bpb: Der Berliner Stadtteil Kreuzberg wird häufig als ein Problemstadtteil vorgestellt. Was rechtfertigt diese Kennzeichnung, welche Aspekte bleiben in dieser Beschreibung unberücksichtigt?
Doris Nahawandi: Es ist richtig, dass der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg zu den ärmsten Bezirken Berlins gehört und sich daraus diverse Probleme ergeben. Eine hohe Beschäftigungslosenquote, Armut, die Konzentration von bildungsfernen Familien auf bestimmte Quartiere, Perspektivlosigkeit für jüngere und ältere Menschen, insbesondere mit Migrationshintergrund, all diese Phänomene sind in unserem Bezirk anzutreffen. Mit der einseitigen Fokussierung auf diese Probleme wird man jedoch dem Bezirk keineswegs gerecht. Denn dadurch werden all die Facetten, die Friedrichshain-Kreuzberg ausmachen und die den Bezirk weit über die deutschen Grenzen hinaus bekannt gemacht haben, nicht berücksichtigt. Friedrichshain-Kreuzberg ist in vielerlei Hinsicht ein sehr heterogener Bezirk. Hier haben sich ehemalige Hausbesetzerinnen und Hausbesetzer ebenso niedergelassen wie die bürgerliche Mittelschicht. Hier leben arme und reiche Menschen, modern schrille und konservativ religiöse Menschen nebeneinander ihren Alltag, ohne dass damit größere Konflikte verbunden sind. Hier leben Menschen aus über 160 verschiedenen Herkunftsländern mit verschiedenen Muttersprachen, Traditionen, Religionen usw. Darüber hinaus gibt es hier eine breite Kunstszene.
Diese Widersprüchlichkeit und Vielfalt macht den Bezirk lebendig, interessant und birgt jede Menge Potenziale und Ressourcen. Die Anerkennung und Wertschätzung der Unterschiede verbessern die Akzeptanz der verschiedenen Gruppen untereinander ebenso wie sie den Identifikationsgrad der Bewohnerinnen und Bewohner für ihren Bezirk erhöhen. Gerade die jungen Menschen mit Migrationshintergrund, die nicht selten im Bezirk geboren und aufgewachsen sind, sagen mit Stolz, dass sie Kreuzberger und Kreuzbergerinnen sind. Ein gutes Beispiel für die positiven Effekte dieser Identifikation mit dem Stadtteil ist das MyFest, das seit einigen Jahren dazu geführt hat, dass die Krawalle am 1. Mai bis auf kleinere Scharmützel zum Stillstand gebracht werden konnten.
Durch die heterogene Zusammensetzung der Einwohnerinnen und Einwohner und deren positive Identifikation mit dem Bezirk ergeben sich positive Effekte für alle. Es entstehen Potenziale und Innovationen, die auch einen kreativen Umgang mit Problemen ermöglichen. Nicht von ungefähr gründete sich die erste Tauschbörse in Kreuzberg, gibt es zahlreiche Kunstprojekte und Aktionen, die das Verständnis für das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichsten Wurzeln den nachbarschaftlichen Zusammenhalt befördern. Kreuzberger Projekte werden in der Regel bei Wettbewerben immer mit Preisen ausgezeichnet. Jüngstes Beispiel ist die Preisverleihung der Berliner Tulpe für deutsch-türkischen Gemeinsinn der Körber-Stiftung: Alle 3 Preise gingen an Kreuzberger Projekte!
Diese positiven Aspekte außer Acht zu lassen würde den Bemühungen derjenigen, die dazu beitragen, dass unser Bezirk attraktiv, interessant und als Wohnort für viele begehrt ist und bleibt, in keiner Weise gerecht werden. Der Bezirk ist weit mehr ist als ein Problemstadtteil.
bpb: Im Hinblick auf das Zusammenleben in den Städten wird gegenwärtig von einer Desintegration von Teilen der Bevölkerung gesprochen und vor einer Spaltung der Städte gewarnt. Welchen Anteil haben Veränderungen in der Sozialstruktur an diesem Prozess, welche Bedeutung kommt unterschiedlichen ethnischen Zugehörigkeiten und kulturellen Differenzen zu?
Doris Nahawandi: Vorab: Ich habe ein Problem mit dem Begriff Desintegration, da mir, genauso wie beim Begriff Integration, unklar ist, was konkret darunter verstanden wird. Es ist jedoch sicherlich richtig, dass Veränderungen in der Sozialstruktur, die Verarmung von breiten Bevölkerungsschichten, zu einer Spaltung zwischen armen und reichen Bevölkerungsschichten führt. Diejenigen, die die Ressourcen haben wegzuziehen, nutzen dieses Privileg. Zurück bleiben diejenigen, die sich das nicht leisten können. Diese Entwicklung ist seit einigen Jahren bei Familien, deren Kinder schulpflichtig werden, festzustellen. Hintergrund ist die Einschätzung der Eltern, dass ihre Kinder in anderen Bezirken eine bessere Schulsituation haben werden. Dieses Phänomen ist allerdings kein ethnienspezifisches! Denn es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass insbesondere Menschen türkischer Herkunft, die der Mittelschicht zuzurechnen sind, den Bezirk aus dem gleichen Motiv verlassen haben.
Gesellschaft und Politik machen es sich also zu einfach, wenn sie diese schichtspezifische Problematik auf ethnische Herkunft und Kultur reduzieren. Betrachtet man die Entwicklung genauer, dann wird schnell deutlich, dass das sogenannte Prekariat unabhängig von der ethnischen Herkunft von Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit betroffen ist. Die ehemals als Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen Angeworbenen und deren Familien müssen damit genauso wie diejenigen deutscher Herkunft, die über keine bzw. geringe Qualifikationen verfügen, zurechtkommen.
Dass die Arbeitslosenquote bei Menschen türkischer Herkunft extrem hoch ist, erklärt die Geschichte des Einwanderungsbezirks. Die hohe Ansiedlungsdichte dieses Personenkreises in Kreuzberg war in Vorwendezeiten dem billigen, unsanierten Wohnraum geschuldet. Die Konzentration von gering qualifizierten Arbeiterinnen und Arbeitern türkischer Herkunft ist also u. a. durch Marktmechanismen erklärbar. Aus dieser historisch bedingten Entwicklung nun aber den Schluss zu ziehen, dass ethnische Zugehörigkeit und kulturelle Differenz eine Spaltung des Bezirks verursachen könnten, wird weder den Problemen des Bezirks noch den Menschen, die mit Arbeits- und Perspektivlosigkeit konfrontiert sind, gerecht. Im Gegenteil, der Reflex der deutschen Mehrheitsgesellschaft, diejenigen, die andere ethnische Wurzeln haben, auf Grund ihrer ethnischen und kulturellen Herkunft für die gesamtgesellschaftlichen Negativentwicklungen verantwortlich zu machen, birgt die große Gefahr, dass sich ethnische Minderheiten, die sich ihrer Machtlosigkeit und ihrer nicht- gleichberechtigten Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen durchaus bewusst sind, zurückziehen und sich ihrem Schicksal ergeben.
bpb: Welche integrativen Maßnahmen, Konzepte oder Strategien bewerten Sie als erfolgversprechend?
Doris Nahawandi: Zunächst einmal sind für mich alle Konzepte und Strategien erfolgversprechend, die sich an den realen Problemen orientieren und nicht an Problemzuschreibungen an bestimmte Gruppen. Es wäre beispielsweise der falsche Ansatz, die junge Muslima mit Kopftuch dafür verantwortlich zu machen, dass sie keinen Ausbildungsplatz findet! Denn das Problem liegt meines Erachtens in der Diskriminierung seitens der Arbeitgebenden gegenüber den jungen Frauen, die sich entschieden haben, ein Kopftuch zu tragen, und gleichzeitig in der Regel über gute bis sehr gute Schulabschlüsse verfügen. Nach ähnlichem Muster werden nach wie vor insbesondere die Schülerinnen und Schüler türkischer und arabischer Herkunft und deren Eltern für schlechte schulische Leistungen verantwortlich gemacht. Die Frage aber, ob und inwieweit das bestehende Schulsystem die schlechten schulischen Leistungen von Kindern ohne deutsche Muttersprache beeinflusst, wird in der Regel gar nicht gestellt. Solange man jedoch den Betroffenen die Schuld für ihre Situation gibt, wird sich an deren Lage nichts ändern.
Darüber hinaus müssen zur Vermeidung von Desintegration und Spaltung inklusive Strategien entwickelt werden, die Faktoren der sozialen Ausgrenzung zu Grunde legen. Nicht die ethnische Herkunft, sondern Faktoren wie Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und die Wohnsituation müssen in den Blick genommen werden. Erst ein Ende des Lamentos über die Probleme, die Menschen mit Migrationshintergrund verursachen würden, und eine Abkehr von einer ethnienspezifischen Betrachtung hin zu einer herkunftsneutralen Analyse und Debatte über die Mechanismen sozialer Ausgrenzung könnte dazu führen, dass erfolgversprechende konkrete Lösungsansätze entwickelt werden. Erst wenn sich die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft, die in der Regel deutscher Herkunft sind, ihrer eigenen Ausgrenzungsmechanismen, ihrer Klischees und Vorurteile bewusst werden und die Gesellschaft offen und ehrlich über Diskriminierung und Ausgrenzung bestimmter ethnischer Gruppen diskutiert und offensiv an einer Veränderung dieser Phänomene arbeitet, kann sich ein anderes gesellschaftliches Klima entwickeln. Im weiteren Prozessverlauf könnten dann gemeinsam Lösungsstrategien entwickelt werden.
Um diesen Veränderungsprozess herbeizuführen, müsste sich zunächst die deutsche Mehrheitsgesellschaft von ihrem homogenen Gesellschaftsbild verabschieden. Es muss ein gesamtgesellschaftlicher Perspektivwechsel stattfinden, der zum Inhalt hat, dass wir eine Gesellschaft der Vielfalt sind und ein Bewusstsein dafür entstehen lässt, dass diese Vielfalt vielfältige Potenziale und Ressourcen birgt, die mit Vorteilen für uns alle verbunden sind. Es muss ein Perspektivwechsel stattfinden, der dazu führt, dass nicht länger zwischen "ihr" ('die Migranten') und "wir" ('die Deutschen') differenziert wird, sondern der das "Uns" zur Folge hat. Erst wenn dieser Perspektivwechsel vollzogen ist, werden Menschen mit anderen ethnischen Wurzeln, Muttersprachen und nicht-weißer Hautfarbe sich als ein integraler und gleichberechtigter Bestandteil unserer Gesellschaft fühlen können. Und erst dann werden sie die Möglichkeit haben, sich auf gleicher Augenhöhe aktiv und konstruktiv an der gesellschaftlichen Ausgestaltung und der Problembewältigung zu beteiligen.
Drei Fragen an Doris Nahawandi
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Die Frage nach gelingender Integration ist zuallerst an die Mehrheitsgesellschaft zu richten, nicht an gesellschaftliche Minderheiten. Ein Interview mit Doris Nahawandi, Beauftragte für Migration und Integration des Berliner Bezirks Kreuzberg-Friedrichshain, über "Problemviertel" und soziale Ungleichheit.
Doris Nahawandi, geboren 1963, studierte Sozialpädagogik und Europäisches Verwaltungsmanagement. Seit 1994 arbeitet sie im Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg in verschiedenen Bereichen der Abteilung Jugend. Sie ist seit Januar 2004 Beauftragte für Integration und Migration des Berliner Bezirks Kreuzberg-Friedrichshain.
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