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Die Bedeutung der Shoah in der israelischen Gesellschaft

Anja Kurths

/ 11 Minuten zu lesen

Mit dem Eichmann-Prozess 1961 begann die israelische Gesellschaft sich mit der Shoah und ihren Überlebenden auseinanderzusetzen. Heute ist das Gedenken an die Shoah in Israel so breit gefächert wie in keinem anderen Land auf der Welt.

Yad Vashem, die Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, wurde 1953 durch einen Beschluss des israelischen Parlaments (Knesset) gegründet. Hier in der Halle der Namen wird an die Schicksale der sechs Millionen Opfer erinnert.
Foto: BUNDESREGIERUNGonline/Bienert

1948-1960

Vor der Proklamation des Staates Israel erreichten etwa 70.000 Shoahüberlebende das Land, von Mai 1948 bis 1951 folgten ihnen annähernd 350.000 weitere Überlebende und machten 1951 etwa ein Viertel der israelischen Gesamtbevölkerung aus.

Die israelische Bevölkerung beschäftigte sich mit dem sozialen, wirtschaftlichen und politischen Aufbau des jungen Landes, wollte sich jedoch nicht mit den persönlichen Problemen der Überlebenden, die aus deren schrecklichen Lagererfahrungen resultierten, befassen. Bereits kurz nach der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager war ein festes Bild von den Überlebenden durch Berichte geprägt worden, die Emissäre aus den deutschen DP-Lagern nach Palästina bzw. Israel gesendet hatten. Darin berichteten sie über die negativen Auswirkungen des Lagerlebens, die die Überlebenden physisch vor allem jedoch emotional und moralisch beeinflusst hatten. In den Berichten wurden die Überlebenden geringschätzig als "menschliche Trümmer", "Gesindel" oder "Menschenstaub" bezeichnet.

Auch der einstige Schlachtruf Abba Kovners, dem Anführer des Aufstandes im Ghetto Wilna, "sich nicht wie die Schafe zur Schlachtbank führen zu lassen", wurde umgedreht und als Vorwurf an die europäischen Juden gerichtet, dass sie sich widerstandslos erniedrigen und ermorden ließen. Diese negativen Einschätzungen wurden größtenteils kritiklos von den jüdischen Bewohnern Palästinas übernommen. Der junge Staat sollte nicht vom vermeintlichen Typus des "kränklichen, verweichlichten Diasporajuden", der sich nicht selbst verteidigen konnte, sondern vom starken und gesunden "Neuen Juden", der alles mit eigenen Händen schafft, aufgebaut werden.

Die Opferrolle der verfolgten europäischen Juden passte in den ersten Jahren nicht in das Bild der zionistischen Ideologie, in der neue kämpferische, zu Mythen erhobene Ereignisse die Identitätsbildung des jungen Staates bestimmen sollten. Davon abgeleitet begegnete die israelische Bevölkerung anfangs den immigrierten Überlebenden mit einer ablehnenden Haltung, die durch Vorurteile bestimmt war. Die einzigen Überlebenden, denen vorurteilsfrei begegnet wurde, waren die Ghettokämpfer und Partisanen, die in den Ghettos und Wäldern aktiv bewaffneten Widerstand geleistet hatten.

Mit dem Ende des Unabhängigkeitskrieges und der Etablierung des Staates fand zu Beginn der 1950er Jahre eine erste Auseinandersetzung mit der Shoah statt. Jedoch spielte sich diese nicht innerhalb der israelischen Gesellschaft ab, sondern lediglich auf politischer und juristischer Ebene – sprich in der Knesset und im Gerichtssaal. Dabei standen nur selten die Überlebenden oder die Opfer im Vordergrund, sondern die Diskussionen kreisten um politische Einstellungen und zionistische Idealisierungen.

Das zeigte sich beispielsweise deutlich an der Hervorhebung des heldenhaften bewaffneten Widerstandes in den Ghettos innerhalb der Debatten um den Beschluss zum Shoahgedenktag (1951) und das Yad-Vashem-Gesetz (1953). Bei den kontroversen Auseinandersetzungen in der Knesset um die Entschädigungszahlungen der Bundesrepublik Deutschland im Januar 1952 spielten letztendlich wirtschaftliche Faktoren eine entscheidende Rolle und bei dem Gesetz zur Bestrafung von Nationalsozialisten und deren Kollaborateuren (1950) ging es vorrangig um die "Reinigung" Israels von "jüdischen Verbrechern" , die mit den Nationalsozialisten kollaboriert hätten, wie sich der damalige Justizminister Pinchas Rosen ausdrückte.

Das beginnende staatliche Shoahgedenken hatte nur eine marginale Position innerhalb der israelischen Erinnerungskultur und stand unter dem Einfluss der zionistischen Ideologie mit übermäßiger Betonung des bewaffneten jüdischen Widerstandes gegen die Nationalsozialisten. Ein Beispiel dafür stellt der Shoahgedenktag, der so genannte Yom haShoah, dar. Seit 1947 hatten verschiedene Veranstaltungen am 19. April – dem Datum des Ausbruchs des Warschauer Ghettoaufstandes – stattgefunden. Gleichzeitig wurde der Ruf nach einem allgemein gültigen Shoahgedenktag vorrangig von Überlebenden, die nicht an den Ghettoaufständen beteiligt gewesen waren, laut. Doch erst 1950 begann die Knesset über solch einen Gedenktag zu diskutieren. Nach langen hitzigen Debatten über das Datum und den Namen des Gedenktages verabschiedete die Knesset am 12. April 1951 den Beschluss zur Errichtung des Yom haShoah uMered haGetaot – Tag der Shoah und des Ghettokampfes, der jährlich am 27. Nissan stattfinden sollte. Erst 1959 wurde der Tag mit dem Gesetz zum Tag des Gedenkens an die Shoah und das Heldentum gesetzlich verankert und offiziell umbenannt. Zunächst stieß der Yom haShoah auf geringes Interesse innerhalb der israelischen Gesellschaft. Eine Änderung bewirkte erst der Eichmannprozess. Spätestens mit dem Einführen des 2-minütigen Sirenensignals am Morgen des Yom haShoah, in der alle im stillen Gedenken verharren sowie der Einführung des israelischen Fernsehens Ende der 1960er Jahre und der damit verbundenen Ausstrahlung themenrelevanter Dokumentationen und Berichte am Gedenktag, wurde der Yom haShoah von der israelischen Gesellschaft angenommen und in den jährlichen Fest- und Trauertagskalender integriert.

Das zunächst geringe Interesse an der Shoah und ihren Überlebenden spiegelte sich auch in der Vermittlung der Shoah im israelischen Schulunterricht wider. Es war vom Lehrer abhängig, was, wie viel und mit welcher Intention unterrichtet wurde, denn der Lehrplan sah dieses Thema in den ersten Jahren nach der Staatsgründung nicht vor.

Die Verknüpfung zwischen Shoah und Heldentum war ebenso deutlich sowohl am Namen als auch an der Ausrichtung der staatlichen Gedenkstätte Yad Vashem (Rashut haSikaron leShoah veleGvura – Institution zum Gedenken an die Shoah und das Heldentum) zu erkennen, die sich stark am staatlichen Shoahgedenken orientierte. Ein provisorischer Vorstand für die Gedenkstätte Yad Vashem wurde im Auftrag des Jüdischen Nationalrats, des Jüdischen Nationalfonds und der Jewish Agency auf dem Zionistischen Kongress im August 1945 ernannt. Allerdings kam die Arbeit in den provisorischen Zweigstellen durch die politischen Unruhen in Palästina und den Unabhängigkeitskrieg fast völlig zum Erliegen. Auch in den ersten Jahren nach der Staatsgründung gestaltete sich die Arbeit schwierig, da für die israelische Regierung unter David Ben-Gurion der Staat Israel an sich zum Gedenken an die Shoah ausreichte und somit keine finanzielle Unterstützung für Yad Vashem gab. Erst durch das Yad-Vashem-Gesetz erhielt die Gedenkinstitution 1953 den Status der nationalen Shoahgedenkstätte und als Ort den Gedenkberg in Jerusalem. Die im Gesetzestext verankerten Aufgaben Yad Vashems beinhalteten das Sammeln sämtlicher Zeugnisse und Dokumente bezüglich der Shoah, die Verewigung des Gedenkens an die ermordeten Juden und die Vermittlung der Shoah an künftige Generationen. Die Leitung der Gedenkinstitution vertrat die offizielle staatliche Einstellung zur Shoah und in den ersten Jahren dominierten das Heldentum und der bewaffnete jüdische Widerstand.

Allerdings gab es neben dieser Art des Gedenkens auch zahlreiche privat von Überlebenden initiierte Gedenkformen. Es erschienen seit Ende der 1940er Jahre erste Yiskor-Bücher (Gedenkbücher), in denen der in den Ghettos und Lagern Ermordeten gedacht wurde, indem man sie namentlich – nach Gemeinden geordnet – nannte. Gedenktage zur Erinnerung an die Befreiung von Konzentrationslagern wurden eingeführt. Tage, an denen ganze Gemeinden fast ausgerottet worden sind, wurden zu Trauertagen ernannt. Es hatten sich viele Organisationen von Überlebenden einzelner Gemeinden sowie von Ghettokämpfern und Partisanen gegründet, die ihren Verwandten und Freunden auf diese Weise bzw. durch das Aufstellen von Gedenkplatten und –steinen ein ewiges Denkmal errichteten. Diese Aktivitäten wurden allerdings in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.

Die Integration der Shoahüberlebenden in die israelische Gesellschaft veränderte sich gegen Ende der 1950er Jahre. Viele von ihnen gehörten zu den bekannten Künstlern des Landes, wie z.B. Ruth Bondy und der unter dem Pseudonym Ka-Tzetnik 135633 publizierende Schriftsteller Yehiel Dinur, den Universitätsprofessoren, Yehuda Bacon, Professor für Bildende Kunst, und den Knessetabgeordneten, Mordechai Nurock und Menachem Begin. Trotzdem konnte dies nicht über das Schweigen über die Shoah – auf beiden Seiten – hinwegtäuschen. Zum einen waren die Überlebenden, die über ihre Lagererfahrungen sprechen konnten und wollten, zum größten Teil inzwischen verstummt, da ihnen niemand zuhören wollte, zum anderen waren viele aufgrund ihrer Traumatisierung nicht in der Lage, über diese schreckliche Zeit zu berichten. Eine substantielle Änderung der Einstellung innerhalb der israelischen Gesellschaft gegenüber den Überlebenden zeichnete sich erst durch den Eichmannprozess im Laufe des Jahres 1961 ab.

1961-1976

Der Prozess der Auseinandersetzung mit der Shoah und ihren Überlebenden innerhalb der israelischen Gesellschaft fand mit der öffentlichen Berichterstattung über den Eichmannprozess seinen Weg in beinahe alle israelischen Haushalte. Durch die Live-Übertragungen im israelischen Rundfunkprogramm und der intensiven Darstellung in den Printmedien führte die Omnipräsenz des Prozesses – vor allem in Form der Zeugenaussagen der Überlebenden – zu einer neuen Wahrnehmung der Shoah in allen Gesellschaftsschichten und in allen Altersgruppen des Landes. Sie trat in das allgemeine Bewusstsein ein. Viele Jugendliche hatten den Prozess intensiv verfolgt und hörten damit teilweise erstmals von den Erlebnissen der Überlebenden. So mit der Geschichte konfrontiert, entwickelten sie Mitleid und Mitgefühl für die Opfer.

Die ersten Eindrücke nach dem Eichmannprozess beschränkten sich allerdings vor allem auf die Empathie mit den Opfern. Innerhalb der verschiedenen Gesellschaftsbereiche fand nur langsam eine Einbindung der Shoah statt. So errichtete 1961 die Bar-Ilan-Universität den ersten Lehrstuhl für Holocaust Studies in Israel. Ein Jahr später wurde an der Hebräischen Universität Jerusalem das Institut for Contemporary Jewry gegründet sowie ein Lehrstuhl für Holocaust Studies eingerichtet.

Mit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 und dem Yom-Kippur-Krieg 1973 änderte sich die Wahrnehmung gegenüber den Überlebenden und das allgemeine Verhältnis zur Shoah innerhalb der israelischen Gesellschaft erneut. Trotz der Empathiebekundungen für die Opfer im Zuge des Eichmannprozesses überwog noch immer das Vorurteil, dass die meisten Verfolgten "wie die Lämmer zur Schlachtbank" geführt worden seien und sich nicht gegen das nationalsozialistische Regime gewehrt hätten.

Bereits am Vorabend des Sechs-Tage-Krieges fühlte sich Israel von den USA und Europa allein gelassen gegen die feindlich gesinnten arabischen Nachbarstaaten. Die Angst vor einer Vernichtung des israelischen Staates und seiner Bevölkerung durch die Nachbarstaaten steigerte sich nochmals kurz vor Ausbruch des Krieges.

Eine weitere und größere Zuspitzung der Situation erfolgte während des Yom-Kippur-Krieges. Israel wurde an dem höchsten Feiertag des jüdischen Kalenders angegriffen. Nur mit Mühe konnte die israelische Armee nach Tagen permanenter Kämpfe das militärische Gleichgewicht zurückerlangen. Zwar unterstützten die USA Israel durch eine Luftbrücke mit Waffenlieferungen, doch konnte dies das überwiegende Gefühl des Alleingelassenseins nicht mindern. Nach dem für Israel siegreichen Ende des Sechs-Tage-Krieges hatte eine euphorische Stimmung im Land geherrscht. Man hatte die Gegner in ihre Schranken verwiesen und große Teile neuen Territoriums für sich gewinnen können. Die Kriegshelden wurden hoch verehrt. Dem Yom-Kippur-Krieg folgte dagegen keine positive, sondern eine eher nachdenkliche Stimmung im Land. Die Angst hatte Spuren hinterlassen.

Bis Anfang der 1970er Jahre gehörten in der offiziellen Gedenkkultur die beiden Begriffe Shoah und Heldentum eng zusammen, doch nach dem Yom-Kippur-Krieg wurde diese Konstellation der Begriffe hinterfragt.

Aus dem Mitleid mit den Opfern der Shoah entwickelten viele Israelis nach den Erfahrungen der beiden Kriege Verständnis für ihre Situation. Teilweise war es ihnen sogar möglich, sich mit ihnen zu identifizieren und zu verstehen, dass es in manchen Situationen einfach unmöglich ist, bewaffneten Widerstand zu leisten.

In den Jahren zwischen dem Eichmannprozess bis zum Ende des Yom-Kippur-Krieges veränderten sich in Israel die Wahrnehmung und Einstellung gegenüber den Überlebenden sehr stark. Diese knapp 13 Jahre bildeten eine wichtige Phase des in Israel seit den 1950er Jahren bis heute andauernden und sich verändernden Prozesses des Umgangs mit der Shoah im Allgemeinen und ihrer Überlebenden im Besonderen. In diese Zeit fiel der Wandel von einer ablehnenden bis negativen Haltung zu einer positiven und selbstidentifizierenden Wahrnehmung der Überlebenden seitens der israelischen Bevölkerung.

Als Folge dessen sind die Besucherzahlen in den bereits existierenden Gedenkstätten Yad Vashem (1954 eröffnet), Martef haShoah (eröffnet 1949) und Beit Lohamei haGetaot (ebenfalls 1949 eröffnet) gestiegen und weitere privat organisierte Shoahgedenkstätten gegründet worden. Als Folge des Eichmannprozesses ist die Aufnahme der Shoah in das Schulcurriculum zu betrachten. Dieses sah vor, dass in der Woche vor dem Yom haShoah in den oberen Klassen eine thematische Auseinandersetzung im Rahmen von sechs Unterrichtsstunden stattfinden sollte. Darüber hinaus besuchten in den Jahren 1966 und 1967 erstmals Schülergruppen aus Israel polnische Gedenkstätten an den Orten ehemaliger Vernichtungslager. Allerdings musste dieses Projekt wegen des Sechs-Tage-Krieges zunächst abgebrochen werden.

Auch wenn im staatlichen Shoahgedenken noch immer der bewaffnete Widerstand im Vordergrund stand, fanden doch Gedenkformen, die aus privater Initiative entstanden sind, sukzessive Eingang in das staatliche Gedenken. So publizierte z.B. die nationale Gedenkstätte Yad Vashem seit den späten 1960er Jahren ebenfalls Gedenkbücher, die einzelnen Gemeinden – nach Ländern geordnet – gewidmet sind. Dieses Projekt hält bis heute an.

1977 bis heute

Der Regierungswechsel von der Arbeiterpartei zum Likud unter Menachem Begin im Jahr 1977 bedeutete nicht nur einen Machtwechsel in Israel, sondern läutete auch einen Generationswechsel nach der Ära der Gründerväter um David Ben-Gurion ein. Menachem Begin, selbst Überlebender, benutzte den Begriff Shoah so häufig wie kein anderer Politiker vor und nach ihm. Durch ihn wurde die Instrumentalisierung des Begriffes in der israelischen Öffentlichkeit salonfähig und wird bis heute weiter praktiziert. Die Shoah fand spätestens durch die permanente Präsenz in den Medien, Eingang in den Alltag der israelischen Bevölkerung. In der Politik und im öffentlichen Leben wurde der Shoaherinnerung ein immer größerer Raum zuteil.

Damit setzte sich aber auch die Instrumentalisierung fort und war besonders in politischen Krisensituationen, wie dem Libanonkrieg, dem Golfkrieg und der ersten und zweiten Intifada sowie der Siedlertätigkeit bzw. während der Räumungen von Siedlungen präsent. Folgende Beispiele, wie die medialen Vergleiche zwischen Yassir Arafat und Adolf Hitler; das Verteilen von Gasmasken während des Golfkrieges zum Schutz vor einem eventuellen Giftgasangriff und der damit einhergehenden Parallele zu den Gaskammern in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern oder das Anstecken des Gelben Sterns von Siedlern, die gegen die Räumung des Gazastreifens demonstrierten, verdeutlichen die Allgegenwart der Shoah in der Öffentlichkeit. Die Instrumentalisierung erweiterte sich zu einem Prozess der Mythologisierung der Shoah, der die israelische Bevölkerung weitestgehend einigte. Durch die fehlende Unmittelbarkeit zu den historischen Geschehnissen, was durch das Ausscheiden der Zeitzeugen bedingt war, kam es zu einer gleichzeitigen Überhöhung und Profanisierung der Shoah. Dies äußerte sich z.B. in dem Vergleich zwischen der Shoah und anderen politische Ereignissen, wie etwa Menachem Begins Libanon- und Anti-PLO-Politik.

Gerade nach der Generation der Gründerväter brauchte das Land, neben der Religion, neue Mythen und einigende Ereignisse. Durch die zunehmende Zentralität der Shoah wurde sie als Element der kollektiven Erinnerung zum Identitätsstifter schlechthin, zum Grundpfeiler der "säkularen Religion" Israels.

Somit hat sich die Einstellung der israelischen Gesellschaft gegenüber der Shoah und ihren Überlebenden von anfänglicher Distanzierung, Abwertung und Klischeevorstellungen über die Auseinandersetzung, bedingt durch den Eichmannprozess, bis hin zu Instrumentalisierung und Mythologisierung gewandelt.

Diese Veränderungen sind nicht nur in den israelischen Shoahgedenkstätten deutlich geworden, sondern auch an der Vermittlung der Shoah im israelischen Schulunterricht. Infolge der beiden Kriege und des Regierungswechsels erfolgte Ende der 1970er Jahre eine Überarbeitung des Schulcurriculums und dem Thema Shoah wurde eine höhere Stundenzahl im Unterricht eingeräumt. Allerdings wies der Unterricht noch immer substantielle Schwachstellen auf. So wurde mehr der emotionale denn der wissenschaftliche Aspekt angesprochen und es fehlte die Einbettung in den historischen Kontext. Nachdem diese Mängel erkannt worden waren, änderte sich der Unterricht und gestaltete sich in den letzten 20 Jahren immer umfang- und inhaltsreicher. Seit Ende der 1980er Jahre begannen erneut die Fahrten nach Polen und sind bis heute – mit dem regelmäßigen Besuch israelischer Shoahgedenkstätten – integraler Bestandteil des Shoahunterrichts.

Heute ist die Shoah eines der wichtigsten identitätsstiftenden Elemente der israelischen Gesellschaft, der ashkenasischen und der sephardischen, der säkularen und größtenteils auch der religiösen Israelis. Bei einer aktuellen Umfrage aus dem Jahr 2007, die von Yad Vashem durchgeführt wurde, kam es zu dem Ergebnis, dass 89% der jüdischen Bevölkerung Israels das Shoahgedenken als bedeutenden Bestandteil ihrer Identität ansehen. Bemerkenswert daran ist, dass die Bedeutung der Shoah sowohl bei ashkenasischen als auch sephardischen Jugendlichen beinahe den gleichen Stellenwert einnimmt.

Heute gibt es in Israel etwa zehn Shoahgedenkstätten, viele Denkmäler und unzählige Gedenksteine. Das Spektrum der Gedenkformen in Israel reicht von privatem über öffentliches bis hin zum offiziellen Gedenken; von religiös-zionistischem, säkular-zionistischem bis zum säkularen Gedenken. Es ist so breit gefächert wie in keinem anderen Land auf der Welt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Segev, Tom: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung. Hamburg 1995. S. 162, 164.

  2. Zertal, Idith (2003): Nation und Tod. S. 108

  3. "Mythologisierung" bedeutet keineswegs eine absichtliche Fälschung der historischen Tatsachen, sondern eine Haltung gegenüber bestimmten Abschnitten, die durch den Verlust an Unmittelbarkeit und durch Werturteile bezüglich des historischen Phänomens den Rang eines Mythos erreichen. (aus: Zimmermann, Moshe: Israels Umgang mit dem Holocaust. S. 390)

  4. Zimmermann, Moshe: Wende in Israel. Zwischen Nation und Religion. Berlin 1997 S. 87

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Anja Kurths studierte Jüdische Studien, Neuere Geschichte und Religionswissenschaft an der Universität Potsdam. Sie promovierte am DFG-Graduiertenkollegs MAKOM an der Universität Potsdam zum Thema Umgang mit der Shoah in Israel.