MENSCHENRECHTE - Was darfst du?
Menschenrechte hab‘ ich, klar. Aber was heißt das jetzt genau für die einzelne Person? All das findet Ihr in der neuen Folge Abdelkratie heraus.
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Im Zuge der Globalisierung wächst nicht nur das weltweite Geflecht aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Kommunikation, sondern zugleich auch die Aufmerksamkeit für menschliches Leiden. Kommt es irgendwo auf dieser Welt zu massiven politischen Ungerechtigkeiten, zu inhumaner Unterdrückung, kriegsbedingter Vertreibung oder gar zu barbarischen regierungsamtlichen Verbrechen, so wird heute die Parole laut: "Alle haben Menschenrechte!". Diese Parole reklamiert grundlegende Ansprüche jedes einzelnen Menschen, die wir alle – bloß weil wir Menschen sind – paradoxerweise auch dann haben sollen, wenn uns der Staat, in dem wir leben, diese Rechte gerade nicht zugesteht. Was aber für "Rechte" sollen das sein? Was genau heißt hier "haben"? Und sind mit "alle" tatsächlich alle gemeint? Wie immer vertraut diese feierlich klingende Parole auch sein mag: Sehr viel mehr könnte an ihr gar nicht unklar sein.
Was sind Menschenrechte?
Wer heute von Menschenrechten spricht, meint fundamentale Rechtsansprüche "des" Menschen im Singular, die für jedes einzelne Menschenleben maßgeblich sein sollen und die uns in politischen Deklarationen, nationalstaatlichen Verfassungen und internationalen Verträgen als "natürlich", "angeboren" oder "unverlierbar" zuerkannt werden. Das wohl symbolträchtigste Dokument ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die von den Vereinten Nationen (UN) im Jahr 1948 und in Reaktion auf die Gräueltaten der beiden Weltkriege und des europäischen Totalitarismus verabschiedet worden ist. Diese Erklärung fordert den Schutz sämtlicher Menschen weltweit vor staatlicher Willkürherrschaft und politischer Inhumanität und schreibt konkrete Garantien grundlegender Freiheiten, politischer Teilhabe und sozialer Sicherheit fest. Seither fungieren die Menschenrechte weltweit, das heißt über alle nationalstaatlichen, kulturellen und auch religiösen Grenzen hinweg, als politische Mindeststandards legitimer Herrschaft.
Das in der Folgezeit auf UN-Ebene institutionalisierte Schutzsystem mag bis heute unzureichend ausgestaltet sein, worüber regelmäßig etwa die Berichte bedeutender NGOs, wie Amnesty International oder Human Rights Watch, Auskunft geben. Selbst ein menschenrechtlich als fortschrittlich geltendes Land wie Deutschland gerät hier immer wieder in die Kritik; etwa in Bezug auf Polizeigewalt, mangelnden Flüchtlingsschutz oder unzureichende Sozial- und Bildungsstandards. Dennoch oder gerade deshalb liegt der globale Sinn der Menschenrechte darin begründet, all denen, die jeweils "vor Ort" politische Gewalt ausüben, in grundlegenden Hinsichten vorschreiben zu wollen, wie jene, die dieser Gewalt unterworfen sind, regiert werden sollen und vor allem: wie nicht.
Wer sind alle?
Mit den Menschenrechten ist rhetorisch oft die Behauptung verknüpft, sie seien "universell" gültig. Damit ist vor allem gemeint, dass schlicht niemand, der oder die ein Mensch ist, aus dem menschenrechtlichen Adressatenkreis ausgeschlossen werden darf. Selbstredend ist und bleibt dies auf inhumane Weise möglich, ja, lange Zeit war es geradezu selbstverständlich, eben nicht schon alle menschlichen Wesen sogleich auch schon als Menschen "im vollen Sinne" zu achten. Vielmehr musste (und muss) sich der Gedanke einer fundamentalen Rechtsgleichheit aller Menschen historisch und politisch erst noch durchsetzen. Man denke hier etwa an die Anti-Sklavereibewegung, an Kämpfe der Arbeiterbewegung oder der Frauenbewegung, an den politischen Einsatz für die Rechte von Behinderten, von Kindern oder von Menschen jenseits heterosexueller Geschlechterzuschreibungen. Momentan sind es vor allem hitzige Debatten um Flucht und Vertreibung, die den globalen Anspruch der Menschenrechte immer deutlicher werden lassen, aber eben auch unentwegt in Frage stellen: Sie wollen Rechte wahrhaft aller Menschen und nicht nur exklusive Rechte einheimischer oder europäischer, besitzender und freier, männlicher oder erwachsener Menschen sein.
Wer daher auf die Menschenrechte setzt, wird nicht zugleich ganz bestimmten Mitgliedern der Menschheitsfamilie abweichende oder überhaupt gar keine Menschenrechte zuschreiben können. Selbstredend ist auch das weiterhin möglich: Man kann sehr wohl auf fundamental diskriminierende Weise einer unterschiedlichen Wertigkeit verschiedener Menschengruppen das Wort reden. Nur steht man dann eben nicht länger auf dem Boden der Menschenrechte. Ob Männer, Frauen, Angehörige eines drittens Geschlechts, ob Kinder, Schwerstbehinderte, Pflegebedürftige, ob Reiche, Arme, Einheimische, Eingewanderte, Asylsuchende, Gläubige, Ungläubige: Sie alle gehören dazu! Ja, und sogar diejenigen, die, wie etwa Extremisten, Terroristen oder Schwerverbrecher, die Werte zivilisierten Miteinanders ihrerseits mit Füßen treten.
Menschenrechte, Grundrechte, Bürgerrechte
Die oft etwas schwammig wirkende Behauptung, dass "alle" Menschenrechte haben, kann im Rahmen moderner Rechtsstaaten eine jeweils andere Bedeutung annehmen. Sobald ein jeweils konkreter Staat beschließt, seinen Bürgerinnen und Bürgern diese Rechte ausdrücklich per Verfassung zu garantieren, werden daraus "Grundrechte". Diese findet man beispielsweise in den Artikeln 1-19 des Grundgesetzes; zum Beispiel das Recht auf Schutz der Menschenwürde (Art. 1), auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2), Religionsfreiheit (Art. 4), Versammlungsfreiheit (Art. 8), Briefgeheimnis (Art. 9) oder politisches Asyl (Art. 16). Abgesehen davon, dass mit dieser Festschreibung der Menschenrechte ein bedingt "unveränderliches" Element in die Verfassung einwandert, das fortan weitgehend der politischen Entscheidungsgewalt entzogen bleibt und damit die Demokratie selbst in Schranken weist: Im Moment ihrer verfassungsrechtlichen Festschreibung verwandeln sich die vormals universell gedachten Menschenrechte. Denn die Geltung von Grundrechten ist fortan auf den Hoheitsbereich desjenigen Verfassungsstaates beschränkt, der einem diese Rechte ausdrücklich und einklagbar – zum Beispiel vor einem Verfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – garantiert.
Manche dieser Grundrechte, genannt "Bürgerrechte", sind sogar ausdrücklich den Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern des betreffenden Landes vorbehalten. Im Grundgesetz betrifft das beispielsweise das Recht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8), das Recht auf Bewegungsfreiheit (Art. 11), das Recht auf freie Berufswahl (Art. 12) oder auch das Wahlrecht (Art. 38). Diese exklusiven Bürgerrechte gelten damit nicht schon, wie die übrigen Grundrechte, auch für durchreisende, migrierte, asylsuchende oder geflüchtete Menschen. Damit ist ein schwerwiegendes Problem markiert: Es gehört zur Idee universeller Menschenrechte, dass diese mit der Forderung einhergehen, zu einklagbaren Grundrechten zu werden. Doch in der Gestalt verfassungsrechtlich festgeschriebener Grund- und Bürgerrechte sind sie dann bloß noch für diejenigen gültig, die bereits im Geltungsbereich der gemeinsamen Verfassung leben. Und das sind vor allem – wenn auch nicht nur – die Bürgerinnen und Bürger des jeweiligen Staates.
Die internationale Dimension
Mit der verfassungsrechtlich fixierten Unterscheidung zwischen "allen Menschen weltweit", "allen Menschen hierzulande" und "allen Bürgerinnen und Bürgern" wird der Universalitätsanspruch der Menschenrechte problematisch eingeschränkt. Nicht nur in der Debatte um Flucht und Vertreibung mutet ein vermeintliches "Recht" der politischen Gemeinschaft, am Ende selbst darüber entscheiden zu dürfen, wem Menschenrechte zuerkannt werden und wem nicht, zutiefst widersprüchlich an. Die besagte Spannung würde sich vermutlich erst dann auflösen, wenn alle Staaten dieser Welt in einem gemeinsamen "Weltstaat" aufgingen, der die Menschenrechte dann auch bis in den hintersten Winkel der Welt hinein durchzusetzen vermochte. Weil aber die Aussicht auf einen solchen Weltstaat unrealistisch anmutet, sind die bestehenden Staaten auf die Notwendigkeit internationaler Abkommen zum Schutz der Menschenrechte zurückverwiesen; zum Beispiel im Rahmen des Europarates oder eben der UN.
Während es nach 1948 lange Zeit so aussah, als sei der globale "Siegeszug" der Menschenrechte kaum mehr aufzuhalten, wirkt aktuell der politische Befund mehr als befremdlich, dass die Menschenrechte längst auch wieder unter autoritären Druck geraten sind. Die Krisen der kapitalistischen Weltwirtschaft, die innen- und außenpolitischen Verunsicherungen in der Folge des 11. Septembers 2001, die Widersprüchlichkeit und Aussichtslosigkeit militärischer Interventionen direkt im Namen der Menschenrechte oder auch das Wiedererstarken von Nationalismus und Protektionismus selbst in "Mutterländern" der Demokratie: Diese Krisen beweisen, dass uns die Menschenrechte keineswegs fraglos gegeben sind, sie mussten und müssen stets aufs Neue gegen politische Willkürherrschaft und autoritäre Widerstände erkämpft werden. Und sie können erneut alten und neuen Ideologien nationalistischer Selbstbehauptung zum Opfer fallen, falls sie dem "kollektiven" Anliegen dieser Selbstbehauptung im Wege stehen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn in Katar demnächst eine pompöse Fußball-WM stattfinden soll, so kommt es auf das Leben eines einzelnen Bauarbeiters wahrlich nicht an, oder doch?
Es ist ein kaum zu unterschätzender, wenn auch immer nur vorläufiger Fortschritt gewesen, dass die in den UN zusammenrückende Menschheit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg damit begonnen hat, einen Katalog völkerrechtlicher Vereinbarungen zum Schutz der Menschenrechte anzulegen und institutionell umzusetzen, der inzwischen etwa 20 maßgebliche Übereinkommen umfasst. Dieses internationale Schutzregime soll nationalstaatlicher Herrschaft legitime Grenzen setzen. Sobald sich ein Staat diesen Verträgen anschließt, übernimmt er damit die Verpflichtung, jeweils in seinem Innern für menschenwürdige Lebensverhältnisse zu sorgen. Er verpflichtet sich zudem, und zwar nach außen hin, mit der internationalen Staatengemeinschaft zu kooperieren, falls es in anderen Ländern zu massiven Menschenrechtsverletzungen kommt.
Die realistische Utopie
Angesichts der heute immer häufiger bemängelten Ohnmacht der UN, etwa angesichts von Bürgerkriegen, Flucht, globaler Umweltzerstörung oder gravierender Armut, stellt sich nicht selten die kritische Frage: Wem genau "nützen" die Menschenrechte, von denen es ja heißt, man habe sie – gedacht – auch dann, wenn man sie – faktisch – nicht hat. Wenn es etwa der Polizei eines Landes oder den Geheimdiensten nicht verboten ist, willkürlich Gewalt auszuüben, wenn es in einem anderen autoritären Land keine Religionsfreiheit gibt, wenn ein regierungsamtlicher Schießbefehl das Recht auf Leben antastet, wenn Flüchtlinge an der EU-Außengrenze abgewiesen oder sogar gequält werden: Wer hilft diesen Menschen, wenn sie, wie die Philosophin Hannah Arendt einmal gesagt hat, nicht einmal das grundlegende "Recht, Rechte zu haben" genießen? Und selbst wenn eine nationale Verfassung bereits Grundrechte vorsieht: Wem nützen diese Rechte, wenn sich der Staat oder auch die EU nicht einmal selbst an die eigenen rechtlichen Verpflichtungen gebunden fühlt? Man erinnere sich hier auch an die DDR, die heute als "Unrechtsstaat" tituliert wird, gerade weil sie die Menschenrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger oft mit Füßen trat, obwohl die geltende DDR-Verfassung sehr wohl eine ausführliche Liste von Menschenrechten vorsah.
Selbst das ansonsten oft zu Recht gepriesene Grundgesetz muss sich diesbezüglich einen Vorwurf gefallen lassen: Der darin formulierte Grundrechtekatalog sieht beispielsweise nicht, wie etwa die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, auch soziale und wirtschaftliche Menschenrechte vor; das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard etwa, auf Wohnen, Bildung, Gesundheit oder Arbeit. Ob diese sozialen Rechte, zumindest teilweise, über Art. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1 nachträglich "konstruiert" werden können, ist Gegenstand aktueller Diskussionen und auch Verfassungsgerichtsurteile. Aber sie stehen eben nicht schon ausdrücklich drin. Dies sorgt im Rahmen sozialstaatlicher Debatten, z. B. um Hartz IV-Sanktionen oder horrend steigende Mieten, immer wieder für Verwirrung und elementare Rechtsunsicherheit. In diesen Momenten wird einmal mehr deutlich: Die Debatte um Menschenrechte wird stets inmitten eines komplexen Geflechts aus philosophischen Ideen, humanitären Forderungen, politischen Kämpfen, juristischen Bedenken und ökonomischen Sachzwängen geführt, die deren nationale und globale Verwirklichung bis auf weiteres utopisch anmuten lassen. Dennoch handelt es sich um eine "realistische" Utopie, und zwar in dem Sinn, dass ihre Verwirklichung im Rahmen demokratisierter Rechtsstaaten, eingebunden in eine nicht länger ohnmächtige internationale Staatengemeinschaft, möglich wäre. Die Welt müsste sich lediglich dazu entscheiden, diese Realisierung auch zu wollen.
ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Er lehrt und forscht im Bereich der Praktischen Philosophie, vor allem auf den Gebieten der Ethik und Moralphilosophie, der Sozialphilosophie und der Politischen Philosophie, schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde und ist u. a. Mitherausgeber der Zeitschrift für Menschenrechte sowie des Online-Magazins slippery-slopes.