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Argumentationslinien der praktischen Philosophie

Dr. Christine Bratu Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin Staatsminister a.D.

/ 11 Minuten zu lesen

Welche Handlungen sind ge- oder verboten? Welche haben die besten Folgen? Und wie kann ein Mensch die besten Fähigkeiten in sich ausprägen? Die praktische Philosophie versucht zu klären, wie wir handeln sollen – und gibt dabei verschiedene Antworten.

Wie sollen wir handeln? (© picture-alliance/ZB)

Eine Aufgabe der praktischen Philosophie ist es, die Frage zu klären, was Menschen tun sollen. Die drei ethischen Positionen, die wir im Folgenden darstellen, liefern auf diese Frage verschiedene Antworten. Diese unterscheiden sich zum einen darin, was für sie der Gegenstand ethischer Bewertung ist: Deontologische und konsequentialistische Ansätze untersuchen, welche Handlungen ge- und verboten sind, während die Tugendethik primär danach fragt, was einen guten Charakter und – in Abhängigkeit davon – einen guten Menschen ausmacht. Zum anderen legen die unterschiedlichen Positionen verschiedene Maßstäbe bei der normativen Bewertung an: Für deontologische Ethiken sind Handlungen ge- oder verboten, wenn sie bestimmten Pflichten ent- oder Rechten widersprechen, nach konsequentialistischen Ansätzen sollte man dagegen eine Handlung genau dann vollziehen, wenn sie die besten Folgen hat, und für den klassischen tugendethischen Ansatz ist der Charakter eines Menschen genau dann gut, wenn er spezifisch menschliche Fähigkeiten in hervorragender Art und Weise ausgeprägt hat. Wie wir zeigen werden, fängt jede dieser drei Positionen wichtige Intuitionen darüber ein, was wir in ethischer Hinsicht für relevant halten. Keine von ihnen ist auf eine der anderen reduzierbar.

Deswegen lassen sich die verschiedenen Positionen auch nur miteinander kombinieren, indem man die unterschiedlichen ethischen Kriterien in ein hierarchisches Verhältnis bringt. So kann man etwa der Ansicht sein, dass deontologische Prinzipien die Rahmenbedingungen dafür aufstellen, wann es erlaubt ist, gemäß dem konsequentialistischen Entscheidungskriterium zu handeln. Oder man kann behaupten, deontologische Prinzipien gelten nur, insofern ihre Einhaltung zu den besten Folgen führt. Im Folgenden werden wir aber nicht klären, welche ethische Position insgesamt am überzeugendsten ist. Stattdessen wollen wir aufzeigen, welche Erwägungen für die jeweiligen Ansätze sprechen, welche charakteristischen Merkmale sie auszeichnen und mit welchen Problemen sie konfrontiert sind.

Die konsequentialistische Position unter besonderer Berücksichtigung des Utilitarismus

Stellen wir uns vor, wir könnten entscheiden, welcher der folgenden beiden Weltzustände realisiert wird: Eine Welt, in der nach wie vor unzählige Menschen an Malaria leiden, oder eine Welt, in der Malaria ausgerottet ist. Für die Realisierung welches Zustandes sollten wir uns entscheiden? Intuitiv sollten wir die Malaria-freie Welt wählen, weil in dieser Version der Welt bestimmte Werte in höherem Maße vorhanden sind: So gibt es in der Malaria-freien Welt mehr Gesundheit und mehr Wohlergehen, und Gesundheit und Wohlergehen halten wir für intrinsisch, d.h. für an sich und um seiner selbst willen wertvoll. Und ist eine Welt, in dern mehr intrinsische Werte in höherem Maße verwirklicht sind, nicht besser als eine Welt, in der weniger solcher Werte in weniger hohem Maße verwirklicht sind?

Dieses Prinzip der Aggregation (1) – also dass eine Welt besser ist, in der die relevanten intrinsischen Werte insgesamt in höherem Maße verwirklicht sind, als eine, in der dies nur in niedrigerem Maße der Fall ist – ist eines der drei Merkmale konsequentialistischer Ansätze. Zudem legt jede Spielart des Konsequentialismus fest, (2) welches die relevanten Werte sind, d.h. was als intrinsisch wertvoll anzusehen ist. Und schließlich fordert der Konsequentialismus (3), dass wir aus den uns zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen diejenige vollziehen, durch die insgesamt am meisten von dem realisiert wird, was als intrinsisch wertvoll ausgezeichnet wurde. Am Beispiel des Utilitarismus, des wohl wichtigsten konsequentialistischen Ansatzes, lassen sich diese drei Merkmale verdeutlichen: Gemäß dem Utilitarismus gibt es einen höchsten Wert, nämlich das Wohlergehen einzelner Personen. Dabei verstehen unterschiedliche Spielarten des Utilitarismus Unterschiedliches unter "Wohlergehen". Nach der klassischen Position von Jeremy Bentham ergeht es einer Person wohl, sofern sie glücklich ist und also einen bestimmten angenehmen psychologischen Zustand erlebt. Auch John Stuart Mill fasst Wohlergehen hedonistisch auf, behauptet aber zudem und im Gegensatz zu Bentham, dass bestimmte anspruchsvolle Tätigkeiten (wie etwa künstlerische und wissenschaftliche Betätigung) eine besondere und wertvollere Art von Glück erzeugen. Für zeitgenössische Vertreter des Utilitarismus wie Richard M. Hare besteht das Wohlergehen einer Person dagegen darin, dass ihre Präferenzen erfüllt werden und sie also bekommt, was sie will – unabhängig davon, was dies konkret ist. Alle drei Autoren gehen davon aus, dass eine Welt, in der es insgesamt mehr Wohlergehen gibt, besser ist als eine, in der es davon weniger gibt. Daher fordern sie, dass wir immer diejenige Handlungsalternative wählen sollten, durch die insgesamt am meisten Wohlergehen realisiert wird.

Doch obwohl der Konsequentialismus mit dem Prinzip der Aggregation eine wichtige Intuition einfängt, verstößt er – zum Teil eklatant – gegen das, was wir lebensweltlich für ethisch geboten halten. Denn ob wir einen Weltzustand als wünschenswert ansehen, hängt nicht nur davon ab, welche intrinsischen Werte in welchem Maße in ihm realisiert sind, sondern auch davon, durch welche konkreten Handlungen er zustande kam. Denn würden wir uns bspw. immer noch für die Malaria-freie Welt aussprechen, wenn sie nur durch die willkürliche Opferung von 500 Menschen umgesetzt werden könnte? Intuitiv scheinen wir also bestimmte Handlungstypen (wie etwa die willkürliche Opferung von Menschen) für an sich verboten zu halten, d.h. unabhängig davon, zur Realisierung welcher Weltzustände sie beitragen. Doch da der Konsequentialismus die ethische Bewertung einer Handlung ausschließlich von deren Konsequenzen abhängig macht und der Handlung selbst keine ethische Bedeutung zumisst, kann er dieser Intuition nicht gerecht werden.

Die einzige Möglichkeit, die Konsequentialisten offensteht, um die genannte Intuition doch ernst zu nehmen, ist, dass dritte kennzeichnende Merkmal des Konsequentialismus zu modifizieren: Statt zu fordern, dass wir immer diejenige Handlung vollziehen, durch die insgesamt am meisten von dem realisiert wird, was als intrinsisch wertvoll ausgezeichnet wurde, fordern sie, dass wir nach derjenigen Regel handeln, durch deren allgemeine Einhaltung insgesamt am meisten von dem realisiert wird, was intrinsisch wertvoll ist. Zudem hoffen sie, dass sich gerade für diejenigen Handlungen, die wir intuitiv für an sich ge- oder verboten halten, Regeln finden lassen, deren allgemeine Einhaltung zum insgesamt besten Weltzustand führt. Denn wäre dies der Fall, könnte auch ein Konsequentialist behaupten, dass bspw. die willkürliche Opferung von Menschen immer verboten ist.

Allerdings ist fraglich, ob ein solcher Regel-Konsequentialismus überzeugen kann: Zum einen ist die Einhaltung der fraglichen Regeln letztlich immer noch nur instrumentell geboten, weil ihre Einhaltung zur Realisierung des besten Weltzustandes führt. D.h. gemäß dem Regel-Konsequentialismus wäre es schlecht, das Menschenopfer zu bringen, weil das bspw. dazu führen könnte, dass auch andere Menschen sich in Zukunft bedroht fühlen. Unsere Intuition besagt aber, dass das Töten von Menschen an sich verwerflich ist. Zum anderen ist nicht klar, ob der Regel-Konsequentialismus die letztlich empirische Annahme einholen kann, dass die Befolgung bestimmter Regeln immer zum insgesamt besten Weltzustand führt. Dieses letzte Problem verweist zudem auf eine weitere Schwierigkeit, mit der insbesondere der Utilitarismus konfrontiert ist: Um ermitteln zu können, was der insgesamt beste Weltzustand ist, müssen Utilitaristen davon ausgehen, dass man das Wohlergehen eines jeden Individuums zweifelsfrei ermitteln und mit dem anderer Individuen vergleichen kann. Doch weder hedonistische noch Präferenz-orientierte Versionen des Utilitarismus können diese Voraussetzung einholen. Denn wie misst man, wie glücklich eine Person ist, und wie kann man die psychologischen Zustände zweier Personen zueinander ins Verhältnis setzen?

Die deontologische Position unter besonderer Berücksichtigung des Kontraktualismus

Die Intuition, an der der Konsequentialismus zu scheitern droht, ist diejenige, die deontologische Positionen trägt. Denn Kern jeder Pflichtenethik ist die Annahme, dass es bestimmte Handlungen gibt, die unabhängig von ihren Konsequenzen ge- und verboten sind. Diese Annahme operationalisieren deontologische Ansätze, indem sie individuelle Pflichten und Rechte festschreiben, die gerade diese Handlungen ge- oder verbieten bzw. ihre Durchführung erlauben und schützen. Viele Vertreter dieses Ansatzes konzentrieren sich dabei auf allgemeine Rechte und Pflichten, d.h. auf Normen, die alle Menschen ausschließlich aufgrund ihres Menschseins binden. So behauptet etwa John Locke, dass wir uns wechselseitig das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum zugestehen und diese Rechte unter allen Umständen beachten müssen. Ein weiteres Beispiel für solche allgemeinen Rechte sind die Menschenrechte. Aber es sind auch Rechte und Pflichten denkbar, denen wir nicht schon dadurch unterliegen, dass wir Menschen sind, sondern die uns nur binden, sofern wir bestimmte Handlungen vollzogen haben oder in bestimmten Beziehungen stehen. Ein Beispiel für ersteres ist die Pflicht, ein gegebenes Versprechen zu halten; ein Beispiel für zweites sind die besonderen Rechte und Pflichten, die Freunde oder Beziehungspartner einander gegenüber haben.

Ein Sonderfall einer Pflichtenethik ist der so genannte Kontraktualismus. Verstanden als ethische Position (und nicht als Theorie der politischen Philosophie) ist dessen grundlegende Forderung, dass Menschen sich in ihrem Umgang miteinander von Normen leiten lassen sollen, die alle Menschen als alles in allem begründet anerkennen könnten. Der Kontraktualismus macht also in zweierlei Hinsicht Gebrauch vom Begriff der Pflicht: Nicht nur sollen wir unseren Umgang miteinander durch Rechte und Pflichten regeln – wir haben zudem die Pflicht, diese Rechte und Pflichten auf eine bestimmte Art und Weise auszugestalten, nämlich so, dass sie von allen Menschen als begründet anerkannt werden können. Damit ist der Kontraktualismus eine Pflichtenethik zweiter Stufe, da er nicht konkrete Rechte und Pflichten vorgibt, sondern lediglich formal vorschreibt, welche Bedingung konkrete Rechte und Pflichten erfüllen müssen. Allerdings würden die meisten Kontraktualisten behaupten, dass gerade diejenigen konkreten Rechte und Pflichten die Bedingung der allgemeinen Zustimmbarkeit erfüllen, von deren Geltung wir lebensweltlich ausgehen (also bspw. das Recht auf Freiheit oder die Pflicht Versprechen zu halten).

Verschiedene kontraktualistische Ansätze unterscheiden sich darin, welche Gründe ihrer Ansicht nach für eine Norm sprechen müssen, damit man davon ausgehen darf, dass alle Menschen sie als alles in allem begründet anerkennen: In Anlehnung an Thomas Hobbes behauptet bspw. David Gauthier, dass eine Norm im Interesse aller sein, d.h. allen nützen muss, damit sie von allen als insgesamt begründet anerkannt wird. Immanuel Kant, dessen kategorischer Imperativ die Forderung des ethischen Kontraktualismus wohl am prägnantesten zusammenfasst, trifft dagegen keine Vorfestlegung dazu, welche Gründe für eine Norm sprechen müssen, damit diese als allgemein begründet anerkannt werden kann.

Gemäß der deontologischen Position sind Rechte Trümpfe, d.h., dass eine Handlung zu unterlassen ist, sofern sie gegen ein Recht verstößt, selbst wenn sie den bestmöglichen Weltzustand realisieren würde. Das Streben nach guten Konsequenzen darf also für Deontologen wie Robert Nozick oder Ronald Dworkin nur innerhalb eines Rahmens geschehen, der durch die Beachtung der relevanten Rechte und Pflichten abgesteckt wird. Doch mit dieser Annahme unterläuft die deontologische Position unsere lebensweltlichen Vorstellungen davon, was richtig ist, teilweise ebenso sehr wie der Konsequentialismus. Denn ist es wirklich ethisch falsch, die Weiche umzulegen und damit einen führerlosen Zug auf eine Person statt auf hundert zurasen zu lassen, weil man durch die Umstellung der Weiche das Recht auf Leben der einen nun gefährdeten Person missachtet? Oder ist es eine endgültig Malaria-freie Welt nicht wert, dass man dafür einmal das Leid von 500 Personen in Kauf nimmt?

Es sind Situationen wie diese, in denen der Respekt vor einem bestehenden Recht zur Realisierung eines Weltzustandes führt, der wesentlich schlechter ist als der, der durch den einmaligen Bruch dieses Rechtes hätte realisiert werden können, die deontologische Ansätze auf den Prüfstand stellen. Verschiedene deontologische Ansätze versuchen auf diese Herausforderung zu reagieren, indem sie erlauben, von der durch das Recht gebotenen Handlung abzusehen, falls diese zu einem katastrophalen Ergebnis führen würde. Aber es ist unklar, wie eine Pflichtenethik erster Stufe den Konsequenzen einer Handlung ethisches Gewicht zusprechen kann, ohne gleichzeitig ihr kennzeichnendes Merkmal aufzugeben: Nämlich, dass bestimmte Handlungen an sich ge- oder verboten sind.

Die Tugendethik als Gegenmodell zu handlungsorientierten ethischen Positionen

In dilemmatischen Situationen wie den oben geschilderten erscheint jede der möglichen Handlungsalternativen intuitiv ethisch verwerflich, sodass die handelnde Person nichts richtig machen kann, sondern sich schuldig machen muss. Wem diese Bewertung nicht behagt, kann sich dafür aussprechen, das Unternehmen einer handlungsorientierten Ethik insgesamt fallen zu lassen und stattdessen Tugendethik zu betreiben. Denn der Tugendethik geht es nicht primär darum, einzelne Handlungen einer Person zu bewerten; vielmehr fragt sie danach, was insgesamt einen ethisch guten Menschen ausmacht. Dabei ist ein guter Mensch für Anhänger der Tugendethik ein solcher, der die relevanten Tugenden ausgeprägt hat und sich von diesen in seinem Handeln leiten lässt – wobei sich unterschiedliche tugendethische Ansätze darin unterscheiden, welche Tugenden sie für relevant halten.

Der klassische tugendethische Ansatz, der auch für viele zeitgenössische Versionen der Tugendethik nach wie vor maßgeblich ist, findet sich in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik. Nach Aristoteles ist eine Person tugendhaft, wenn sie die Fähigkeiten, die sie von Natur aus hat, in guter Art und Weise ausübt. Da die grundlegenden Fähigkeiten des Menschen darin bestehen, zu denken (zu erkennen) und zu handeln, ist ein tugendhafter Mensch also ein solcher, der kompetent im Denken ist und richtig handelt. Konkret bedeutet dies, dass eine tugendhafte Person für Aristoteles u.a. über die (Erkenntnis-)Tugenden der Weisheit und der Urteilskraft sowie über die (Handlungs-)Tugenden der Freundschaft oder der Gerechtigkeit verfügen muss. Erkenntnistugenden können uns durch theoretische Schulung beigebracht werden, Handlungstugenden erwerben wir dagegen nur, wenn wir sie – angeleitet von kompetenten Lehrern – praktisch einüben. Dabei drückt sich das Haben einer Tugend für Aristoteles in einem Habitus aus, d.h. jemand, der etwa über die Tugend der Gerechtigkeit verfügt, wird nicht manchmal, sondern verlässlich gerecht handeln. Verfügen wir einmal über die relevanten Tugenden, so werden wir nach Aristoteles nicht nur ethisch gute Menschen sein, sondern zudem ein glückliches Leben führen. Allerdings versteht Aristoteles unter Glück (eudaimonia) nicht einen angenehmen psychologischen Zustand – auch wenn er wohl nicht ausschließen würde, dass es sich angenehm anfühlt, ein tugendhafter Mensch zu sein. Doch was Aristoteles eigentlich behaupten will, ist, dass der tugendhafte Mensch ein gelungenes Leben führt, also ein Leben, das unserer ethischen Wertschätzung würdig ist.

Viele zeitgenössische Ansätze übernehmen die grundlegenden Annahmen der aristotelischen Tugendethik: Dass man tugendhaft ist, sofern man natürliche Anlagen in guter Art und Weise ausprägt, dass es eine Vielzahl von Erkenntnis- und Handlungstugenden gibt und dass das tugendhafte Leben ein gelungenes ist. Mit Aristoteles’ Position teilen sie aber auch Schwierigkeiten, deren grundlegendste ein relativistisches Element ist. Denn unsere Urteile darüber, was als gute Ausprägung natürlicher Anlagen zählt, d.h. was kompetentes Denken und richtiges Handeln ist, scheinen kulturell bedingt zu sein und werden daher nicht von allen Menschen auf der Welt geteilt. Muss sich also ein guter Mensch in Asien in anderen Tugenden üben als einer in Europa? Zeitgenössische Vertreter versuchen diesen Vorwurf zu entkräften, indem sie darauf hinweisen, dass bestimmte grundlegende Annahmen dazu, was tugendhaft ist, universell sind. Gilt es denn nicht bspw. überall auf der Welt als tugendhaft, in einer Gefahrensituation mutig zu handeln? Allerdings ist fraglich, ob sich dieser Anschein der universellen Geltung aufrecht erhalten lässt, wenn man ausbuchstabiert, was konkret unter den einzelnen Tugenden verstanden wird.

Literatur

Für eine ausführlichere Darstellung dieser und weiterer ethischer Positionen: Julian Nida-Rümelin: "Theoretische und angewandte Ethik", in: Julian Nida-Rümelin (Hg.): Angewandte Ethik, Stuttgart 2005, S. 2-87.

Utilitaristische Klassiker

Jeremy Bentham: An Introduction to the Principles of Morals ad Legislation, New York 1948 [EA 1789]. Deutsch in Auszügen in: Otfried Höffe (Hg.): Einführung in die utilitaristische Ethik, Tübingen 1992, S. 55-83.

John Stuart Mill: Utilitarianism, Oxford 1998 [EA 1863]. Deutsch: Der Utilitarismus, Stuttgart 1976.

Richard Mervyn Hare: Moral Thinking: Its Levels, Method and Point, Oxford 1981. Deutsch: Moralisches Denken: seine Ebenen, seine Methode, sein Witz, Frankfurt a.M. 1992.

Ein weiterer utilitaristischer Entwurf und eine kritische Replik: John J.C. Smart/ Bernard Williams: Utilitarianism: For and Against, Cambridge 1973.

Deonotologische Klassiker

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). In: Kants gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band 4, Berlin 1911, S. 385-463.

John Locke: Two Treatises of Government, Oxford 2009 [EA 1690]. Deutsch: Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt a.M. 1977.

Robert Nozick: Anarchy, State, and Utopia, Oxford 1974. Deutsch: Anarchie, Staat, Utopia, München 1976.

Ronald Dworkin: Taking Rights Seriously, London 1977.

Tugendethische Klassiker

Aristoteles: Nikomachische Ethik.

Martha Nussbaum: "Non-Relative Virtues: An Aristotelian Approach”, in: Martha C. Nussbaum/ Amartya Sen (Hg.): The Quality of Life, Oxford 1993, S. 242–70.

Philippa Foot: Virtues, Vices and Other Essays in Moral Philosophy, Oxford 1978.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Philosophie IV der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Fragen der Begründung in Ethik und Politischer Philosophie, Theorien des Liberalismus, Metaethik, Theorien des guten Lebens, Universalismus vs. Partikularismus in der Ethik.

Lehrstuhl für Philosophie und Politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Rationalitätstheorie, Ethik, Politische Philosophie, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie.