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Keine Checkliste für Radikalisierung Interview mit Pierre Asisi von ufuq.de
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Das Spielfilmdrama „Der Himmel wird warten“ thematisiert die Frage, was junge Frauen in Europa dazu bringt, sich dem Dschihad anzuschließen. Wie können sie den Weg zurück in unsere Gesellschaft finden?
ufuq.de
ufuq.de ist ein anerkannter Träger der freien Jugendhilfe und in der politischen Bildungsarbeit und Prävention zu den Themen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus aktiv. Bundesweit fungiert Externer Link: ufuq.de als Ansprechpartner für Pädagog*innen, Lehrkräfte und Mitarbeiter*innen von Behörden.
Vor dem Hintergrund der Geschichte der Protagonistin Mélanie gefragt: Wie kann man Anzeichen einer Radikalisierung in seinem Umfeld erkennen? Wann und wie sollte man eingreifen?
Pädagogische Fachkräfte sollten generell auf Veränderungen bei Jugendlichen achten und gegebenenfalls das Gespräch mit der betreffenden Person suchen – offen, mit einer gewissen Sensibilität, erst mal ganz ohne Alarmglocken. Wenn jemand sich zum Beispiel entschließt, einen Hijab zu tragen, ist das ja kein Alarmsignal. Übertriebene Reaktionen darauf können einen potenziellen Radikalisierungsprozess sogar unterstützen. Man muss versuchen zu verstehen: Was hat das zu bedeuten? Was passiert da eigentlich gerade in diesem Leben? Muss ich mir Sorgen machen? Es gibt keine Checkliste, die man abarbeiten kann, um Radikalisierungsprozesse zu identifizieren. Wenn man aber mehrere Signale gleichzeitig beobachtet, dass sich jemand anders kleidet, sich isoliert, mit bestehenden sozialen Kontakten, früheren Gewohnheiten und Hobbys bricht und abwertende Positionen vertritt, zeugt das ziemlich klar von einem Problem, von einer Krise. Das zeigt der Film auch sehr deutlich.
Was tut man, wenn man solch einen radikalen Bruch mit dem Umfeld bemerkt?
Dann sollte man professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. In Deutschland gibt es zum Glück gute Beratungsstellen (Siehe Infokasten unten). Wenn es einen konkreten Fall gibt, arbeiten diese direkt mit Betroffenen oder deren Angehörigen. Dazu können dann auch Lehrkräfte oder Jugendarbeiter*innen, Sporttrainer*innen etc. an einen Tisch kommen und gemeinsam besprechen, an welchen Stellen man ansetzen kann. Dabei kann es auch ganz einfach um Unterstützung bei der Berufswahl oder ähnliche Dinge gehen.
Wie kann man Jugendliche, die sich wie Mélanie in einem Radikalisierungsprozess befinden, überhaupt noch erreichen?
In der konkreten Deradikalisierungsarbeit mit bereits ideologisierten Jugendlichen sind wir bei ufuq.de nicht beschäftigt. Allgemein lässt sich aber sagen, dass es in solchen Fällen definitiv schwierig ist, einen Kulturkampf oder ein theologisches Streitgespräch führen zu wollen. Es macht zum Beispiel keinen Sinn, über „deutsche“ oder „demokratische“ Werte zu referieren. Und wenn man über Auslegungsfragen diskutieren will, ist die Reaktion natürlich die: „Ich weiß es ja besser als die. Was wollen die mir vom wahren Islam erzählen?“ Der Film stellt das gut dar: Mit einer religiös logischen Argumentation erreicht Dounia Bouzar bei Sonia zunächst eher weniger. Auf einer emotionalen Beziehungsebene ist viel mehr möglich – durch die gemeinsame Erinnerung der Familie an schöne Erlebnisse etwa. Der betroffene Mensch hat vielleicht einfach eine Lebenskrise. Man muss sich fragen, wo man ihn unterstützen kann. Es geht um eine offene Haltung und um ganz individuelle Beziehungsarbeit. Im nächsten Schritt kann dann eine Diskussion folgen.
ufuq.de arbeitet in der Primärprävention. Ihre pädagogischen Angebote greifen also, noch bevor es zu Radikalisierungstendenzen kommt. Wie sehen diese Angebote aus?
Wir arbeiten mit Ansätzen der politischen Bildung. Wir erklären den Jugendlichen nicht: „Hey, Islamismus ist schlecht.“ In der Regel wissen die das schon, und wenn sie tatsächlich anderer Meinung sind, dann überzeugt sie das auch nicht mehr. Wir schauen vielmehr, welche Themen für die Jugendlichen relevant sind: Worüber haben sie das Bedürfnis zu sprechen? Welche Themen greifen islamistische Angebote auf – so wie die dschihadistischen Videos etwa, die Mélanie im Film sieht. Wenn in der Schule über internationale Ungerechtigkeit oder den Nahostkonflikt gesprochen wird, dann geht es meistens um Antisemitismus, Radikalisierung – Themen also, bei denen sich Jugendliche schnell unter einem Generalverdacht sehen. Es fehlen Räume, wo sich Jugendliche zu solchen Themen einfach so mal kontrovers äußern und vielleicht auch über die Stränge schlagen können, ohne direkt bewertet zu werden.
Was ist wichtig im Umgang mit den Jugendlichen?
Dounia Bouzars Zentrum für Prävention, Deradikalisierung und individuelle Betreuung (CPDSI) macht das Brainwash- Modell sehr stark. Dafür ist es auch kritisiert worden. Es wird das Bild vermittelt, dass die Jugendlichen rein passiv sind und online gebrainwasht werden. Abgesehen davon, dass in aller Regel auch offline-Bezugsgruppen eine sehr wesentliche Rolle in solchen Prozessen spielen, müsste man da fragen: Wer hat die Anwerber denn wiederum radikalisiert? Es ist wichtig zu schauen, wo sich Jugendliche aktiv hinorientiert haben und sie nicht nur als passive Wesen zu verstehen, die von einer fremden Macht umgepolt wurden. Interessanter ist für die Pädagogik, sich die Frage zu stellen, wieso der Islamismus attraktiv für Jugendliche sein kann. Nicht zuletzt eben, weil es in Politik, Medien oder Schule zu wenig Räume für die Themen und Fragen von Jugendlichen gibt, können ideologische Akteure dieses Vakuum mit ihren Antworten besetzen. Unsere Workshops können als solche Räume verstanden werden.
Welche Themen sind es, die bei Ihrer präventiven Arbeit mit Jugendlichen im Fokus stehen?
Wir orientieren uns zum Beispiel an niedrigschwelligen Angeboten wie denen von „Generation Islam“ (seit 2013 aktive Gruppierung, die vor allem in den sozialen Medien aktiv ist und wegen ihrer Nähe zur in Deutschland verbotenen islamistischen Gruppierung Hizb ut-Tahrir u.a. vom Hamburger Verfassungsschutz als islamistisch eingestuft wird. 2018 schaffte es ihr Hashtag #NichtOhneMeinKopftuch in die Top-Trends von Twitter, Anm. d. Red.).
Isoliert betrachtet sind viele Posts von solchen Initiativen unproblematisch oder sprechen berechtigterweise Konflikte an. Erst nach hinten raus wird ein gefährliches Schwarz-Weiß-Bild vermittelt. Bestimmte real existierende Missstände, an denen auch ideologische Akteure ansetzen können, beschäftigen viele Jugendliche. Dementsprechend sind sie auch bei uns stark vertreten: Rassismus, Geschlechterrollen, Gerechtigkeit. Mit der eindeutigen Antwort, die in diesem Kontext auf die Sinnsuche gegeben wird, können wir aber natürlich nicht konkurrieren. Wir wollen eher zeigen: Man muss Widersprüche aushalten. Und wir wollen die jungen Leute zur Reflexion darüber anregen, dass ihre Identität vielschichtiger ist.
Wie gehen Sie in Ihren Workshops ganz konkret vor, um das zu erreichen?
Wir arbeiten häufig mit „alternative narratives“, zum Beispiel mit Videos, die unterschiedliche Formen zeigen, wie man Sexualität im Islam ausleben kann. Wir bewerten nicht, ob das richtig oder falsch ist. Es geht vielmehr darum, eine Diskussion, ein Gespräch unter den Jugendlichen zu initiieren, sich auszutauschen und zu zeigen: Es gibt sehr viele unterschiedliche Einstellungen, auch im Islam, und damit muss man klarkommen. Wir zeigen diese Vielfalt, die eine gesellschaftliche Realität ist, weil sie auch medial oft zu kurz kommt.
Welches Potenzial hat ein Film wie „Der Himmel wird warten“ in der Radikalisierungsprävention?
Solche biografischen Beispiele eignen sich generell gut, um das Thema mit Jugendlichen zu behandeln. Der Film zeigt auch viele Aspekte recht anschaulich: die zentrale Rolle der Lebenskrise bei Mélanie, die Auswirkungen der Radikalisierung bei Sonia. Und er zeigt, wie religiöse Fundamentalisten andere Muslime zu Nicht-Muslimen erklären und so mit traditionellen Formen von Religion brechen. Da bemüht sich der Film sehr um eine differenzierte Darstellung. Man sollte aber auf jeden Fall auf die Rahmung achten, in dem diese pädagogische Arbeit stattfindet, und den Fokus hinterfragen. Islamismus kennen die Jugendlichen in der Regel nur aus den Medien. Rechte Einstellungen bei Jugendlichen und die Betroffenheit davon sind ein viel präsenteres Thema, das auch mit Radikalisierung zu tun hat. Es sollte im Kontext von Radikalisierung also zum einen nicht nur um Islamismus gehen. Zum anderen ist es im Sinne von Universalprävention und demokratiefördernder politische Bildung insgesamt wichtiger und pädagogisch wirksamer, antimuslimischen Rassismus zu thematisieren als gegen Islamismus zu argumentieren. Im Film geht es um zwei Mädchen, die nicht explizit rassistische Diskriminierung erfahren haben. Das hat einerseits den Vorteil, dass Radikalisierung nicht auf eine Reaktion auf Diskriminierungserfahrungen reduziert wird, aber auch den Nachteil, dass rassistische Diskriminierung überhaupt kein Thema ist.
Gibt es weitere Aspekte, die in der filmischen Darstellung Ihrer Meinung nach zu kurz kommen?
Politische Maßnahmen, die auch zur Radikalisierung beitragen, werden komplett ausgespart, obwohl das ein wichtiger Aspekt ist. Diskriminierende rassistische Politik, die es überall in Europa gibt, sieht man auch in Frankreich deutlich. In Reaktion auf die Terroranschläge in Paris vom 13. November 2015 hat François Hollande den Ausnahmezustand verhängt und die Einführung eines Gesetzes angekündigt, das den Entzug der französischen Staatsbürgerschaft für Terroristen ermöglichen sollte. Das ist reine Symbolpolitik, die die Stigmatisierung von Musliminnen und Muslimen fördert. Die damalige Justizministerin Christina Taubira ist aus Protest zurückgetreten und Dounia Bouzars Organisation hat daraufhin den Betrieb eingestellt, weil sie nicht mehr vom Innenministerium finanziert werden wollte. Da liegt ein großer Widerspruch: Man nimmt Geld vom Staat, um als Feuerlöscher zu fungieren, aber der Staat arbeitet an anderer Stelle der Prävention selbst entgegen. Im Zuge des Ausnahmezustands wurden auch in großem Maße Razzien durchgeführt, die Human Rights Watch als „missbräuchlich und diskriminierend“ bezeichnet hat. Seit 2018 gilt an französischen Schulen ein strenger Laizismus-Leitfaden. In Verbindung mit der herrschenden sozialen Ungerechtigkeit kann ein autoritär durchgesetztes laizistisches Selbstverständnis des Staates als eine Ursache für Radikalisierungen und gesellschaftliche Konflikte angesehen werden.