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Wann beginnt das Recht auf Leben? | Bioethik | bpb.de

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Wann beginnt das Recht auf Leben? Standpunkt Norbert Hoerster

Prof. Dr. Dr. Norbert Hoerster

/ 6 Minuten zu lesen

Ist der Embryo bereits ein "Mensch"? Im biologischen Sinne ja, glaubt Norbert Hoerster. Daraus allein folge jedoch nicht, dass dieses menschliche Wesen im Frühstadium seiner Existenz bereits als Mensch im Vollsinn betrachtet werden müsse.

Prof. Dr. Dr. Norbert Hoerster (© Norbert Hoerster)

Die Verfassung unseres Staates garantiert in ihren Artikeln 1 und 2 jedem "Menschen die Unantastbarkeit seiner "Würde" und das "Recht auf Leben". Das Recht auf Leben ist dabei von entscheidender Bedeutung, wenn es um die Zulässigkeit der Tötung von Embryonen - sei es im Mutterleib, sei es im Reagenzglas - geht. Wenn bereits der Embryo als "Mensch" im Sinn der Verfassung zu gelten hat und somit das Recht auf Leben besitzt, so hat dies folgende, sehr weit reichende Konsequenzen.

Erstens muss die Abtreibung generell - die Frühabtreibung ebenso wie die Spätabtreibung - rechtlich verboten sein. Diskutabel wäre allenfalls eine Abtreibung, die der Abwendung des Todes oder einer gravierenden Gesundheitsschädigung der Schwangeren dient. Die üblichen Abtreibungen in unserer Gesellschaft jedoch, die nur dazu dienen, eine der Frau unerwünschte Schwangerschaft zu beenden, sind mit einem Lebensrecht des Embryos als eines Menschen vollkommen unvereinbar. Jene Belastungen, denen eine Frau nach der Geburt ihres Kindes ausgesetzt ist, sind häufig ja weitaus schwerwiegender als die Belastungen vor der Geburt. Darf eine Mutter aber ihr geborenes Kind trotz seines Lebensrechtes töten - etwa weil der Erzeuger des Kindes sie verlassen hat oder weil ihr gegenwärtiger Partner das Kind ablehnt oder weil sie als Mutter nicht den gewünschten Beruf ausüben kann? Nein, wer behauptet, unsere derzeit geltende Freigabe der Frühabtreibung sei mit dem Menschsein des Embryos und seinem daraus folgenden Lebensrecht vereinbar, täuscht sich und andere.

Für die Tötung des Embryos im Reagenzglas aber gilt nichts anderes. Wie ließe sich denn begründen, dass man zwar keinesfalls geborene, wohl aber ungeborene Menschen einfach töten darf, um sie zu Forschungszwecken zu nutzen? Selbst wenn diese Forschung der Heilung schwerer Krankheiten zahlreicher Menschen dient: Der einzelne Mensch mit einem eigenen Lebensrecht darf niemals - gleichgültig welches Geschlecht, welche Hautfarbe, welchen Gesundheitszustand oder welches Alter er hat - dem Nutzen der Gesellschaft geopfert werden.

Die alles entscheidende Frage lautet also: Ist der Embryo - genau wie das Kleinkind - bereits ein "Mensch"? Man muss diese Frage richtig verstehen. Ohne Zweifel ist der Embryo bereits ein Mensch im biologischen Sinn - ein menschliches Wesen, das sich unter günstigen Umständen kontinuierlich zu einem typischen, erwachsenen Menschen entwickeln wird. Daraus allein folgt jedoch nicht, dass dieses menschliche Wesen im Frühstadium seiner Existenz bereits als Mensch im Vollsinn, also auch im moralischen und rechtlichen Sinn des Wortes - als Inhaber des Menschenrechts auf Leben - betrachtet werden muss. Dies ist vielmehr eine normative, ethische Frage, die sich allein auf sprachlicher Ebene nicht entscheiden lässt. Verfehlt ist in diesem Zusammenhang die nicht seltene Behauptung, jede Entscheidung für den Beginn des Lebensrechts nach dem Existenzbeginn des biologischen Menschen sei von vornherein willkürlich, ja diskriminierend. Denn ebenso gut ließe sich etwa behaupten, der Beginn des politischen Wahlrechts erst mit Vollendung des achtzehnten Lebensjahres sei willkürlich und diskriminierend. Worauf es ankommt, ist allein dies: Gibt es im Fall des jeweils zur Debatte stehenden Rechtes hinreichende ethische Gründe, dieses Recht dem betreffenden Lebewesen bzw. Menschen früher oder später oder vielleicht gar nicht zuzusprechen?

Warum soll ein menschliches Wesen überhaupt ein Recht auf Leben erhalten? Und warum sollen andere Lebewesen (wie Tiere und Pflanzen) kein Recht auf Leben erhalten? Sollen vielleicht, wie manche Leute meinen, zwar nicht Pflanzen, wohl aber Tiere - oder zumindest gewisse Tiere ebenso wie Menschen ein Recht auf Leben erhalten? Oder ist einfach davon auszugehen, dass zwar allen menschlichen Wesen von Beginn ihrer Existenz an, dass aber keinem einzigen Tier ein Recht auf Leben zusteht? Als in sich schlüssig kann diese letztere Sichtweise wohl nur dann erscheinen, wenn man die christliche Lehre von der Gottesebenbildlichkeit speziell des Menschen und von seiner Beseelung zum Zeitpunkt der Befruchtung voraussetzt. Doch diese Lehre kann in einem modernen, religiös neutralen Staat kaum zur Grundlage des Lebensrechtes gemacht werden. Das heißt: Wir müssen nach einer säkularen, jedermann nachvollziehbaren Begründung für das Lebensrecht überhaupt und für seinen Beginn Ausschau halten.

Eine solche, von empirischen Tatsachen ausgehende Begründung sieht nach meiner Sichtweise wie folgt aus. Das Recht auf Leben ist für den normalen Menschen deshalb von einzigartiger Bedeutung, weil es einem typisch menschlichen Interesse am Überleben dient. Damit ist Folgendes gemeint: Menschen haben gewöhnlich im doppelten Sinn des Wortes so etwas wie ein Überlebensinteresse. Sie haben sowohl den unmittelbaren Wunsch, auch in Zukunft noch zu leben, als auch stets neue, mehr oder weniger konkrete zukunftsbezogene Absichten und Wünsche (wie den Wunsch, in einem Monat in den Urlaub zu fahren), die ohne das eigene Überleben nicht realisierbar sind. Genau dieses spezifisch menschliche Überlebensinteresse haben Tiere nicht, da ihr bewusstes Leben ausschließlich auf die Gegenwart bzw. unmittelbare Zukunft fixiert ist: Wenn eine Katze an einem Tag um 16 Uhr den Wunsch hat, Nahrung zu sich zu nehmen, dann möchte sie dies hier und jetzt tun und nicht - wie ein Mensch unter bestimmten Umständen - erst abends im Biergarten. Das Überlebensinteresse, wie es Menschen haben, beruht dabei auf dem Umstand, dass Menschen dazu in der Lage sind, sich als in Vergangenheit und Zukunft identische Individuen wahrzunehmen, die über ihre eigene Vergangenheit und Zukunft reflektieren können.

Aber nicht nur Tieren fehlt das genannte spezifisch menschliche Überlebensinteresse. Auch menschliche Embryonen haben dieses Interesse ganz offenbar nicht. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie von einem gewissen Zeitpunkt ihrer Existenz an durchaus ein Nervensystem sowie ein Schmerzempfinden haben. Dies haben Tiere bekanntlich auch; ja manche ausgewachsenen Wirbeltiere sind in dieser Hinsicht zweifellos viel weiter entwickelt als menschliche Embryonen. Wenn Embryonen aber das spezifisch menschliche Überlebensinteresse aufgrund ihrer Entwicklung noch nicht haben können, dann ist es ethisch auch nicht begründet, ihnen bereits ein Recht auf Leben zuzusprechen. Gegen diese Auffassung werden nicht selten die folgenden beiden Einwände vorgebracht, die jedoch einer näheren Prüfung nicht standhalten.

Zum ersten wird gesagt, auch neugeborene Kinder sowie Kleinstkinder hätten das spezifisch menschliche Überlebensinteresse ja noch nicht. Also müsste nach der hier vertretenen Auffassung auch diesen Kindern das Lebensrecht verweigert werden, was freilich absurd sei. Die Prämisse dieses Argumentes ist zwar zutreffend, seine Schlussfolgerung aber vorschnell. Denn dass das Überlebensinteresse der eigentliche ethische Grund für das Recht auf Leben ist, spricht nicht dagegen, aus pragmatischen Erwägungen eine Praxisnorm in Geltung zu setzen, die gerade die Geburt des menschlichen Wesens zum Beginn seines Lebensrechtes macht. Denn wie könnte, realistisch betrachtet, eine alternative Grenze für den Beginn des Lebensrechtes lauten, die erstens auch nur annähernd so klar und für jeden leicht erkennbar wie die Geburt ist und die zweitens den Beginn des Lebensrechtes mit Sicherheit jedenfalls nicht zu spät ansetzt?

Zum zweiten wird gesagt, der Embryo müsse schon deshalb ein Recht auf Leben erhalten, weil er sich bei natürlichem Verlauf der Dinge jedenfalls zu einem Menschen mit Überlebensinteresse entwickeln werde und weil ihm diese Perspektive durch eine mögliche Tötung illegitimerweise genommen werde. Dieses Argument kann deshalb nicht überzeugen, weil zwischen der Verletzung eines schon vorhandenen Überlebensinteresses und der Verhinderung der Entstehung eines zukünftigen Überlebensinteresses strikt zu unterscheiden ist. Wer diesen Unterschied nicht machen will, müsste etwa auch jede Empfängnisverhütung, die sich in der genannten Hinsicht ja ebenso wie eine Abtreibung auswirkt, als Verstoß gegen das Recht auf Leben verurteilen.

Zu den hier behandelten sowie zu weiteren Fragen des Embryonenschutzes siehe ausführlich Norbert Hoerster, Wie schutzwürdig ist der Embryo? Zu Abtreibung, PID und Embryonenforschung, Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2013.

Fussnoten

Geb. 1937, studierte Rechtswissenschaft und Philosophie. Von 1974 bis 1998 C4-Professor für Rechts- und Sozialphilosophie am juristischen Fachbereich der Universität Mainz. Zahlreiche Buchveröffentlichungen zur Ethik, Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie.