Die meisten der über 500.000 deutschen Juden und Jüdinnen fühlten sich ihrem Heimatland durch Sprache, Kultur und Geschichte so eng verbunden, dass sie die Auswanderung als praktisch undenkbar betrachteten. 1938 änderte sich dies für viele.
Diese Karte wurde von Fritz Freudenheim im Alter von zwölf Jahren an Bord des Schiffs Jamaïque gemalt, mit dem seine Familie im Oktober 1938 von Hamburg nach Montevideo in Interner Link: Uruguay ausreiste. Die Karte wurde zur Grundlage eines umfangreicheren Buchs über dieselbe Reise, das 2006 vom Jüdischen Museum Berlin herausgegeben wurde. Einige Jahre später widmete Fritz (der sich nun Federico nannte) das Buch seinem Enkel aus Anlass von dessen Bar Mitzwa. Federico entsann sich, dass kurz nach der Ankunft in Montevideo seine eigene Bar Mitzwa stattgefunden hatte. Die Familie konnte sich nur eine äußerst bescheidene Feier in der lokalen Synagoge leisten. Fredericos einzige Erinnerung an seine Bar Mitzwa war eine gelbe Kippa, die ihm sein Onkel Max schickte, der nach Palästina ausgewandert war. Bis heute befindet sich diese Karte im Besitz der Familie Freudenheim in São Paulo, Brasilien.
Historischer Kontext
Juden, die von der Verfolgung durch die Nazis bedroht waren, mussten nicht nur mit Ozeanen, sondern auch mit einem Meer von Bürokratie fertig werden, um in Sicherheit zu gelangen.
Das Objekt zeigt eine historische Landkarte, gezeichnet vom damals zwölfjährigen Fritz Freudenheim während seiner Überfahrt auf der Jamaïque von Hamburg über Antwerpen, Le Havre, Lissabon, Casablanca, Rio de Janeiro nach Montevideo, Uruguay im Interner Link: Herbst 1938. Es bildet das bewegte Leben eines Kindes ab, das bereits in jungen Jahren gezwungen war, seine "alte Heimat" zu verlassen, um auf einem anderen Kontinent eine "neue Heimat" zu finden. Die Karte ist jedoch nicht nur das Zeugnis einer persönlichen Odyssee. Vielmehr spiegeln sich im Schicksal des jungen Freudenheim zentrale Momente der jüdischen Geschichte der Moderne und insbesondere der Zeit des Interner Link: Nationalsozialismus. Geboren 1926 in Berlin, hatte Fritz Freudenheim den Großteil seiner Kindheit in einer thüringischen Kleinstadt verbracht, bevor er mit seiner Familie Anfang 1938 nach Berlin zurückging, um es wenige Monate später zu verlassen und Deutschland für immer den Rücken zu kehren.
Interner Link: Migrationsbewegungen sind ein fester Bestandteil der jüdischen Geschichte. Die große jüdische Migrationswelle des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts unterschied sich dabei nur wenig von der allgemeinen. Abermillionen Juden und Nichtjuden zogen aus Europa vorwiegend nach Amerika, um dort ein neues Leben zu beginnen. Die Ursachen waren zumeist ökonomischer Art, wenn auch häufiger politische Gründe hinzukamen. Insbesondere Glaubensfragen und auf Religion beruhende Diskriminierung konnten Migrationswellen auslösen. Nordamerika wurde so zum Refugium sowohl unterdrückter Protestanten als auch verfolgter Juden.
Die globale Situation änderte sich im Verlauf des frühen 20. Jahrhundert entscheidend. Mit der flächendeckenden Einführung von Reisepässen und Visa sollten Migrationsströme kontrolliert und unterbunden werden. Bereits vor aber mehr noch nach dem Ersten Weltkrieg bestimmten Nationalismus und ökonomischer Interner Link: Protektionismus die Politik vieler Staaten, begünstigt schließlich durch die Verheerungen der 1929 einsetzenden Interner Link: Weltwirtschaftskrise. Als Interner Link: 1933 in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kamen, war Migration zu einem komplizierten Unterfangen geworden.
Dennoch mussten tausende Menschen unmittelbar das Land verlassen, vorwiegend politische Gegner des Nationalsozialismus. Sie fügten sich ein in die Millionenschar politischer Interner Link: Exilanten, die das Interner Link: faschistischeInterner Link: Mussolini-Regime in Italien hervorgebracht hatte und die infolge des Interner Link: Spanischen Bürgerkriegs 1936–1939, des Nationalsozialismus und einer autoritären Wende in ganz Europa immer weiter anwachsen sollte. Der Großteil derjenigen deutschen Juden, die nicht politisch verfolgt wurden, floh jedoch zunächst nicht und versuchte, sich mit den neuen Verhältnissen so gut es ging zu arrangieren.
Die meisten der über 500.000 deutschen Juden fühlten sich mit ihrer Heimat durch Sprache, Kultur und Geschichte so eng verbunden, dass eine Auswanderung kaum denkbar erschien. Auch wenn das nationalsozialistische Regime die Ausgrenzung der Juden schrittweise forcierte, schien es bis Ende 1937 so, als würde eine Zukunft der jüdischen Gemeinschaft auf deutschen Boden möglich sein. Und nicht zuletzt war es dazumal noch undenkbar, dass ein so zivilisiertes Volk wie die Deutschen den Juden nach dem Leben trachten könnte.
Doch selbst wenn man die Auswanderung erwog, waren die Hürden vielfältig und hoch. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise und nationalistischer Bewältigungsstrategien ließen viele Staaten nur eine sehr begrenzte Anzahl an Immigranten ins Land und verschlossen ihre Arbeitsmärkte vor ihnen. Um überhaupt einwandern zu können, musste man häufig beträchtliche Vermögenswerte vorweisen, deren Ausfuhr vom deutschen Staat jedoch nahezu unmöglich gemacht wurde.
Hinzu kam ein undurchsichtiges Netz an Reiseregularien. Nicht nur benötigte man gültige Reisepapiere des Herkunftslands und eine Aufenthaltsgenehmigung im Interner Link: Zielland, sondern Visa und Transitvisa für alle Stationen der Überfahrt. Im Falle der Familie Freudenheim waren dies beispielsweise Transitvisa für Belgien, Frankreich, Portugal, Marokko, und Brasilien, die jedoch nur zeitlich begrenzt ausgegeben wurden und daher bisweilen wiederholt beantragt werden mussten, wenn sich die Ausgabe anderer Visa entlang der Reiseroute verzögerte.
Folglich wanderte bis Ende 1937 lediglich ein Viertel der jüdischen Bevölkerung (129.000 Menschen) aus Deutschland aus. 1938 verschärfte sich jedoch der Druck. Beginnend mit dem Interner Link: "Anschluss" Österreichs im März und endgültig nach der Interner Link: Kristallnacht im November wurden die deutschen Juden von den Nationalsozialisten aus ihrer Heimat getrieben. Bis zum Verbot der Auswanderung im Oktober 1941 flohen weitere 140.000 Menschen und bis zum Ende des Krieges gelang es ungefähr zwei Dritteln der deutschen Juden zu entkommen. Die meisten von ihnen fanden Zuflucht in europäischen Staaten wie Frankreich, Portugal, Italien oder Großbritannien, sowie in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Argentinien und anderen südamerikanischen Staaten, in Interner Link: Palästina aber auch in Shanghai.
Auch wenn alle Interner Link: jüdischen Emigranten vor dem Antisemitismus und den Nationalsozialisten flohen, war jedes Schicksal doch individuell und einzigartig. Das Erlernen neuer Sprachen, die Integration in andere Kulturen, Gesellschaften, und Religionsgemeinschaften oder die Umstellung auf neue Berufe waren Hürden, die unterschiedlich gemeistert wurden. Vielen, insbesondere den Jüngeren wie beispielsweise Fritz Freudenheim, gelang es, ein neues Leben in einer "neuen Heimat" aufzubauen, anderen wiederum sollte dieser Übergang nie gelingen.
Persönliche Geschichte
"Von der alten Heimat zu der neuen Heimat" – Fritz Freudenheims Reise
Der Junge, der die Karte "Von der alten Heimat zu der neuen Heimat!" 1938 im Alter von zwölf Jahren an Bord der Jamaïque zeichnete, war Fritz Freudenheim. Geboren am 11. Juli 1926 in Berlin, zog Fritz mit seiner Familie ein Jahr später ins thüringische Mühlhausen, wo er die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte. Aufgrund verschiedener Haut- und Atemwegserkrankungen war er ein schüchternes und zurückhaltendes Kind, das nur wenige Freunde hatte. Mit dem Beginn der Naziherrschaft 1933 verschärfte sich die Isolation schlagartig. In der Schule spielte und sprach niemand mehr mit ihm, er wurde vom Rest der Schüler ferngehalten und weder seine Familie noch er selbst hatten jüdische Freunde oder Bekannte, die einen sozialen Ausgleich hätten bilden können.
Als die Situation unerträglich wurde, zogen die Freudenheims schließlich im März 1938 nach Berlin. Im Vergleich zur Provinz bot die Großstadt den Schutz der Anonymität und eine noch immer umfangreiche jüdische Gemeinschaft, die soziale Kontakte, religiöses Leben sowie bisweilen auch Verdienstmöglichkeiten bot. Für Fritz war es die wohl schönste Zeit seit Jahren. In einem ausschließlich jüdischen Umfeld wurde er akzeptiert, schloss Freundschaften und erholte sich etwas von den negativen Erfahrungen der Vorjahre. Für Fritz‘ Eltern muss die Situation eine andere gewesen sein. Der Umzug nach Berlin war wohl eher die Vorbereitung der Emigration, die unheimlich aufwändig war. Das Grundstück in Mühlhausen musste (zu einem Schleuderpreis) verkauft, Visa besorgt, eine Schiffsreise gebucht und alles genau aufeinander abgestimmt werden. Wenn wir auch nichts Genaues wissen, ist dennoch davon auszugehen, dass die Auswanderung bereits seit Ende 1937 geplant wurde, um sie schließlich ein knappes Jahr später in die Tat umsetzen zu können.
Ende Oktober 1938 machte sich die Familie schließlich nach Hamburg auf, um von dort Deutschland zu verlassen. Der Abschied muss bedrückend gewesen sein. Zum einen bestand die Unsicherheit fort, ob auch alles gutgehen würde, beginnend bei der Ausreise über die verschiedenen Schiffsrouten bis hin zur Ankunft in Uruguay, das die Familie als Emigrationsziel ausgewählt hatte. Zum anderen mussten viele Menschen zurückgelassen werden, von denen man nicht wusste, ob man sie jemals wiedersehen würde: Tanten, Onkel, Verwandte, und Bekannte aber vor allem Fritz‘ Großmutter Jetka und sein engster Freund Hambi (Kurt Hamburger).
Von Berlin ging es nach Hamburg. Hier schifften sich die Freudenheims auf die Jamaïque ein, auf der sie über Antwerpen, Le Havre, Lissabon, Casablanca, Rio de Janeiro nach Montevideo (Uruguay) fuhren, wo sie schließlich nach einer fünfwöchigen Reise am 30. November 1938 ankamen. Auf dem Schiff zeichnete Fritz jene Karte, die ihm Orientierung bieten sollte, zum einen für die Überfahrt selbst, zum anderen aber vermutlich auch als Erinnerungsstütze für sein junges und doch schon so turbulentes Leben.
Die Ankunft war schwierig. Viele Jahre kämpften die Freudenheims für ein anständiges wirtschaftliches Auskommen, das ihrem komfortablen, mittelständigen Leben in Deutschland jedoch nie wieder nahekommen sollte. Fritz kämpfte vor allem mit der Sprache, die er neu erlernen musste. Als ihm das schrittweise gelang, wurde sein Leben auch wieder glücklicher. Fritz, der sich nun Federico nannte, wuchs in Sicherheit auf, lernte in jungen Jahren seine spätere Frau Irene kennen, zog 1955 nach Brasilien, bekam Kinder und führte ein langes Leben, bevor er am 15. März 2008 in São Paulo im Alter von 81 Jahren verstarb.
David Jünger ist DAAD Lektor in Modern European History an der University of Sussex (Brighton, UK). Seine Schwerpunkte sind Jüdische Geschichte, Europäische Geschichte und Geschichte der Migration. Seine jüngste Buchpublikation ist Jahre der Ungewissheit. Emigrationspläne deutscher Juden 1933-1938, das 2016 bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen ist.
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