Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Ausgleich oder Spaltung? | Stadt und Gesellschaft | bpb.de

Stadt und Gesellschaft Stadt und Geschichte Geschichte der Stadtentwicklung Wohnungsbaupolitik in historischer Perspektive Stadterneuerung, Geschichtspolitik und Tourismus Stadt und Ökonomie Wirtschaftlicher Strukturwandel und Stadtentwicklung Unternehmerische Stadt Stadtentwicklung und soziale Ungleichheit Transformation kommunaler Handlungsspielräume Stadt und Demografie Schrumpfung von Städten und dessen Folgen Wachsende Städte im schrumpfenden Deutschland Strategien im Umgang mit Schrumpfung Aufrechterhaltung gleichwertiger Lebensverhältnisse Stadt und Wohnen Rückkehr der Wohnungsfrage Etablierung großer Wohnungskonzerne Wohnungen und Immobilien als Kapitalanlage Gentrifizierung: Ursachen, Formen und Folgen Wohnraumversorgung jenseits des Wohnungsmarkts Stadt und öffentlicher Raum Prinzip des öffentlichen Raums Öffentlicher Raum und soziale Kontrolle Ökonomisierung des öffentlichen Raums Stadt und Migration Zuwanderung in die Städte Konzept "Ankunftsstadt" Segregation und Integration Stadt und Umwelt Natur und Stadtentwicklung Biodiversität und Stadtplanung Sozialverträglichkeit und Umweltorientierung Stadt im Klimawandel Stadt und Partizipation Bürger und Stadtentwicklung Protestpartizipation in der lokalen Demokratie Konzept Quartiermanagement Partizipationskritik in der Stadtentwicklungspolitik Glossar Archiv Segregierte Stadt Einführung Interview Einblicke Unternehmerische Stadt Unternehmerische Stadt Interview Privatisierung öffentlichen Wohneigentums Einblicke Ausblicke Schrumpfende Stadt Einführung Interview Überwachte Stadt Einführung Interview Soziale Stadt Einführung Interview Literatur Redaktion Redaktion

Ausgleich oder Spaltung? Möglichkeiten und Grenzen der Aufrechterhaltung gleichwertiger Lebensverhältnisse

Dirk Schubert

/ 12 Minuten zu lesen

Ob sich vor dem Hintergrund der Gleichzeitigkeit von Wachstum und Schrumpfung an der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse festhalten lässt, diskutiert Dirk Schubert.

(@ Meike Fischer)

Die Kluft zwischen städtischen und ländlichen Lebensbedingungen droht auseinanderzudriften. „Einst waren Städte wie Babylon, Rom oder Jerusalem das Symbol einer ganzen Welt, heute ist die ganze Welt im Begriff eine Stadt zu werden.“ Zu diesem Schluss kam der amerikanische Stadtforscher Lewis Mumford bereits Anfang der 1960er Jahre in seinem Klassiker „Die Stadt: Geschichte und Ausblick“ (1987). Der aktuelle Trend bestätigt seine Prognose: Lebten um 1900 nur rund 13 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, waren es 2010 bereits mehr Menschen in urbanen Ballungszentren als auf dem Land. Bis Mitte dieses Jahrhunderts werden nach Prognosen der Vereinten Nationen sogar gut zwei Drittel der Erdbewohner in Stadtregionen gezogen sein. Wir leben längst im „Jahrtausend der Städte“, so der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan. Unterschiedliche Kulturen, Religionen, Herrschaftssysteme, Ethnien, Ökonomien, Planungen und Projekte haben Wachstum oder Schrumpfung von Städten seit deren Entstehung beeinflusst.

Gesellschaftlicher Wandel hat die Städte fortwährend verändert und Spuren, Verwerfungen und Überlagerungen befördert. Städte bilden ein Spiegelbild der jeweiligen politischen, rechtlichen und administrativen Gegebenheiten sowie historischer Prozesse von langer Dauer. Sie sind zudem Zentren der Innovationskraft. Wenn viele Menschen aufeinandertreffen, tauschen sie sich aus und inspirieren einander. Viele erwarten von einem Umzug deshalb bessere Bildungschancen, qualifizierte Jobs, höhere Einkommen, kurzum: eine stärkere Teilhabe am Wohlstand und Selbstverwirklichung. Urbanisierung ist eine globale Tendenz, die sich nahezu auf dem gesamten Erdball beobachten lässt. Die Schrumpfung der Bevölkerung in vielen wohlhabenden Industrieländern wird durch das Wachstum in den Ländern des globalen Südens überkompensiert.

Weltweit arbeiten Experten daher an Konzepten für eine Stadt der Zukunft, die den wachsenden Bedürfnissen ihrer Einwohner gerecht wird. Um den Moloch zu bändigen und Verkehrschaos, Wasserrohrbrüche, Stromausfälle oder wild wuchernde Abfallberge zu vermeiden und um den Folgen des Klimawandels mit resilienten Strategien zu begegnen, gilt es vor allem, die Infrastruktur aufzurüsten, nicht nur in den aufstrebenden Megacities der neuen Welt, sondern auch in den traditionsreichen Metropolen des alten Europas. Die überkommenen Systeme sind oft marode und überlastet. Höchst unterschiedliche Push- und Pull-Faktoren sind dabei am Werk. Sie befördern eine Verstärkung der sozioökonomischen Ungleichheiten zwischen Ländern, zwischen Stadt und Land sowie zwischen wachsenden und schrumpfenden Städten.

Gleichzeitigkeit von Wachstum und Schrumpfung

(Stadt-)Schrumpfung ist ein relativ neues und inzwischen weltweit verbreitetes Phänomen, das sich nicht nur in Folge äußerer Anlässe (wie Kriege, Epidemien, Natur- und Umweltkatastrophen) durchsetzt. Als Indikator für Schrumpfung bzw. Wachstum dient vor allem die Bevölkerungszahl, seltener die Anzahl der Arbeitsplätze oder räumliche Strukturveränderungen. Der Anteil der schrumpfenden gegenüber den wachsenden Städten ist in den letzten Jahrzehnten in den wohlhabenden Industrieländern kontinuierlich angestiegen. Symptome der Schrumpfung sind eine ökonomische Strukturkrise, der Leerstand von Büro- Gewerbeflächen und Wohnungen, der Rückgang der Geburtenraten und eine Überalterung der Bevölkerung. Während die Konnotationen von „Schrumpfung“ auf Krise, Krankes, Unattraktives oder Leidendes hinweisen, steht „Wachstum“ für Bewegung, Positives, Dynamisches.

Auch in Deutschland sind Wachstum und Schrumpfung von Regionen und Gemeinden meist mittelbare Folgen wirtschaftlicher Entwicklungspfade. Prosperierenden Regionen mit dynamischen, innovativen Wirtschaftsclustern stehen „abgehängte“, vielfach altindustrialisierte Verliererregionen gegenüber. Die Unterschiede in der Wirtschaftskraft von Regionen haben sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt. Unternehmerische Standortentscheidungen, private Arbeitsplatz- und Wohnstandortwahlen befördern und verstärken ungleiche Lebensverhältnisse. Während junge, gut ausgebildete Haushalte mobiler sind, verharren ältere und weniger gut ausgebildete Menschen an ihren Wohnstandorten. Distanz und Dauer der Wanderungen sind somit eng mit den Migrationsursachen verbunden. Die Wanderungsströme sind mithin sozial selektiv und wirken ihrerseits negativ auf die Standortbedingungen einzelner Regionen zurück. Diese „Abstimmung mit den Füßen“ befördert Ausdifferenzierungs- und Polarisierungsprozesse von Arbeits- und Lebensbedingungen. Das normative Postulat gleichwertiger Lebensbedingungen wird damit zunehmend in Frage gestellt.

Stadt-Umland-Wanderungen in Form von Suburbanisierung kennzeichneten dabei bis zur Jahrtausendwende den Prozess der (klein-)räumlichen Verlagerung von Nutzungen. Mit der Wohlstandsentwicklung, der Motorisierung mit eigenen Pkws und einem anwachsenden Wohnflächenverbrauch gingen Phänomene des Landschaftsverbrauchs und ungeordnet erscheinende Wucherungen einher. Im deutschsprachigen Raum wird mit dem Begriff „Zwischenstadt“ (Sieverts 1998) auf eine tendenzielle Bedeutungsverschiebung zugunsten des suburbanen Raumes hingewiesen. Dabei geht es um eine Siedlungsstruktur, die weder der Stadt noch dem ländlichen Raum zugeordnet werden kann. Der Begriff kennzeichnet vielmehr Übergangszonen zwischen hoch verdichteten Kernen und ländlichen Räumen. Vor dem Hintergrund der Zersiedlung sind suburbane von ländlichen Bereichen kaum noch unterscheidbar (so etwa im Ballungsraum Frankfurt Rhein-Main). Diese Übergangszonen entstehen als ein unverbundenes Nebeneinander von in Funktion, Maßstab und Nutzung ganz unterschiedlichen Elementen (etwa Shopping-Center inmitten von Einfamilienhäusern, Wohnsiedlungen neben Bahntrassen und Gewerbegebiete in Grünzonen).

Etwa seit der Jahrtausendwende allerdings zeichnet sich eine Trendwende ab. Der „Zug ins Grüne“ hat an Bedeutung verloren. Die Wiederentdeckung der (Innen-)Städte durch die neuen Mittelschichten hat eine „Landflucht“ eingeleitet, die inzwischen auch die Randzonen prosperierender Städte erreicht hat. Das suburbane Heim für die aufstrebenden Mittelschichthaushalte hat – auch nach der nachholenden Suburbanisierung in den neuen Bundesländern – viel von seinem Reiz eingebüßt. Die Pluralisierung der Lebensstile, die Zunahme der Einpersonenhaushalte und Angebote der Vielfältigkeit befördern „Lust auf Stadt“. Insbesondere Bildungswanderer, junge Erwachsene und Ruhesitzwanderer drängen zurück in die (Groß-)Städte.

Ungleiche demografische Entwicklung und regionale Differenzierung

Auch in Deutschland werden sich die regionalen Differenzierungen und räumlichen Ungleichheiten weiter verstärken und die räumlichen Polarisierungen zukünftig radikalisieren. Die Strukturschwächen abgelegener ländlicher Regionen werden eher zu- als abnehmen. Dabei werden die mittel- bis langfristigen demografischen Veränderungen immer noch unterschätzt. Wenn die Fertilitätsrate auf einem niedrigen Niveau (1,4 Kinder pro Frau, erforderliches Bestandserhaltungsniveau 2,1) verbleibt, die Lebenserwartung weiter zunimmt und die Zahl der Gestorbenen die Zahl der Geborenen immer mehr übersteigt, wird die Bevölkerung weiter schrumpfen. Das „demografisch-ökonomische Paradoxon“ besagt, dass Menschen in entwickelten Gesellschaften sich umso weniger Kinder leisten, je mehr sie sich aufgrund ihres steigenden Realeinkommens objektiv leisten könnten. Dabei sinkt der Anteil jüngerer Menschen und Personen im erwerbsfähigen Alter stehen immer mehr ältere Menschen gegenüber.

Die sinkende Gesamtbevölkerungszahl in Deutschland entwickelt sich damit gegenläufig zur Weltbevölkerung, die vor allem in den Ländern des „Globalen Südens“ weiter ansteigt und auch längerfristig wachsen wird. Zukünftig werden aber auch in Westdeutschland mehr Regionen den „Stagnations- oder Schrumpfungspfad“ einschlagen. Der Indikator der Zu- oder Abnahme der Einwohnerzahlen ist zudem nur ein Indikator für wirtschaftliche Prosperität, politische Bedeutung und Attraktivität einer Stadt. Fernwanderungen – im nationalem oder internationalen Kontext – sind weitgehend arbeitsplatzbedingt und meist mit einem verlagerten Lebensmittelpunkt verbunden, während Nahwanderungen „nur“ kleinräumliche Umzüge sind, die mit der Optimierung der Wohnstandorte und dem Familienzyklus korrespondieren.

Viele Forscher bewerten daher die Gleichzeitigkeit von wachsenden, stagnierenden und schrumpfenden Städten und damit verbundene räumliche Ungleichgewichte als neue Phänomene. Räumlich können Schrumpfung und Wachstum dabei eng beieinander liegen und „neue Peripherien“ unmittelbar an prosperierende Städte angrenzen. Stadtregion, Stadt und jeder Stadtteil haben unterschiedliche Bevölkerungszusammensetzungen und erfordern jeweils unterschiedlich ausgestaltbare Handlungsoptionen des Umgangs mit den demografischen Herausforderungen.

Diese Entwicklung – „wir werden weniger, älter, bunter und ungleich verteilter“ – stellt neue Anforderungen. Es geht um die Bereitstellung zukunftsfähiger, anpassungsfähiger Wohn- und Infrastrukturen für eine alternde Gesellschaft. Für Konzepte der demographiespezifischen Planung wird es unter anderem um Nutzungsmischung und kurze Wege für mobilitätseingeschränkte Bewohner gehen. Vorwiegend Dörfer und kleinere Städte in peripher gelegenen ländlichen Regionen und strukturschwache Regionen werden verstärkt von Bevölkerungsabnahme und -alterung betroffen sein.

Während Wachstum und Schrumpfung mehrdimensionale Begriffe beinhalten, sind Zunahme und Abnahme eher eindimensional und damit gezielter verifizierbar bzw. falsifizierbar. So lässt sich zum Beispiel die Bevölkerungsentwicklung auf räumliche Einheiten und auf eine zeitliche Schiene beziehen und messen. Wachstum und Schrumpfung können sich dagegen (zugleich) auf demographische, ökonomische, ökologische, kulturelle und räumliche Aspekte beziehen. Zudem stellt sich die Frage der Bewertungsperspektive: Wohnungsleerstände können für Mieter zu mehr Wahloptionen und niedrigeren Mieten führen, für Vermieter implizieren sie Fluktuation und Mietausfälle.

Die Zuwanderung mildert das negative Bevölkerungswachstum, kann jedoch das entstehende Geburtendefizit – auch bei dem höchsten angenommenen Wanderungssaldo – langfristig nicht kompensieren. Für 2015 ergab sich mit ca. 1,2 Millionen Personen ein Höchststand der Zuwanderung seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Dieser aktuelle Zustrom von Flüchtlingen hat nicht nur Unterbringungs- und Wohnungsprobleme befördert, sondern Fragen der Integration, Ausbildung und Arbeitsmarktperspektiven neu aufgeworfen. Leerstehende Wohnungen in strukturschwachen Regionen könnten zur Unterbringung von Flüchtlingen genutzt werden, aber eine zwangsweise Zuteilung könnte Ressentiments gegenüber Zuwanderern verstärken und eine Willkommensstruktur erschweren, wie Beispiele aus kaum bevölkerten Regionen zeigen.

Nirgendwo in Deutschland ist der demographische Wandel in Deutschland so ausgeprägt wie im ländlichen Raum, vor allem in den neuen Bundesländern. Weniger Bewohner bedeuten weniger potenzielle Kundschaft für Geschäfte, Banken, Kinos und Restaurants. Die medizinische Versorgung und das kulturelle Angebot verschlechtern sich. Abwanderung und Überalterung befördern eine Abwärtsspirale und mit schrumpfenden Einwohnerzahlen schwindet auch der soziale Zusammenhalt. Einnahmen aus Einkommens- und Gewerbesteuer sinken in den schrumpfenden Kommunen, während die Kosten für Ver- und Entsorgungssysteme gleich hoch bleiben oder sogar noch steigen. Ein Zugang zu oder eine Abkopplung von infrastrukturellen Leistungen garantiert oder versagt soziale Teilhabe und Partizipationschancen.

Rahmenbedingungen und Handlungsoptionen zur Herstellung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“

(@ Meike Fischer)

Die Ursachen für städtische Wachstums- und Schrumpfungsprozesse sind vielfältig, häufig sich gegenseitig verstärkender Natur und bilden eine enorme Herausforderung für Politik und Planung. Zwar ist die Binnenwanderung von Ost nach West inzwischen gestoppt – die Trennlinien zwischen Ost und West verblassen –, aber die Abwanderung aus den „hinterherhinkenden“ Gebieten in prosperierende Städte setzt sich unvermindert fort. Städte mit mehr als 500.000 Einwohnern sind wachsend, während Land-, Klein- und Mittelstädte Bevölkerung verlieren. Inzwischen haben auch altindustriell geprägte Städte und Regionen in den alten Bundesländern Anpassungsprobleme an den wirtschaftlichen Strukturwandel. Die alters- und geschlechtsselektiven Abwanderungsmuster sind in Ost- und Westdeutschland ähnlich, vor allem junge Erwachsene zieht es in die Großstädte. Die Intention der Herstellung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ zielte darauf ab, dass „zurückgebliebene“ zu „fortgeschrittenen“ Regionen aufschließen können. Dieses ambitionierte Ziel des Ausgleichs wird vor dem Hintergrund regional zunehmend unterschiedlich verlaufender Bevölkerungsentwicklungen ausgehebelt.

Folgen der Schrumpfung

Bei der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland überwog nach der Vereinigung Wachstum im Westen und Schrumpfung der Bevölkerung im Osten. Nicht wachsende Städte und die Planung von neuen Stadtquartieren, sondern Umbau, Rückbau, Bestandsentwicklung und Abriss waren damit zu wichtigen Aufgaben geworden. Bisher wurden die Schrumpfungsfolgen durch große Transferzahlungen abgefedert. Eine Fortsetzung dieser Politik ist kaum mehr finanzierbar.

Von der aktuellen, zweiten Phase des Schrumpfens dagegen sind dramatischere Folgen, nämlich eine Polarisierung zwischen relativ erfolgreichen Städten und abgehängten, radikalen Verlierern zu erwarten. Auch werden sich die regionalen Unterschiede und kleinräumlichen innerstädtischen Differenzierungen in den alten Bundesländern verstärken. Die Intensität der Schrumpfung wird durch die Addition von Strukturindikatoren wie Bevölkerungsentwicklung, Gesamtwanderungssaldo, Arbeitsplatzentwicklung, Arbeitslosenquote, Realsteuerkraft und Kaufkraft „messbar“.

Planung ist im Kontext von Schrumpfung reaktiv und wird sich zunehmend „weicher“ Instrumente bedienen müssen, vermag aber die Ursachen von Schrumpfung nicht zu beeinflussen. Ob vor diesem Hintergrund – trotz anderslautender politischer Statements – das Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse aufrechterhalten werden kann, muss bezweifelt werden.

Heterogenität der Lebensverhältnisse

Drei Beispiele aus Niedersachsen illustrieren die Vielfalt von Lebenslagen und gemeinschaftlichen Initiativen im Stadtumland und ländlichen Raum. In Estebrügge, inzwischen Ortsteil von Jork im Alten Land, ca. 50 Minuten von der Hamburger Innenstadt entfernt, gab es in den 1950er Jahren drei Schlachter, einen Fischhändler, zwei Schuster, eine Drogerie, zwei Friseure, drei Bäcker, vier Kolonialwarenläden und sechs Gaststätten. Geblieben sind in der Gemeinde mit derzeit ca. 2.100 Einwohnern zwei Gaststätten und zwei Läden. Vor allem Schule, Sport- und Schützenverein suchen der Ausdünnung der Geschäfte entgegenzuwirken und die Dorfgemeinschaft zu beleben. So wird die vormalige Bäckerei inzwischen von einer Initiative als (zeitweise geöffnetes) Café betrieben. Dörte Hansen hat in ihrem Bestseller „Altes Land“ (2015) die Mythen und Realitäten des Lebens auf dem Lande trefflich beschrieben. In Oberndorf im Landkreis Cuxhaven, ca. 1,5 Stunden von Hamburg entfernt, einem kleinen, verträumt wirkenden Ort mit ca. 1.400 Einwohnern, hat eine aktive Dorfgemeinschaft einen partizipativen Dorfentwicklungsprozess eingeleitet. Seit 2010 werden in einem Forum Ideen vorgestellt und Vorhaben diskutiert. Ein alltagstauglicher und zukunftsweisender Umgang miteinander „auf Augenhöhe“ wurde verabredet (Die Oberndorfer 2016).

Vorhaben wie „Mehr Mobilität auf dem Lande“, zwanglose niedrigschwellige Treffen, eine Homepage, eine gemeinschaftlich geführte und mit Engagement betriebene Kulturkneipe (Kombüse 53 Grad Nord KG) mit vielfältigen Veranstaltungen wurde initiiert. In Ihlienworth im Landkreis Hadeln wurde ein Landfrauenmarkt initiiert, wo zweimal monatlich lokale Produkte angeboten werden. „Verantwortlich leben und wirtschaften, Gegenwart und Zukunft in hiesigen Lebensraum nachhaltig stärken, das liegt in der Hand jedes einzelnen Verbrauchers, besonders auch im Sinne unseres LandfrauenMarktes“, so mit Blick auf Gegenwart und Zukunft das Konzept nachhaltigen Wirtschaftens. Mit EU-Geldern und Mitteln aus der Dorfförderung konnte eine alte Meierei umgenutzt und Räume für Läden, Verkaufsstände und ein Café eingerichtet werden (LandfrauenMarkt 2016).

Auf lokaler Ebene wird die Wahrnehmung der raumplanerischen Konzepte der EU, von Bundes- und Landesebene mit dem hehren Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen vielfach als „von oben“ bestimmt sowie als nicht angemessen und problemlösungsorientiert wahrgenommen. Das Ziel des Ausgleichs im Sinne der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ ist im Grundgesetz Art. 72 Abs. 2 festgelegt und im Raumordnungsgesetz (ROG § 1. (1) 2) mit dem Ziel einer „großräumig ausgewogenen Ordnung mit gleichwertigen Lebensverhältnissen in Teilräumen“ konkretisiert. Das bedeutet nicht identische Lebensverhältnisse, aber die Bereitstellung einer Grundinfrastruktur für alle Bereiche. Nach den Grundsätzen der Raumordnung im Raumordnungsgesetz des Bundes ist die Grundversorgung der Bevölkerung mit technischen Infrastrukturleistungen flächendeckend sicherzustellen. Soziale Infrastruktur ist vorrangig in Zentralen Orten zu bündeln, die Siedlungstätigkeit räumlich zu konzentrieren und auf leistungsfähige Zentrale Orte mit „Bedeutungsüberschuss“ auszurichten. Mit dieser Fokussierung sollte das Modernisierungsgefälle zwischen Großstädten und ländlichen Räumen überwunden bzw. abgeschwächt werden.

Die infrastrukturelle Daseinsvorsorge ist einer der wichtigen Ansatzpunkte, wenn es um die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse geht. Aber gerade hier gibt es beträchtliche regionale Unterschiede in der Zugänglichkeit und der Qualität der angebotenen Leistungen der Daseinsvorsorge. Dem Rückgang von Nachfragegruppen für bestimmte Angebote (Schüler, Erwerbstätige etc.) steht der Anstieg der Nachfrage nach anderen Angeboten (Altenpflege etc.) gegenüber. Über- und Unterauslastung müssen abgewogen werden und sind einem Anpassungsdruck ausgesetzt.

Mit städtebaulichen Förderprogrammen wurde die Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen unterstützt. Durch das Programm Städtebaulicher Denkmalschutz wurden von 1991 bis 2005 in 162 Städten der neuen Länder ca. 1,5 Mrd. eingesetzt. Folgend ab 1999 wurde das Programm Soziale Stadt zur Förderung von Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf eingesetzt. Das Programm Stadtumbau Ost und Stadtumbau West stellte für 342 Gemeinden in den neuen Bundesländern Fördermittel in Höhe von 2,5 Mrd. Euro zur Verfügung.

Zurzeit wird in Politik und Gesellschaft darüber diskutiert, welche Basisleistungen der Daseinsvorsorge eine flächendeckende Grundversorgung genau umfasst und welche Qualitätsstandards dabei anzusetzen sind. Dabei ist davon auszugehen, dass es regional ganz unterschiedlicher Standardsetzungen bedarf. Aus Sicht der Raumordnung gilt es hier Ausgleichs- und Verteilungsziele mit Entwicklungszielen abzuwägen und zu ausgewogenen und zukunftsfähigen Vorgaben zu kommen.

Die soziale Infrastruktur beinhaltet Gemeinbedarfseinrichtungen, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, kulturelle Einrichtungen, öffentliche Sport- und Freizeiteinrichtungen, Verwaltung und Kirchen und bildet wichtige Bezugspunkte und Zielorte für die Bewohner einer Gemeinde sowie für Partizipationschancen. Einrichtungen der sozialen Infrastruktur bilden zudem wesentliche Rahmenbedingungen für die Wohn- und Lebensqualität. In vielen schrumpfenden Gemeinden zwingen Bevölkerungsverluste, altersstrukturelle Veränderungen und mangelnde Ressourcen zu Angebotsreduzierungen und zu Anpassungen an rückläufige Nutzerzahlen. Die „weichen“ Infrastrukturen (Kulturangebote, Bildung etc.) werden folgend vielfach zuerst abgewickelt. Einschränkungen des öffentlichen Personennahverkehrs erfordern zudem vielfach zur Aufrechterhaltung der Mobilität ein eigenes Fahrzeug.

Abschied von der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“?

Die zunehmende Ungleichheit regionaler Lebensbedingungen und die ausufernde Landflucht erfordern eine Neubewertung und veränderte Vorgaben für die Infrastruktur ländlicher Regionen. Das Festhalten am Status Quo und am Ziel „gleichwertiger Lebensbedingungen“ ist keine Option, sondern Umdenken und Erneuerung sind erforderlich. Der kaum vermeidbare „Rückzug aus der Fläche“ setzt räumliche Differenzierungen der Mindeststandards voraus. Es bleibt ein schwieriger Spagat der Politik, für die (weiter) schrumpfenden Gemeinden eine (teure) Infrastrukturgrundausstattung und gleichwertige Lebensbedingungen zu sichern und zugleich den wachsenden Städten hinreichende Mittel für Sicherstellung und Ausbau von Einrichtungen der Daseinsfürsorge bereit zu stellen (Henkel 2016). Unmut unter den sich „abgehängt“ fühlenden Dorfbewohnern macht sich breit und schlägt sich im Wahlverhalten nieder.

Zudem setzt die Politik der EU auf Metropolregionen „als Motoren der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung“, da nur sie Innovationen, Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit Europas im globalen Kontext sichern würden. Die Ausweisung von elf Metropolregionen für Deutschland spiegelt einen Leitbildwandel mit Fokus auf Wachstums- statt auf Ausgleichsorientierung wider. In sozialer Hinsicht stehen die Städte vor neuen Zerreißproben. Während es in prosperierenden Städten zu wenige (mietpreisgünstige) Wohnungen gibt, bestehen in anderen Städten Wohnungsleerstände. Zudem spaltet sich die städtische Gesellschaft bei einer schrumpfenden Mittelschicht zunehmend in Arm und Reich. Das Niedrigzinsniveau befördert Investments in „Betongold“ und die verstärkte Nachfrage oberer Einkommensgruppen nach innerstädtischem Wohnraum generiert Verdrängungsprozesse und residentielle Segregation in prosperierenden Städten, während der Nachfrageüberhang nach erschwinglichem Wohnraum zunimmt.

Das Festhalten an Wachstumszielen und die Tabuisierung von Schrumpfung ist vielfach kontraproduktiv. Vielmehr ist ein Paradigmenwechsel weg von der wachstumsorientierten Planung hin zu gleichgestellten Verschiedenartigkeiten erforderlich. Es wird dabei um innovative aber kostengünstige Maßnahmen, um Vielfalt und Flexibilität, um intelligente und maßgeschneiderte Konzepte und Lösungen gehen. Bei klammen öffentlichen Kassen werden freiwilliges Engagement, genossenschaftliche Lösungen, Wahlfamilien und Wahlverwandschaften (wie etwa generationsübergreifende Hausgemeinschaften) an Bedeutung gewinnen. Mobile Zahnarztpraxen, genossenschaftlich organisierte Dorfläden, Fahrgemeinschaften, Ökolandbau und Tourismus wurden von engagierten und ideenreichen Bewohnern entwickelt, um aus der Not eine Tugend zu machen.

Stadt-, Regional- und Ortsplanung sind notwendiger denn je als ein gesellschaftlicher Steuerungsprozess zu begreifen, der auch soziale Gestaltungen impliziert. Der ständige Umbau von Stadt und Land erfordert nicht weniger, sondern mehr Planung, die verstärkt Nachhaltigkeit und Resilienz einbezieht. (Groß-)Städte werden auch zukünftig eine zentrale Rolle bei der gesellschaftlichen Entwicklung spielen. Sie waren, sind und werden anpassungsfähige Systeme, Kristallisationspunkte und Motoren für wirtschaftlichen sozialen und kulturellen Wandel bleiben. Umgekehrt geht es nicht darum, Ideologien von Landromantik und Dorfidylle zu stärken, sondern mittels von „bottom up“-Strategien und Befähigungsmaßnahmen endogene Potentiale, auch des ländlichen Raumes, in eine zukunftsfähige Perspektive im Kontext gleicher Lebensbedingungen einzubinden.

Quellen / Literatur

Bundeszentrale für politische Bildung, Ländlicher Raum. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Heft 37, 2006.

Die Oberndorfer 2016: Wir Oberndorfer. Online unter Externer Link: http://www.die-oberndorfer.de/48-0-Forum.html (15.02.2017).

Hansen, Dörte, Altes Land, München 2015.

Henkel, Gerhard, Rettet das Dorf. Was jetzt zu tun ist, München 2016.

LandfrauenMarkt 2016: LandfrauenMarkt Ihlienworth e. V. Online unter Externer Link: http://www.landfrauenmarkt.de (07.03.2017).

Mumford, Lewis, Die Stadt. Geschichte und Ausblick, München 1987.

Neu, Claudia, Neue Ländlichkeit. Eine kritische Betrachtung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ), Heft 46/47, 2016, S. 4–9.

Sieverts, Thomas, Zwischenstadt zwischen Ort und Welt Raum und Zeit, Braunschweig und Wiesbaden 1998.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Neu 2016

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Dirk Schubert für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Weitere Inhalte

Prof. em. Dr. Dirk Schubert forscht an der HafenCity Universität Hamburg zu Themen der Stadtplanungsgeschichte, Fragen des Städte- und Wohnungsbaus und zum Strukturwandel in Seehafenstädten. Er hat zwei Bücher über die amerikanische Stadtforscherin Jane Jacobs veröffentlicht.