegt, die durch das langjährige Ost-West-Muster sowie die Umverteilung und Sekundärbewegungen von Asylsuchenden und Flüchtlingen beeinflusst wird. Wir werfen einen detaillierten Blick auf Baden-Württemberg als Beispiel für die sich verändernde Dynamik der Binnenwanderungen und fassen die räumlichen Muster auf der Kreisebene seit 1991 zusammen. Es folgen ein Ausblick auf die demografische Entwicklung in Deutschland und ein Fazit.

Internationale Migration

Um die Muster und Trends der Binnenwanderung innerhalb Deutschlands nachvollziehen zu können, ist ein kurzer Überblick über die internationale Migration nach Deutschland unerlässlich. Im Kontext einer Interner Link: alternden Gesellschaft mit negativer natürlicher Bevölkerungsentwicklung ist Bevölkerungswachstum nur möglich, wenn die Zahl der Zuwandernden den Sterbeüberschuss der Wohnbevölkerung übersteigt.

Die internationale Migration ist eine sehr dynamische Komponente der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland. Ihr Umfang schwankte zwischen 1,3 Millionen Zu- und Fortzügen im Jahr 2006 und 3,9 Millionen im Jahr 2022. Seit Anfang der 2010er Jahre ist Deutschland für internationale Migrantinnen und Migranten immer attraktiver geworden. Lässt man die Spitzenwerte von 2015 (1,1 Millionen) und 2022 (1,5 Millionen) außer Acht, so lag der durchschnittliche jährliche internationale Wanderungssaldo im Zeitraum 2010-2022 bei 359.000 mehr Zuzügen als Fortzügen. Im Zeitraum bis 2060 bräuchte Deutschland einen durchschnittlichen jährlichen Wanderungssaldo von 300.000 Personen, um eine konstante Bevölkerungszahl zu erreichen und einen jährlichen Nettozuzug von 512.000 Personen, um die Größe der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter konstant zu halten.

Die Geografie der internationalen Migration nach Deutschland hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Zwischen 2005 und 2014 haben sich die Länder Mittel- und Südosteuropas (Interner Link: v.a. Polen, Rumänien und Bulgarien) nach ihrem EU-Beitritt zu den wichtigsten Herkunftsländern entwickelt. Seit 2015 finden sich Länder wie Interner Link: Syrien und Interner Link: Afghanistan, in denen Kriege und bewaffnete Konflikte herrschen, unter den fünf Hauptherkunftsländern. Die zahlenmäßig wichtigsten Herkunftsländer von Asylsuchenden sind seit 2017 auffallend stabil: Afghanistan, Eritrea, Georgien, Iran, Irak, Nigeria, die Russische Föderation, Somalia, Syrien und die Türkei. Asylsuchende und Flüchtlinge sind im Durchschnitt jung und männlich – Interner Link: mehr als 50 Prozent sind unter 25 Jahre alt. Die internationale Migration ist eng mit Binnenmigration verknüpft, z. B. in Form von Sekundärbewegungen von Flüchtlingen und Asylantragstellenden aus Erstaufnahmeeinrichtungen in andere Landkreise. Die internationale Migration ist zudem sehr selektiv – sowohl in Bezug auf die bevorzugten Ziele als auch auf die soziodemografischen Merkmale der Migrantinnen und Migranten. Diese Selektivität verstärkt die räumlichen Unterschiede der Bevölkerungsentwicklung. So sind Migrantinnen und Migranten in städtischen Ballungsräumen überrepräsentiert. Es gibt dabei auffällige Unterschiede nach Nationalität, auch Interner Link: historische Einflüsse sind immer noch erkennbar (z. B. die Interner Link: Ziele der „Gastarbeitermigration“ in den 1960er und 1970er Jahren). Der Anteil der ausländischen Staatsangehörigen an der Bevölkerung reichte am 31. Dezember 2022 von 3,4 Prozent im sächsischen Erzgebirgskreis bis zu 45,8 Prozent in der hessischen Stadt Offenbach am Main (Bundesdurchschnitt: 15,9 Prozent). Knapp 38 Prozent der in Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländer sind EU-Bürger.

Asylsuchende werden nach Quoten (z. B. dem „Interner Link: Königsteiner Schlüssel“) auf die Bundesländer, Kreise und Kommunen verteilt; sie haben also nur eine begrenzte Wahlmöglichkeit bezüglich ihres endgültigen Zielorts. Die Idee, dass alle Bundesländer und Landkreise einen „fairen Anteil“ an den Schutzsuchenden aufnehmen sollen, hat einen „Nebeneffekt“: Einige Regionen Deutschlands, die ansonsten für internationale Migrantinnen und Migranten eher unattraktiv wären – z. B. strukturschwache ländliche Räume – werden (zumindest vorübergehend) zur Heimat von ausländischen Staatsangehörigen, die sich dort wahrscheinlich nicht niederlassen würden, wenn sie ihren Wohnort frei wählen könnten.

Darüber hinaus hat die Altersselektivität der internationalen Migration nach Deutschland Auswirkungen auf die Bevölkerungsstruktur. So wirkt sich die Zuwanderung von vergleichsweise jungen Menschen hinsichtlich der Altersstruktur der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter positiv aus und ist damit ein wichtiger Faktor für die Sicherung des zukünftigen Wirtschaftswachstums und des Wohlstands. Um die Bedeutung der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt zu verdeutlichen: 35 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland sind derzeit älter als 50 Jahre. Das bedeutet, dass in den nächsten 15 Jahren jede dritte beschäftigte Person in den Ruhestand gehen wird, was den bereits heute bestehenden Interner Link: Fachkräfte- und Personalmangel in vielen Wirtschaftszweigen weiter verstärken wird.

Abbildung 1: Umfang der Wanderungen (Wanderungsvolumen) zwischen den Bundesländern 1991-2022 nach Staatsangehörigkeit. Die Unterscheidung nach Nationalitäten ist nur von 2000 bis 2020 durchgängig verfügbar. Quelle: Destatis (2023 c, d) (© ifl. 2024. Inhalt: J. Gescher / Grafik: S. Dutzmann)

Allgemeine Trends der Binnenwanderungen in Deutschland

Seit 1991 ist der Umfang der Binnenwanderungen mit jährlich rund vier Millionen Umzügen über Gemeindegrenzen hinweg relativ stabil geblieben. Im gleichen Zeitraum sind durchschnittlich jedes Jahr 1,0 bis 1,2 Millionen Personen zwischen den 16 Bundesländern umgezogen (Abbildung 1). Diese Wanderungsbewegungen sind altersselektiv, wie in Abbildung 2 dargestellt. Kinder und ältere Menschen ziehen tendenziell seltener um, während junge Erwachsene sehr mobil sind – oft aus bildungs- oder arbeitsbezogenen Gründen.

Abbildung 2: Wanderungsraten über Bundesländergrenzen hinweg nach Altersgruppen 1991-2020. Die Wanderungsraten ergeben sich aus der Anzahl der Umzüge je 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner der jeweiligen Altersgruppe. Quelle: 1991-1999: Statistische Ämter; 2000-2020: Statistisches Bundesamt (Destatis) (2023i) (© ifl. 2024. Inhalt: J. Gescher / Grafik: S. Dutzmann)

Die Jahre 2001 und 2016 zeichnen sich durch eine besonders hohe Binnenwanderungsaktivität aus, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Der Spitzenwert im Jahr 2001 wurde durch größere Wanderungsbewegungen deutscher Staatsangehöriger verursacht, die aus einem Bundesland in ein anderes zogen (Abbildung 1: orange Linie), insbesondere von Ost- nach Westdeutschland. 2016 hingegen gab es einen größeren Anteil ausländischer Staatsangehöriger (Abbildung 1: grüne Linie), die ihren Wohnsitz von einem Bundesland in ein anderes verlegten, was auf die oben beschriebene Umverteilung von Flüchtlingen und Asylsuchenden zurückzuführen ist.



Das sich verändernde Muster der Ost-West-Migration

Umzüge zwischen den östlichen und westlichen Bundesländern spielen eine entscheidende Rolle für die Binnenwanderungsmuster in Deutschland. Abbildung 3 zeigt Wanderungen zwischen Ost und West von 1991 bis 2022. Bis Mitte der 2000er Jahre machte die Ost-West-Migration mindestens ein Fünftel des gesamten Umfangs der Binnenwanderungen aus. Nach einer erheblichen Abwanderung zu Beginn der 1990er Jahre gab es 2001 erneut eine Abwanderungswelle aus Ostdeutschland. Seitdem ist diese Zahl stetig zurückgegangen.

Abbildung 3: Wanderungsbeziehungen zwischen Ost- und Westdeutschland (ohne Berlin) 1991-2022 (Umfang und Saldo). Quelle: Destatis (2023 e) (© ifl. 2024. Inhalt: J. Gescher, T. Leibert / Grafik: S. Dutzmann)

Im Jahr 2022 erfolgten rund 17 Prozent der innerdeutschen Wanderungen über Landesgrenzen aus den westdeutschen in die ostdeutschen Bundesländer. Der Umfang der Wanderungen von West nach Ost ist dabei mit rund 100.000 Wandernden pro Jahr seit 1994 bemerkenswert stabil geblieben. Bei gleichzeitig rückläufigen Ost-West-Wanderungen kam es Mitte der 2010er Jahre zu einer Verschiebung des Wanderungssaldos zugunsten der ostdeutschen Bundesländer. Seitdem ist der Wanderungssaldo zwischen den beiden Teilen des Landes nahezu ausgeglichen.

Bei den Wanderungen aus Ost- nach Westdeutschland dominieren die 25- bis 29-Jährigen. Typische Wanderungsmotive sind hier die berufliche oder universitäre Ausbildung sowie die Aufnahme einer Berufstätigkeit. Die Wanderungen aus Westdeutschland in die neuen Bundesländer werden hingegen von Personen im Alter von 30 bis 49 Jahren bestimmt. Dabei handelt es sich bei etwa der Hälfte aller West-Ost-Wanderungen um Rückwanderungen. Diese erfolgen zumeist in der Phase der Familiengründung. Des Weiteren sind es vor allem hochqualifizierte Personen, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Ostdeutschland zurückkehren.

Fallbeispiel: Baden-Württemberg

Abbildung 4: Jährliche Nettomigration aus und nach Baden-Württemberg je 1.000 Einwohner (Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis) 2023e) ©ifl. 2024, Inhalt: J. Gescher / Kartografie: A. Kurth

Baden-Württemberg ist ein interessantes Fallbeispiel für die sich verändernde Dynamik der Binnenwanderungen zwischen Ost und West sowie Nord und Süd (Abbildung 4). In den 1990er und 2000er Jahren gab es neben den weithin diskutierten Ost-West-Bewegungen ein auffälliges Nord-Süd-Wanderungsmuster. Über den gesamten Zeitraum von 1990 bis 2022 sind aus Niedersachsen netto mehr Menschen nach Baden-Württemberg gezogen als aus jedem anderen Bundesland. Wie bei der Ost-West-Wanderung hat sich auch dieses Muster in den letzten Jahren verändert. Während Baden-Württemberg im Jahr 2001 durch Binnenwanderungen netto fast 45.000 Einwohnerinnen und Einwohner hinzu gewann, verlor es im Jahr 2022 netto rund 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner an andere Bundesländer. Dieser Bevölkerungsverlust ist nicht nur auf Wanderungen in die benachbarten Bundesländer beschränkt, sondern erstreckt sich auf fast ganz Deutschland (Abbildung 4).

Abbildung 5: Nettomigration aus und nach Baden-Württemberg in der Altersgruppe der 30- bis 50-Jährigen in den Jahren 2001 und 2022. (Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2022; Statistisches Bundesamt 2023e) (© ifl. 2024. Inhalt: J. Gescher / Kartographie: A. Kurth)

Eine genauere Betrachtung der Wanderungsstatistik nach Altersgruppen zeigt eine deutliche Verschiebung der Muster. Im Jahr 2001 gewann Baden-Württemberg Zuwandernde aller Altersgruppen. Die wichtigsten Zuwanderungsgruppen waren dabei die unter 25-Jährigen und die 30- bis 49-Jährigen. Bis 2022 kehrte sich dieses Muster um, wobei die 30- bis 49-Jährigen in 2022 die größte Nettoabwanderung verzeichneten (Abbildung 5). Insgesamt verlor Baden-Württemberg in jenem Jahr in allen Altersgruppen Bevölkerung an die übrigen Bundesländer.

Dies gilt aber nur für das Binnenwanderungsgeschehen. Betrachtet man die Zuwanderung aus dem Ausland, so kamen in Baden-Württemberg im Jahr 2022 rund 180.000 Einwohnerinnen und Einwohner hinzu – mehr als genug, um den negativen Binnenwanderungssaldo auszugleichen.

Binnenwanderungen auf Kreisebene

Die meisten Binnenwanderungen in Deutschland erfolgen über kurze Distanzen: Im Durchschnitt ziehen 40 Prozent aller Binnenwandererinnen und Binnenwanderer in einen Nachbarkreis. Von 1990 bis Anfang der 2000er Jahre war der Anteil der Menschen, die in Ostdeutschland in benachbarte Kreise zogen, in den meisten Jahren aufgrund der bereits erwähnten Ost-West-Wanderungen geringer als in Westdeutschland. Infolge der Nettoabwanderung über größere Entfernungen verloren die meisten Kreise in Ostdeutschland an Bevölkerung (siehe Abbildung 6). Ausnahmen von diesem Trend bildeten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre die Umlandkreise von Großstädten wie Berlin, Leipzig oder Rostock. Nach 2001 begannen viele ostdeutsche Städte, vor allem Leipzig und Potsdam, von einem Reurbanisierungstrend zu profitieren. In der Folge hat sich der Anteil der Zuwanderung aus benachbarten Kreisen in Ostdeutschland ähnlich entwickelt wie in Westdeutschland.

Abbildung 6: Entwicklung des Binnenwanderungsmusters von 1991 bis 2022. Quelle: BBSR (2023), Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2023a, e,), Destatis (2023h), Leibert et al. (2022). ©ifl. 2024, Inhalt: J. Gescher / Kartografie: S. Dutzmann

Seit 2014 nimmt die umfangreiche Zuwanderung von Geflüchteten und Asylsuchenden nach Deutschland deutlich Einfluss auf das Binnenwanderungsgeschehen. So waren 2015 die meisten Kreise sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland Nettoempfänger von Binnenmigrantinnen und -migranten. Lediglich einige Landkreise wie Göttingen, Osnabrück und Oder-Spree verzeichneten eine starke Abwanderung. Sowohl die hohe Nettoabwanderung bestimmter Kreise als auch die Nettozuwanderung in den meisten anderen Kreisen sind Folgen der Umverteilung von Asylsuchenden innerhalb Deutschlands aus den Kreisen, in denen sie zunächst in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht wurden, in den Rest des Landes. Dies verdeutlicht, wie eng Binnenwanderungen und internationale Migration miteinander verknüpft sind.

Abbildung 7: Binnenwanderungsrate (links) und Binnenwanderungsrate in die Nachbarkreise (rechts) 2022. Datenquellen: Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2023a), Destatis (2023h) (© ifl. 2024. Inhalt: J. Royer / Kartographie: S. Dutzmann)

Seit 2017 zeichnet sich ein neues räumliches Muster ab, das mit dem Ost-West-Muster bricht. Ostdeutschland hatte zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung einen positiven Wanderungssaldo. Allerdings gibt es einige regionale Unterschiede: Abbildung 7 zeigt ein Muster mit Binnenwanderungsverlusten in städtischen Kreisen und Gewinnen in den umliegenden ländlichen Kreisen. Dies zeigt, dass es seit Ende der 2010er Jahre einen neuen Suburbanisierungstrend gibt, verursacht durch steigende Wohnungspreise, knappes Bauland und hohe Lebenshaltungskosten in städtischen Gebieten. Darüber hinaus trugen die Auswirkungen der Interner Link: Coronapandemie zu einem negativen Wanderungssaldo in den städtischen Gebieten bei. Die Abwanderung aus den Großstädten in die „Speckgürtel“ war jedoch ein Trend, der bereits vor der Pandemie eingesetzt hatte und daher nicht (nur) auf veränderte Wohnwünsche und -bedürfnisse durch die Lockdown-Erfahrungen während der Pandemie zurückgeführt werden kann.

Ein vollständiges Bild ist notwendig

Die Binnenwanderung wird von der internationalen Migration, der natürlichen Bevölkerungsentwicklung und der Altersstruktur der Bevölkerung beeinflusst - und umgekehrt. Um diese Zusammenhänge zu verdeutlichen, haben wir die verschiedenen Treiber der Bevölkerungsentwicklung in Abbildung 8 für die Jahre 2019-2021 zusammengefasst. Dieser Zeitraum wurde stark von der Coronapandemie beeinflusst, einschließlich der Einschränkungen der Wohnmobilität und der internationalen Migration aufgrund von Lockdown-Maßnahmen in Deutschland und im Ausland.

Abbildung 8: Typologie der Treiber der Bevölkerungsentwicklung 2019-2021. Eigene Berechnungen; Datenquelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2023 b,c,d) (© ifl. 2024. Inhalt: T. Leibert / Kartographie: B. Hölzel)

Nach der Grundgleichung der Demografie wird die Bevölkerungsentwicklung in einem bestimmten Gebiet durch den natürlichen Bevölkerungssaldo (Differenz aus der Zahl der Geburten und Sterbefälle) und den Wanderungssaldo bestimmt. Daher gibt es sechs mögliche Kombinationen der regionalen Bevölkerungsentwicklung (siehe Abbildung 8).

Da die Geburtenraten in Deutschland seit langem unter dem Bestanderhaltungsniveau liegen und die Bevölkerung immer älter wird, gibt es nur wenige Landkreise und kreisfreie Städte, deren Bevölkerung sowohl aufgrund eines positiven natürlichen Saldos als auch aufgrund eines Zuwanderungsüberschusses wächst (Typ 1). Der positive natürliche Bevölkerungssaldo ist in den meisten dieser Kreise auf die selektive Zuwanderung junger Erwachsener zurückzuführen. Durch den Zuzug jüngerer Menschen sinkt die Sterberate. Gleichzeitig steigt der Bevölkerungsanteil potenzieller Eltern, wodurch sich die Zahl der Geburten je 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner erhöht. Universitätsstädte und Großstädte mit einem signifikanten Anteil an Zuwanderinnen und Zuwanderern mit höheren Geburtenraten gehören zu diesem Typ. Aber auch das Umland großer Städte sowie einige Regionen mit historisch hohen Geburtenraten – insbesondere die niedersächsischen Landkreise Cloppenburg und Vechta im Oldenburger Münsterland – gehören zum Typ 1. Die räumliche Verteilung der Kreise mit positivem natürlichem Saldo ist mindestens seit 2011 relativ stabil.

Häufiger ist Typ 2, bei dem die natürliche Bevölkerungsentwicklung negativ ist, aber die Zahl der Binnenmigrantinnen und -migranten und/oder der Zugewanderten aus dem Ausland hoch genug ist, um die natürlichen Verluste auszugleichen. Dieser Typ war in der Vergangenheit typisch für wirtschaftsstarke Regionen, vor allem in Süddeutschland, sowie das Umland von Berlin und Hamburg. Seit Mitte der 2010er Jahre ist er jedoch zum dominierenden Typ in Westdeutschland geworden. Dazu tragen auch veränderte Wanderungsmuster im Zusammenhang mit der Coronapandemie bei. Diese sind durch einen Rückgang der Zuwanderung in viele Großstädte oder sogar eine Trendumkehr hin zu einem negativen Wanderungssaldo und einer zunehmenden Beliebtheit des suburbanen Umlands als Wanderungsziel gekennzeichnet. Der letztgenannte Trend hat bereits Mitte der 2010er Jahre eingesetzt, während der negative Wanderungssaldo in den Großstädten eindeutig mit der Pandemie zusammenhängt. Steigende Mieten und Wohnungspreise spielen dabei eine wichtige Rolle und wirken sich negativ auf die Zuwanderung aus, insbesondere in städtischen Gebieten. Darüber hinaus wirken sie in den größten Städten als Push-Faktor und motivieren Einwohnerinnen und Einwohner, einen Umzug in günstigere Gebiete in Betracht zu ziehen. Ein genauerer Blick auf die Struktur der Zuwanderung zeigt, dass ohne internationale Migration 62 der 213 Typ-2-Kreise schrumpfen würden. Dies gilt nicht nur für strukturschwache ländliche Räume oder Altindustriestandorte mit ungünstigen Arbeitsmärkten und Lebensbedingungen. Auch viele wirtschaftsstarke Kreise mit sehr niedrigen Arbeitslosenquoten, etwa in Baden-Württemberg oder Südhessen, haben einen negativen Wanderungssaldo deutscher Staatsangehöriger.

Tele-Arbeit, veränderte Wohnbedürfnisse, aber auch pandemiebedingte Mobilitätseinschränkungen und Lockdown-Maßnahmen, wie die Digitalisierung der Hochschulbildung, haben sich zusätzlich negativ auf die Wanderungsbilanz der meisten Groß- und Universitätsstädte ausgewirkt. Infolgedessen ist in einigen Städten, die Anfang und Mitte der 2010er Jahre noch zum Typ 1 gehörten (z. B. Köln, Frankfurt, Heidelberg, München oder Stuttgart), mittlerweile die natürliche Bevölkerungsentwicklung Haupttreiber des Bevölkerungswachstums. Diese Städte gehören nun entweder zum Typ 3 (natürliche Bevölkerungsgewinne kompensieren Wanderungsverluste), wenn der Geburtenüberschuss hoch genug ist, um den negativen Wanderungssaldo auszugleichen, oder zum Typ 4 (Wanderungsverluste übersteigen die natürlichen Gewinne), wenn die Zahl der Abwanderungen höher ist als die natürlichen Bevölkerungsgewinne.

Kreise, in denen der Zuzug von Binnenmigrantinnen und -migranten sowie die Zuwanderung aus dem Ausland zu gering ist, um die negative natürliche Bevölkerungsentwicklung auszugleichen (Typ 5: natürliche Verluste übersteigen Wanderungsgewinne), konzentrieren sich in Regionen mit einer langen Geschichte von Schrumpfung und Abwanderung: ländliche Räume in Ostdeutschland, Oberfranken, Nordhessen, der südöstliche Teil Niedersachsens, das Saarland und die Westpfalz. Die jahrzehntelange selektive Abwanderung hat hier zu einer Überalterung der Bevölkerung und damit einhergehend zu einer sinkenden Wahrscheinlichkeit von Geburten geführt. Die meisten der genannten Regionen sind zudem strukturschwach und damit weniger attraktiv für erwerbsbezogene Zuwanderung.

Bei Typ 6 (Schrumpfung aufgrund von natürlichen und Wanderungsverlusten) fällt die Kombination der Treiber der Bevölkerungsentwicklung am ungünstigsten aus: ein Überschuss an Sterbefällen und Verluste durch Abwanderung. Im Laufe der Zeit ist die Zahl der Kreise vom Typ 6 erheblich zurückgegangen, insbesondere in Ostdeutschland. Dies ist vor allem auf die zunehmende Zahl internationaler Migrantinnen und Migranten zurückzuführen. In den 2000er und frühen 2010er Jahren war die Abwanderung aus Ostdeutschland im Allgemeinen und aus den dünn besiedelten ländlichen Gebieten im Besonderen sehr selektiv: Vor allem junge Menschen und insbesondere junge Frauen zwischen 18 und 29 Jahren zogen fort und ließen eine alternde und schrumpfende Bevölkerung zurück.

Die Entwicklung in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands seit Mitte der 2010er Jahre ist auch ein Beleg dafür, dass negative Trends der Bevölkerungsentwicklung nicht in Stein gemeißelt sind, wenn sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verbessern und Menschen aus dem Ausland in vormals schrumpfende Regionen ziehen (oder dorthin zugewiesen werden). Allerdings wird es in Zukunft immer schwieriger werden, die negative natürliche Bevölkerungsentwicklung auszugleichen – vor allem in Landkreisen mit einer langen Geschichte selektiver Abwanderung und Schrumpfung und besonders hohen natürlichen Verlusten durch eine alternde Bevölkerung. Die meisten dieser Kreise befinden sich in den ostdeutschen Bundesländern Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. In Ostdeutschland wird die Zahl der Kreise mit durch Sterbeüberschüsse und Abwanderung schrumpfender Bevölkerung daher in Zukunft voraussichtlich zunehmen.

Mit Blick auf die zukünftige Bevölkerungsentwicklung scheinen die Kreise, die derzeit zu den Typen 3 und 4 zählen, am Scheideweg zu stehen. Wenn die Zuwanderung aus dem Ausland und der Zuzug von Binnenmigrantinnen und -migranten der Altersgruppe 18 bis unter 30 Jahre nur vorübergehend von der Pandemie negativ beeinflusst waren, ist eine Rückkehr zu Typ 1 wahrscheinlich. Bleibt der Wanderungssaldo jedoch negativ, weil die Abwanderung junger Paare und Familien ins Umland die internationale Zuwanderung übersteigt, könnten einige der Großstädte im „schlimmsten Fall“ zu Typ 5 oder sogar zu Typ 6 übergehen – zumindest dann, wenn durch die selektive Abwanderung potenzieller (oder tatsächlicher) Eltern die „junge“ Bevölkerungsstruktur und damit die Grundlage für natürliche Zuwächse erodiert.

Fazit

Migrationsbewegungen prägen die regionalen demographischen Entwicklungen in Deutschland. Nachdem jahrelang die Wanderungen von Ost- nach Westdeutschland im Fokus standen, hat sich dieses Bild in den vergangenen Jahren gewandelt. Kleinräumige Wanderungen, Suburbanisierung, und die internationale Migration sind zu den bestimmenden Faktoren der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland geworden. Ländliche Kreise wachsen zunehmend, urbane Zentren kämpfen zumindest mit innerdeutscher Abwanderung . Um die regionalen demografischen Entwicklungen langfristig zu verstehen, müssen daher sowohl die Binnenwanderungen als auch ihre Verflechtungen und Wechselwirkungen mit der internationalen Migration und der natürlichen Bevölkerungsentwicklung im Blick behalten werden. Jenseits absoluter Einwohnerzahlen stellt die Selektivität der Migration als besonders variable Treibkraft der Bevölkerungsentwicklung die Weichen für künftige Entwicklungen (z. B. Überalterung oder Reproduktionspotenzial), auf die mit Anpassung in der Bereitstellung von Wohnraum sowie von sozialer und technischer Infrastruktur (z. B. Schulen, Wasserversorgung, öffentlicher Verkehr) reagiert werden muss. Die dazu erforderlichen detaillierten Daten des Wanderungsgeschehens stellt das Statistische Bundesamt seit dem Berichtsjahr 2018 leider nicht mehr zur Verfügung. Eine Rückkehr zur vorherigen Bereitstellungspraxis würde das Verständnis für demographische Entwicklungen, gerade auch während der Corona-Pandemie, deutlich verbessern und den zielgerichteten Einsatz von Infrastrukturinvestitionen unterstützen.

Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Destatis (2023a); (2023b).

  2. Woellert et al. (2022).

  3. Eigene Berechnungen; Datenquelle: Destatis (2023g).

  4. Eigene Berechnungen; Datenquelle: Destatis (2023g).

  5. Craveiro et al. (2019).

  6. King & Okólski (2019).

  7. Bundeszentrale für politische Bildung (2023).

  8. Glorius & Nienaber (2022).

  9. Heider et al. (2020).

  10. Lehmann & Nagl (2019).

  11. Eigene Berechnungen; Datenquelle: Destatis (2023f).

  12. Eigene Berechnungen; Datenquelle: Destatis (2023f).

  13. Glorius & Nienaber (2022).

  14. Glorius & Nienaber (2022: 155).

  15. Leibert (2021b).

  16. Leibert (2021a).

  17. Hölzel & Milbert (2023).

  18. Stawarz & Sander (2019).

  19. Stawarz & Sander (2019).

  20. Stawarz et al. (2020).

  21. Stawarz et al. (2020).

  22. Rosenbaum-Feldbrügge et al. (2022).

  23. Statistisches Landesamt Baden-Wuerttemberg (2023).

  24. Osterhage & Kaup (2012).

  25. Stawarz et al. (2020).

  26. Wolf et al. (2022).

  27. Für ähnliche Analysen für frühere Zeiträume (2011-2013 und 2014-2016) unter Verwendung desselben Ansatzes siehe Leibert (2019).

  28. Zahl der Sterbefälle pro 1.000 Einwohner.

  29. Leibert (2019).

  30. Wolff et al. (2022).

  31. Stawarz et al. (2020).

  32. Wolff et al. (2022).

  33. Siehe Leibert (2019).

  34. Siehe auch Leibert (2019) für frühere Zeiträume.

  35. Leibert (2019).

  36. Stawarz et al. (2020).

  37. Leibert (2020); Leibert & Friedrich (2023).

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Weitere Inhalte

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe „Mobilitäten und Migration“ am Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL) in Leipzig. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Regionalentwicklung, Urbanisierung, Migration und demografischer Wandel.

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe „Mobilitäten und Migration“ am Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL) in Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Stadt-Land-Migration, Regionalentwicklung und Klein- und Mittelstädte.

Dr. Tim Leibert ist stellvertretender Koordinator der Forschungsgruppe „Mobilitäten und Migration“ am Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL) in Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind demografischer Wandel, Regionalentwicklung und Migration.