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Mediale Darstellung als Methode der Reintegration? Ein Essay über Aussteiger:innen aus dem Rechtsextremismus als Quellen für Journalismus

Andrea Röpke

/ 13 Minuten zu lesen

Bundesweit haben Redaktionen an Aussteiger:innen der extrem rechten Szene großes Interesse. Jedoch ist der mediale Umgang mit ehemaligen Mitgliedern der extrem rechten Szene nicht unproblematisch.

Der mediale Umgang mit ehemaligen Mitgliedern der extrem rechten Szene kann durchaus problematisch sein. Beispielsweise wenn sie unkommentiert Behauptungen aufstellen können und ihre politische Verantwortung oder ihr Verhalten nach Belieben zurecht rücken können. (© Adobe Stock/LIGHTFIELD STUDIOS)

Bundesweit haben Redaktionen an Aussteiger:innen der extrem rechten Szene großes Interesse. Denn Letztere laden faktenorientierte TV-Dokumentationen mit Emotionen auf und treiben die Einschaltquoten nach oben. Zudem sind Aussteiger:innen-Bücher regelrechte Verkaufsschlager: „Franziska Schreiber: Inside AfD“, „Maximilian Kelm – Aussteiger. Ein Ex-Neonazi packt aus“ oder „Johannes Kneifel – Vom Saulus zum Paulus“ sind nur einige aus der großen Fülle an Lebensbeichten von ehemals Aktiven. „Die Tageszeitung“ (taz) sprach bereits 2005 im Zusammenhang mit der Vermarktung von einer boomenden „Aussteiger-Industrie“ (Lee 2005). Ehemalige Rechtsextreme zeigen medienwirksam eigene Schuld, Schwäche und Läuterung. Blood and Crime fehlen dabei meist auch nicht. Talkshows und Hintergrundberichte erzielen daher größeres Interesse, sobald politisch Geläuterte auf der Bühne stehen.

Die Gefahren unreflektierter Medienarbeit

Dabei ist der mediale Umgang mit ehemaligen Mitgliedern der extrem rechten Szene durchaus problematisch. Die im Januar 2024 ausgestrahlte 90-minütige öffentlich-rechtliche Dokumentation „Wir waren in der AfD – Die Aussteiger“ (MDR 2024) verdeutlicht den Reiz, den „Insider-Berichte“ für Redaktionen und Publikum ausmachen: Über 1,3 Millionen Zuschauer:innen schalteten laut dem Medienmagazin DWDL noch zu später Stunde ein. Deutlich wurde darin aber, dass es Risiken birgt, ehemalige Politprofis der AfD unkommentiert Behauptungen aufstellen zu lassen. Sechs enttäuschte AfD-Politiker:innen rücken politische Verantwortung und Verhalten nach Belieben zurecht. Die Darstellung der eigenen Rolle entfernt sich von der Realität. Bei dem bekanntesten Protagonisten der Reportage handelt es sich um den langjährigen Parteivorsitzenden Jörg Meuthen, der seit 2013 den Aufbau der antidemokratischen Politik der AfD mitverantwortete, davon aber kaum etwas wissen will: Der Volkswirtschaftsprofessor blendet aus, den thüringischen Landesvorsitzenden Björn Höcke aktiv beim Aufbau der innerparteilichen völkischen Strömung „Der Flügel“ unterstützt zu haben. Gemeinsam mit dem damaligen brandenburgischen AfD-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland nahm er 2016 am Kyffhäuser-Treffen des „Flügel“ teil, Initiator und Starredner war Höcke. Meuthen, der bis zu seinem Parteiausstieg 2022 darum bemüht war, die AfD als neoliberale Professorenpartei darzustellen, nutzte auch schon mal selbst rassistische Sprache, so wie 2017 im baden-württembergischen Nagold. Laut „Schwarzwälder Bote“ nahm er dort vor dem Parteivolk kein Blatt vor den Mund, keilte gegen die damalige Kanzlerin Angela Merkel, die Deutschland zum „Refugee-Importweltmeister“ gemacht habe und so für einen angeblichen „Bevölkerungsaustausch“ verantwortlich sei – eine Verschwörungsmär (vgl. Buckenmaier 2017). Nagold war keine Ausnahme. Politikwissenschaftler Wolfgang Schröder warnte im Interview mit der Tagesschau am 1. Februar 2022 niemand habe „so präzise, so beeindruckend die Selbstverharmlosung dieser Partei im öffentlichen Raum betrieben“ wie Jörg Meuthen. Mit einem lapidar hingeworfenen Satz rechtfertigt er seinen Auftritt in der MDR-Dokumentation: „Ich bin ausgetreten, weil es nicht mehr ging.“ Spätestens bei Meuthens populistischen Aussagen zur politischen Verantwortlichkeit fehlt jegliche journalistische Intervention. Jörg Meuthen suggeriert: „Da, wo ich mich bewegte, da spielte Höcke keine Rolle.“ Diese Aussage kann in vielerlei Hinsicht hinterfragt werden. Meuthen bedient damit den Eindruck, er habe mit verfassungsfeindlichem Personal und dieser Politik nichts zu tun.

Vor der Partei scheint nach der Partei. Heute wie gestern ist Meuthen ein gern gesehener Interviewpartner, dem weiterhin medial die Chance gegeben wird, sich als politisch gemäßigt darzustellen. Eine seiner problematischen Aussagen in der „Aussteiger“-Reportage des MDR: „Dass die AfD heute eine rechtsextreme Partei ist, liegt daran, dass sie sehr früh von den Medien als rechtsextrem bezeichnet wurde.“ Denn die Medien hätten versucht, so Meuthen, „die Partei in eine rechte Ecke zu ziehen“. Damit werden „die Medien“ für die Entwicklungen der Partei verantwortlich gemacht – und solche Schuldverschiebungen werden unkommentiert ausgestrahlt. Manch Zuschauende werden sich fragen: Präsentiert der MDR hier einen politischen AfD-Aussteiger oder doch eher ungefiltert ein aktives Sprachrohr rechter Ideologie?

Ist ein Ausstieg glaubhaft oder nicht?

„Die öffentliche Ankündigung eines Ausstiegs allein ist kein Beleg für eine nachhaltig vollzogene Loslösung aus den ideologischen und organisatorischen Kontexten extrem rechter Milieus“, warnt David Begrich, langjähriger Mitarbeiter des Beratungsnetzwerks „Miteinander e. V.“ im Gespräch. An Glaubwürdigkeit gewinne ein Ausstieg, erklärt Begrich mir, wenn die Abkehr dadurch belegt wird, dass innere Logiken, Netzwerke, Funktionsmechanismen und ideologische Kontexte des Engagements konkret und nachvollziehbar offengelegt werden. Aussteiger:innen wie Interner Link: Ingo Hasselbach (heute: Klier) oder Interner Link: Heidi Benneckenstein sind schonungslos mit sich und ihrer Vergangenheit ins Gericht gegangen. Sie waren bereit, sich stundenlang journalistischen Nachfragen zu stellen. Somit zählen sie zu denjenigen, die einen wertvollen Beitrag zur Aufklärung über eine Szene leisten, die sich professionalisiert hat und immer gefährlicher wird.

Viele, die sich aus einer extrem rechten politischen Lebenswelt zurückziehen, erledigen das unauffällig und stillschweigend. Diejenigen, die reden wollen, wenden sich normalerweise an zumeist halbstaatliche Organisationen, die spezialisiert sind zu helfen. Einige suchen auch die Behörden für Verfassungsschutz auf. Autoritätshörigkeit und Hierarchieglaube lassen diesen Gang oft leichter fallen als die Bereitschaft zu einem journalistischen Hintergrundgespräch. Denn Reden mit der „Lügenpresse“ bedeutet im streng rechten Weltbild „Verrat“. Bereits 2006 hieß es dazu in der der Szene-Zeitung „Volk in Bewegung“, die heute vom Chef der Thüringer „Die Heimat“ (vormals NPD) Thorsten Heise verbreitet wird: „Die Hetzjournalisten der liberalen Presse mit ihrer tendenziösen ‚Berichterstattung‘ stehen gegen die Lebensinteressen des deutschen Volkes und für die globalen Interessen der Fremdbestimmung. Sie stehen geistig im Lager des Todfeindes.“ Diese Doktrin wird beibehalten.

Die besonders Gefährdeten – auf beiden Seiten

Aber es gibt auch die Aussteigenden, die wiedergutmachen wollen. Jene, die große Risiken eingehen, sich und auch ihr Umfeld dabei sogar in Gefahr bringen, weil sie offen und ehrlich handeln. Ihre Namen bleiben oft über den Tod hinaus geheim. Wie der des junges Mannes aus dem norddeutschen Kameradschaftsspektrum, der eifrig belastendes Material und Interna während seines Einsatzes als Wahlkampfhelfer der NPD sammelte und es an Journalst:innen weitergab. Plötzlich war er tot. Seine Familie glaubt bis heute nicht an die Schlussfolgerung der Ermittlungsbehörden, die von einem Selbstmord ausgehen, wie sie mir anvertrauten.

Informant:innenschutz garantiert Anonymität und ist deshalb ein entscheidender Faktor im Alltag von Medienschaffenden. Informant:innen, Whistleblower:innen oder Zeug:innen sind darauf angewiesen, dass Stillschweigen gewahrt wird. Doch in einer digitalisierten Welt ist keine hundertprozentige Sicherheitsgewährleistung möglich. Wer weiß schon, wo Mails landen oder wer in Chats mitliest? Gespräche mit Aussteiger:innen setzen journalistische Verantwortung voraus: Wie gefährde ich weder die Person und deren Umfeld, noch mich und meines? Es braucht aber auch besondere Sicherheitsvorkehrungen, wenn man sich mit jemandem trifft, der sich nicht von Ausstiegshelfer:innen betreuen lässt – denn es könnte sich um eine Falle handeln. Es gab vermeintliche „Aussteiger:innen“, die Kontakt zu mir anboten, aber nicht glaubwürdig erschienen. Tatsächlich sah ich sie wenig später wieder auf der Straße mit den Kameraden. Es war eine Finte. Vorsicht, Skepsis und eine professionelle Distanz sind für Journalist:innen berufsrelevant. Geeignete Vorkehrungen müssen getroffen werden, der Austausch mit Präventionsexpert:innen ist hilfreich. Selbstschutz sollte vor Veröffentlichung stehen.

Der professionelle mediale Umgang mit Aussteiger:innen

Eine demokratische Gesellschaft steht in der Pflicht, Ausstiegswillige zu unterstützen. Die Chance auf eine neue Lebensperspektive darf nicht verbaut werden, es ist ein langer, quälender Prozess. Journalist:innen sind jedoch weder für Public Relation noch für Ausstiegshilfe zuständig. Persönliche Schicksale sollten im Gegenzug nicht schonungslos medial ausgeschlachtet werden. Aussteiger:innen können wertvolle Hilfe für Hintergrundrecherchen leisten. Doch stichhaltige Belege haben erfahrungsgemäß nur wenige gesichert. Oft heißt es dann: „Das habe ich alles vernichtet und hinter mir gelassen.“ Aussteiger:innen, die zum Beispiel mit „Blood & Honour“ oder dem NSU-Terrornetzwerk zu tun gehabt haben wollen, werden durch ihre lange Schweige- und Wartezeit nicht vertrauenswürdiger. Journalist:innen müssen also immer abwägen: Wie glaubhaft sind die Aussagen von jemandem, der oder die den Hass jahrelang mitgeschürt, vielleicht sogar Gewalt verübt hat? Wie mit Menschen umgehen, die als Mutter oder Vater womöglich mitverantwortet haben, dass Kinder in soldatische Lager geschickt wurden? Immer wieder stellt sich auch die Frage: Geht es dem oder der Ansprechpartner:in wirklich um Läuterung oder doch um den Versuch einer persönlichen Abrechnung? Um sich diesen Fragen zu stellen, benötigt es Ausdauer und am besten auch den Erfahrungsaustausch mit erfahrenen Kolleg:innen.

Fachjournalist:innen, die sich über Jahre mit dem heterogenen Thema Rechtsextremismus beschäftigen, haben zumeist eine andere Ausgangssituation. Die extrem rechte Szene kennt die Namen von Rechtsextremismus-Expert:innen und -Fachwissenschaftler:innen, Interviews werden verweigert, die Anfragenden angegangen, bedroht. Dann bleibt nur investigative, verdeckte Recherche, um dem Thema nahezukommen. Das antidemokratische und rassistische Milieu ist jedoch noch gefährlicher geworden, auch weil es so breit aufgestellt ist.

In den 30 Jahren meiner journalistischen Beschäftigung habe ich knapp zwei Dutzend weibliche und männliche Szene-Aussteiger:innen aus unterschiedlichen rechten Spektren kennengelernt. Darunter auch viele, die sich uneigennützig verhalten, sich melden, weil sie möchten, dass Machenschaften ans Tageslicht gelangen. Es ging da zum Beispiel um antisemitische Schulungen für Kinder und Jugendliche oder um Netzwerke von AfD-Politiker:innen. Einige der Whistleblower:innen haben eine besondere Geschichte, die bis heute nicht offen erzählt werden darf. Manchmal gehören sie noch dazu, zu den Rechten. Haben nicht den Mut, alles aufzugeben, wollen aber auch nicht mehr schweigen. Das Gewissen regt sich. Diese Informant:innen sind keine typischen Aussteiger:innen, aber wertvolle Tippgebende für die Aufklärung gegen rechts.

Aufgewachsen in einer völkischen Familie

Es gibt aber auch positive Beispiele: Heidi Benneckenstein hat viel gewagt. Sie ist eine mutige Frau und die langen Gespräche bei Dreharbeiten mit der Aussteigerin stellten sich als außerordentlicher Glücksfall dar. Als Heidrun Redeker war sie in eine völkisch-nationalistische Großfamilie hineingeboren worden, erlebte in der Jugend die politische Sozialisation durch Jugendorganisationen wie die „Heimattreue Deutsche Jugend“ (HDJ). Später engagierte sie sich im Neonazi-Spektrum, wurde zur Täterin. Die junge Frau verliebte sich in Felix Benneckenstein, der als Liedermacher „Flex“ und Gründer einer neonazistischen Kameradschaft neun Jahre lang selbst in Bayern aktiv war und ebenso mit seiner politischen Entwicklung haderte. Gemeinsam stiegen sie aus, fingen neu an, brachen mit der alten Familie, gründeten eine eigene. Die Autorin Christina Balzer analysierte 2020 Benneckensteins Buch „Ein Deutsches Mädchen – Mein Leben in einer Neonazi-Familie“ für die Studie „Biografien (extrem) rechter Aussteiger*innen und ihr Einsatz in pädagogischen Settings“. Balzer kommt dabei zu dem Schluss: „Ihre Aussagen wirken wohlüberlegt in dem, was sie in Interviews und in ihrem Buch preisgibt von ihrem Leben. Außerdem stellt sie dar, dass sie die Wahrheit über ihr Leben erzählen möchte und dazu auch die Dinge gehören, für die sie sich bis heute schämt“ (Balzer 2020, S. 14). Balzer hält Heidi Benneckensteins Ausstieg für „glaubwürdig und reflektiert dargestellt“ (vgl. ebd.).

Die junge Aussteigerin gibt tiefe Einblicke in die intensive, demokratiefeindliche Lebenswelt völkischer „Sippen“ und extrem rechter Bünde. Für die WDR-Dokumentation „Weiblich, sexy, rechtsextrem“ von Caterina Woj interviewten wir sie 2015 und stellten fest, dass sie neun Jahre zuvor als junge Teilnehmerin eines völkischen Zeltlagers an den Externsteinen im Teutoburger Wald teilgenommen hatte, während ich gemeinsam mit drei Kollegen nur wenige Hundert Meter entfernt auf dem Waldboden lag und heimlich filmte. An einem der Zelte hing ein Schild mit der Aufschrift „Führerbunker“. Soldatischer Drill, Opferbereitschaft und Anpassung wurden von den Kindern und Jugendlichen des Lagers gefordert. Heidi ergänzte, was unsere schwierigen Recherchen von außen ergeben hatten. Sie half Lücken hinsichtlich des Themas „Rechte Kindererziehung“ zu schließen. Wenn es stimmt, dass erst eine radikale Revision der eigenen Biografie einen Neuanfang ermöglicht, dann haben Heidi und Felix Benneckenstein es geschafft.

Verantwortung als Täter:innen

Tanja Privenau stieg bereits 2005 aus. Die ehemalige norddeutsche Neonazistin hatte mehr als die Hälfte ihres Lebens in der Szene verbracht. Ihre Kinder mussten teilweise unfreiwillig ebenfalls an extrem rechten Jugendlagern teilnehmen, die Tochter zerbrach daran. Tanja Privenau selbst war bei der paramilitärischen „Wiking-Jugend“, der verbotenen „Freiheitlich Deutschen Arbeiterpartei“ (FAP) und bei den Freien Nationalisten aktiv. Ihre Tochter war sieben Jahre alt, als sie mit ihrem ein Jahr älteren Bruder zum ersten Mal in ein Zeltlager der HDJ fuhr. Als die Mutter sie fünf Tage später wieder abholte, weinte das Kind: „Mama, da will ich nie wieder hin.“ Die Tochter berichtete von Morgenappellen, Antreten in Reih und Glied und den strengen und zackigen Tönen der Betreuer, berichtete Privenau. Wer aus der Reihe tanzte, musste zusätzliche Liegestütze machen. „Der ganze Tag war durchgeplant, Freizeit gibt es nicht“, erzählte die Mutter (Röpke 2007, S. 48). Sie erinnerte sich an die Schilderungen ihrer Kinder aus dem Zeltlager, die auch von Schikanen untereinander berichteten. Besonders auf den ältesten Privenau-Sohn hätten es die extrem rechten Betreuer damals abgesehen, denn der Junge hat eine geistige Behinderung. Die Tochter berichtete von bösartigen Hänseleien. Der Mutter empfahlen Kameraden, den Jungen „bloß nie wieder mitzubringen“. Zu besonders empfindlichen Themen im Bereich des Rechtsextremismus gibt es kaum Primärquellen, wozu der Umgang mit Menschen mit Behinderung, häusliche Gewalt oder Homophobie gehören. Hier sind Hintergrundgespräche wie das mit Privenau schockierend, aber aufschlussreich. Für das Buch „Mädelsache – Frauen in der Neonazi-Szene“ (Röpke/Speit 2011) gelangen uns nur wenige, aber sehr intensive Gespräche mit Aussteigerinnen. Frauen, die zuvor nicht weniger fanatisch als die Männer gewesen waren, berichteten von Gewalt, Unterdrückung und Sexismus. Eine Aussteigerin aus Thüringen erzählte glaubhaft, dass junge Mädchen quasi von einem zum nächsten Mann „durchgereicht“ worden seien. Eine rechte „Straßenkämpferin“ aus den Reihen der „Autonomen Nationalisten“ berichtete, auch sie sei irgendwann von den männlichen Kameraden an ihre vermeintlich „biologische Verpflichtung“ als Frau und Mutter erinnert worden (vgl. Röpke/Speit 2009, S. 15).

Selbstinszenierung statt echter Reue

Nicht mit jedem sogenannten Aussteiger muss gesprochen werden. Der ehemalige langjährige Bundesvorsitzende der neonazistischen NPD (heute „Die Heimat“) ist solch ein Fall. Über Holger Apfels sexuellen Übergriff im Wahlkampf hatte ich 2014 für das Fachportal „Endstation Rechts“ den Artikel „Unterwürfige NPD-Frauen“ (Röpke 2014) verfasst. Bis dahin war Apfels Rückzug vom Parteivorsitz 2013 als „Burn-out“ verkauft worden. NPD-Kameradinnen, die das Tabuthema damals intern ansprachen, wurden rüde zurechtgewiesen. Ich hatte davon Wind bekommen und hakte nach. Apfel schmiss hin und wanderte als Kneipier auf die Urlaubsinsel Mallorca aus. 2017 rechnete er in dem Buch „Irrtum NPD“ mit der Partei und einigen Anführern ab. Das war jedoch kein Anlass für das Gros der Medienwelt, diesem Mann ein Forum zu geben. Apfel übt in seinem Buch auch kaum Selbstkritik, eine ideologische Abkehr ist nicht zu erkennen. Er schreibt selbst auf Seite 13, er sehe „vieles heute differenzierter“, sei jedoch „sicher kein um hundertachtzig Grad gedrehter Mensch“.

Ein Popstar und die öffentliche Deutungshoheit

Xavier Naidoo gelang im April 2022 ein medialer Coup: Zuvor einer von Deutschlands wohl umstrittensten Popstars, der seit 2011 auch mit antisemitischen Äußerungen auf sich aufmerksam machte, sagte sich der gebürtige Mannheimer in einem dreiminütigen Video von der Reichs- und verschwörungsideologischen Szene los. „Servus, Ihr Lieben“, grüßt er in dem Clip auf einer Couch sitzend. Dann erklärt Naidoo, der brutale russische Überfall auf die Ukraine habe ihn tief erschüttert, seine Ehefrau komme von dort. In aller Kürze räumt er Fehler und „viele Irrwege“ ein. Verschwörungserzählungen hätten ihn „geblendet“. Er habe sich „zum Teil instrumentalisieren“ lassen und in einer „Blase“ befunden, so der Sänger. Zuvor hatte es Empörung gegeben, weil Xavier Naidoo einen martialischen Musikclip mit einem Schwergewicht der Rechtsrock-Szene, Hannes Ostendorf, sowie der rechten Bruderschaft „Radikal“ veröffentlicht hatte. Bereits im Dezember 2021 hatte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe geurteilt, Naidoo dürfe als Antisemit bezeichnet werden. 2022 zog er dann also die Reißleine, schlug aber Interviewanfragen zum Beispiel des ZDF nach seiner Distanzierung aus (vgl. bspw. Houmsi et al. 2023). Die Öffentlichkeit reagierte verhalten auf die YouTube-Inszenierung: „Sorge und Ergriffenheit Naidoos scheinen glaubwürdig. Doch mit einem einfachen ‚sorry‘ ist es nicht getan“, betonten die Journalisten Hannes Stepputat und Andreas Speit in der „taz.am wochenende“ (2017, S. 56). Politikwissenschaftler Josef Holnburger vom CeMAS schrieb auf Twitter: „Der von ihm verbreitete Antisemitismus ist nicht mit einem Videostatement weg.“ Medialer Egotrip eines ehemaligen Gangbosses „Hass.Macht.Gewalt“ lautet der Titel der Biografie von Philip Schlaffer, einem ehemaligen Neonazi und Anführer der kriminellen Rockergang „Schwarze Schar“ aus Wismar. Schlaffers Abkehr von der extrem rechten Szene vollzieht sich als medialer Egotrip. Er verdient heute sein Geld mit der eigenen hochbelasteten Vergangenheit. Schlaffers YouTube-Portal hat 134.000 Abonnent:innen, er arbeitet mit Beichten, Schockelementen und eingeblendeten Werbeblocks. Eigenen Angaben zufolge bietet er neben Anti-Gewalt-Trainings auch Präventionsarbeit in Schulen an. Die Mobile Beratung in Nordrhein-Westfalen kritisiert allgemein: „Das Betrachten und Erzählen von persönlichen Geschichten aus der Szene sind keine Bildungsarbeit an sich und authentische Erfahrungen sind keine Qualifikation für politische Bildungsarbeit“ (MBR NRW/NinA NRW o. J., S. 1).

Wie geht es weiter?

„Weißt du einen oder eine Aussteiger:in für unseren Beitrag?“, lautet nach wie vor eine sehr beliebte Nachfrage unter Kolleg:innen. Weiterhin besteht das Risiko, dass sich Sensationseffekte und emotionale Darstellungen vor politische Aufklärung stellen. Insbesondere in Zeiten, in denen ein Rechtsruck in Europa droht, sollte die Offenlegung staatsgefährdender Politik unbedingt im Vordergrund investigativer Arbeit stehen. Nach einer langjährigen Zugehörigkeit zur extrem rechten Szene kann eine Distanzierung niemals nur in wenigen Interviews stattfinden. Nach der Veröffentlichung seiner MDR-Dokumentation „Wir waren in der AfD – Aussteiger berichten“ plädierte Filmemacher Jan Lorenzen im Gespräch mit dem NDR dafür, Kontakte zu extrem rechten Freunden oder Familienmitgliedern nicht völlig abbrechen zu lassen, denn, so Lorenzen: „Wir müssen die Gesprächskanäle offen halten, wir müssen weiterhin die Hand reichen und uns über jeden, der dieser Partei den Rücken kehrt, freuen.“ (Cavert 2024) Gesellschaftlich ist das keine Frage. Doch sind Kameras die richtige Methode für eine Reintegration? Medienschaffende sollten das hinterfragen. Und strategischen Politprofis wie Meuthen ein Forum zu bieten, ist ein Affront gegen diejenigen, die von seiner ehemaligen Partei und deren Umfeld angefeindet und bedroht werden, deren Namen auf rechten Steckbriefen und sogenannten Todeslisten stehen – und die für eine verantwortungsvolle Dosierung von Auftritt und Aussage von Aussteiger:innen plädieren.

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*1965; Dipl.Pol. Freie Journalistin seit den 1990er Jahren. Schwerpunkt Rechtsextremismus. Buchveröffentlichungen u.a. Röpke/Speit: „Völkische Landnahme. Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos“, Berlin, 2019. 2021 erschien die WDR-Doku: „Wenn Rechtsextremisten freie Schulen unterwandern“.