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Partner im Krieg, Partner für Frieden Das Deutschlandbild in der Ukraine

Alyona Getmanchuk

/ 8 Minuten zu lesen

Seitdem Olaf Scholz angesichts des russischen Angriffs auf die gesamte Ukraine von einer "Zeitenwende" sprach, blicken Deutschlands internationale Partner erwartungsvoll nach Berlin. Wie steht es um das Bild Deutschlands in der Ukraine, Polen, Frankreich und den USA?

Vermutlich gibt es kein Land, das die Menschen in der Ukraine so fasziniert, aber auch so enttäuscht wie Deutschland. Die Faszination ist in der Regel subtil; doch wenn sich die Enttäuschung Bahn bricht, reist sie in wenigen Tagen von den Ufern des Dnepr bis an die Spree. Die Bundesrepublik fasziniert aufgrund ihres hohen Lebensstandards und ihrer Rechtsstaatlichkeit. Wenn es ein einzelnes Land gibt, das in der ukrainischen Vorstellung für die EU steht, dann ist das vermutlich Deutschland. Es überrascht daher nicht, dass Deutschland bereits vor dem russischen Überfall das beliebteste Ziel für auswandernde Ukrainerinnen und Ukrainer war und seither nach Polen die meisten ukrainischen Flüchtlinge aufgenommen hat.

Verkörperung der Politik, Putin nicht zu provozieren

Alles Deutsche trägt in der Ukraine eine Art "Gütesiegel". Das erklärt vielleicht, warum die Ukraine von Deutschland mehr als von jedem anderen EU-Land erwartet und auch in Zukunft erwarten wird – und warum sie mehr an die Fähigkeiten der Bundesrepublik glaubt als sie selbst. Bis zum russischen Überfall auf die gesamte Ukraine schien militärische Unterstützung die einzige Frage, in der die Ukraine von Deutschland keine Führungsrolle erwartete, während in allen anderen Bereichen – Reformpolitik, Energie, Finanzhilfen, Sanktionen gegen Russland sowie mit Blick auf eine EU- oder Nato-Mitgliedschaft der Ukraine – letztendlich alles davon abhing, wie Berlin dazu stand. Seit Februar 2022 hat sich gezeigt, dass auch bei der Militärhilfe eine deutsche Führung unverzichtbar ist. Allerdings ließ die erhoffte Zustimmung auf sich warten, und es folgte eine Enttäuschung auf die andere.

Seit wann sich diese Entwicklung ankündigte, ist schwer zu sagen. Der Wendepunkt kam für die meisten Ukrainer 2008 beim Nato-Gipfel in Bukarest, als Bundeskanzlerin Angela Merkel ihr Veto gegen einen Aktionsplan für eine Mitgliedschaft der Ukraine einlegte. Darauf folgte die Genehmigung Berlins für die Gaspipeline Nord Stream 2, die viele in der Ukraine nicht nachvollziehen konnten: Wogen die realen wirtschaftlichen Vorteile wirklich so viel schwerer als die Risiken? Die Ukrainer waren enttäuscht und blieben es auch, als Angela Merkel nach der russischen Annexion der Krim 2014 sowohl in Deutschland als auch in der EU für die Unterstützung der Sanktionen gegen Russland warb – und trotz ihrer überraschend herzlichen Beziehungen zum ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko. Allerdings ahnten sie nicht, wie tief diese Enttäuschung noch reichen würde. Das erkannten sie erst am 24. Februar 2022, als Russland mit seinem Angriff auf die gesamte Ukraine begann.

Erst dann wurde klar: Nichts provoziert Putin mehr als der politische Vorsatz, Putin nicht zu provozieren. Die Ablehnung eines Aktionsplans für eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine in Bukarest, verbunden mit dem vagen Versprechen einer künftigen Mitgliedschaft, hatte die Ukraine noch anfälliger für Angriffe gemacht. Dass Berlin trotz der russischen Annexion der Krim 2014 und des anhaltenden Krieges in der Ostukraine ostentativ an Nord Stream 2 festhielt, hatte im Kreml die Überzeugung gefestigt, dass Geld und billiges Gas mehr zählten als die von der EU vertretenen Werte und das Völkerrecht. Das sogenannte Minsker Abkommen und das Normandie-Format zur Beilegung des Konflikts im Donbas, die von Angela Merkel orchestriert wurden, die Verhandlungen über ein Ende des Krieges in der Ostukraine, hatten Putin eher zu einem Krieg gegen die gesamte Ukraine ermutigt, als ihn davon abgehalten.

Wie sich herausstellte, gab es eigentlich gar keine deutsche Ukraine-Politik an sich – eher die allgemeine Haltung, Putin nicht zu provozieren, an der alle strategischen Entscheidungen zur Ukraine ausgerichtet wurden. Die Entscheidungen, die zu dieser Politik passten, etwa Finanzhilfen oder Besuche deutscher Abgeordneter oder Minister in der Ukraine, wurden umgesetzt; die, die nicht dazu passten, etwa eine Zustimmung zur Nato-Mitgliedschaft der Ukraine oder Militärhilfen, wurden auf höchster Ebene sabotiert.

Damit verkörperte Deutschland für viele Ukrainer wie kein anderes Land die vom Westen verfolgte Linie gegenüber Moskau. Die ukrainische Überzeugung, dass nicht etwa das trügerische Versprechen einer Nato-Mitgliedschaft, sondern diese Haltung, Putin nicht provozieren zu wollen, zum Krieg geführt hat, erklärt, warum Berlin seit Russlands Überfall auf die Ukraine mit Bitten aus Kyjiw und nur selten mit Dank überhäuft wird. Und sie erklärt auch, warum alle deutschen Absichtsbekundungen und Versprechungen von der Ukraine kühl, ja ungläubig aufgenommen werden.

Vielleicht würde man sich in der Ukraine die Haltung, Putin nicht provozieren zu wollen, nicht so zu Herzen nehmen, wenn sie dort nicht selbst vertreten worden wäre: Jahrelang traf auch Kyjiw Entscheidungen mit Rücksicht auf den Kreml, etwa beim Verzicht darauf, die angestrebte Aufnahme in die Nato gesetzlich zu verankern, bei Zugeständnissen in Energiefragen, bei der Duldung russischer Agenten in der Regierung, im Parlament und in den Medien oder sogar bei der Abkehr von einem Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU, die 2013 in die Revolution der Würde ("Euromaidan") mündeten.

Diese Politik hat von der Ukraine einen hohen Tribut gefordert. Russland annektierte die Krim und Teile der östlichen Grenzgebiete, als die Ukraine offiziell ein bündnisfreier Staat war und keinerlei Ambitionen verfolgte, der Nato beizutreten – um Putin nicht zu "provozieren", versteht sich. Als Russland dann genügend Streitkräfte zusammengezogen hatte, wurde die Ukraine entgegen aller Erwartungen brutal angegriffen, mit einem groß angelegten Krieg, der für jemanden mit gesundem Menschenverstand im Europa des 21. Jahrhunderts unverständlich ist. Wenn es also um die Folgen der Politik geht, Putin nicht provozieren zu wollen, ist die Ukraine ein eindrucksvoll abschreckendes Beispiel, vom dem die restliche Welt viel lernen kann.

Wenn schon keine Führung, dann Entschlossenheit

Trotz aller Enttäuschungen und mitunter auch Frustration glauben die Menschen in der Ukraine immer noch an die Entschlossenheit und Verantwortung Deutschlands. Das gilt nicht nur mit Blick auf den Wiederaufbau nach dem Krieg, auf den Berlin oft verweist, sondern auch mit Blick auf die Frage, wie der Krieg mit einem ukrainischen Sieg beendet werden kann. Eine mögliche Antwort bestünde darin, auf dem Schlachtfeld deutliche Überlegenheit zu demonstrieren – unter anderem mit in Deutschland hergestellten Leopard-Panzern.

Der Wiederaufbau ist sicher ein viel einfacheres Thema als die Militärhilfe oder als Sanktionen gegen Russland, und für dieses Engagement gebührt Deutschland Dank. Allerdings sollte man sich stets vor Augen halten, dass der Wiederaufbau erst nach einem Friedensschluss erfolgen kann, der ohne einen ukrainischen Sieg nicht möglich ist. Und ein solcher ist wiederum nicht möglich ohne schnelle und umfangreiche westliche Waffenlieferungen. Daher ist es für die Ukraine wichtig, dass die deutsche Rüstungsindustrie, die bereit ist, der Ukraine hochentwickelte Waffen zu liefern, in Einklang mit der Bundesregierung handeln kann.

Die Menschen in der Ukraine erwarten von Deutschland auch ein entschlosseneres Auftreten mit Blick auf eine zukünftige ukrainische EU-Mitgliedschaft. Als ich im Herbst 2022 drei Länder auf dem westlichen Balkan besuchte, um von ihren Erfahrungen bei der Aufnahme in die EU zu lernen, hörte ich mehr als einmal von der positiven Rolle Deutschlands – im Gegensatz zu jener Frankreichs oder der Niederlande, die als Haupthindernisse angesehen wurden – für die Annäherung ihrer Länder an die EU. In der Ukraine gilt Deutschland jedoch immer noch als "europaskeptisches" Land. Das ist nicht überraschend: Bundeskanzler Olaf Scholz war der vorletzte Staats- und Regierungschef der EU, der 2022 grünes Licht für den Beitrittsstatus der Ukraine gab.

Die Situation wird sich hoffentlich ändern: Die zukünftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine ist von großer geopolitischer und sicherheitspolitischer Bedeutung. Als EU-Mitglied kann die Ukraine nicht gleichzeitig Teil eines wiederbelebten russischen Imperiums oder welcher Entität auch immer sein, die Putin militärisch zu etablieren versucht. Je stärker die Ukraine also in die EU integriert wird, desto geringer ist für Putin die Motivation für einen Krieg.

Die größte Bedeutung einer Aufnahme in die EU besteht jedoch in ihrer katalysierenden Wirkung für Wandel. Es gibt keine vergleichbare Kraft für Veränderungen in der Ukraine. Daher muss jeder, der sich für eine Nachkriegs-Ukraine mit belastbaren demokratischen Institutionen, mit weniger Korruption, mit Rechtsstaatlichkeit, mit transparenten Geschäftspraktiken einsetzt, ernsthaft daran interessiert sein, dass die Ukraine bald vollwertiges EU-Mitglied wird. Man kann nicht einerseits den Wiederaufbau fördern und andererseits den EU-Beitritt verhindern. Ich bin daher überzeugt, dass Deutschland in Bezug auf die EU-Integration in der Ukraine bald ähnlich gesehen werden wird wie in den Ländern auf dem westlichen Balkan – als Verbündeter und nicht als Saboteur.

Nach den von Angela Merkel initiierten Minsker Vereinbarungen und dem Normandie-Format, mit denen der Ukraine so viel zugemutet wurde, erwartet Kyjiw, dass Deutschland nun bei Verhandlungen mit Russland auf seiner Seite steht. Wenn derzeit ein diplomatischer Weg aus dem Krieg möglich wäre, wäre die Ukraine die erste am Verhandlungstisch. Ihr Engagement dafür hat sie bereits mehrfach bewiesen. Schon im März 2022 unterbreitete sie Putin ein diplomatisches Angebot mit dem politisch heiklen Zugeständnis, auf eine künftige Mitgliedschaft in der Nato zu verzichten – doch Putin reagierte mit weiteren Gräueltaten und Kriegsverbrechen. Im November schlug Wolodymyr Selenskyj die sogenannte Friedensformel vor, in der in zehn Punkten die Vorstellungen der Ukraine zur Erreichung eines dauerhaften Friedens skizziert wurden, darunter der Abzug der russischen Truppen, die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine, die Einrichtung eines Sondertribunals zur Verfolgung russischer Kriegsverbrechen und die Freilassung ukrainischer Kriegsgefangener und Kinder, die nach Russland verschleppt wurden.

Es gab und gibt jedoch keine Anzeichen, dass Putin zu Verhandlungen bereit wäre. Ganz im Gegenteil: Er ist offenbar entschlossen, seine Kriegsanstrengungen zu verstärken, indem er weiteres ukrainisches Territorium annektiert, die Rüstungsproduktion erhöht, eine unbefristete Mobilisierung erklärt und weiterhin öffentlich die Maximalziele seiner militärischen "Spezialoperation" zur "Entnazifizierung" der Ukraine verkündet. Das erste Kriegsjahr hat gezeigt, dass es eine Möglichkeit gibt, Putins Pläne zu durchkreuzen: eine angemessene militärische Antwort, wie bei der Befreiung der Regionen Kyjiw und Charkiw sowie der Stadt Cherson. Waffen befreien nicht nur Gebiete, sondern auch Menschen, die Folter und Zwang ausgesetzt sind.

Darüber hinaus hofft man in der Ukraine, dass sich auch die deutsche Haltung gegenüber einer Nato-Mitgliedschaft des Landes ändern wird. Es ist gut, dass Bundeskanzler Scholz verstanden hat, dass die Nato-Bestrebungen der Ukraine nicht der Grund für den Krieg waren. Es wäre aber noch besser, wenn er erkennen würde, dass Russland – ob mit Putin an der Spitze oder einem Nachfolger – ständig versucht wäre, die Ukraine anzugreifen, solange es keine Sicherheitsgarantien für die Ukraine gibt, die Artikel 5 des Nordatlantikvertrags entsprechen. Berlin sollte damit beginnen, seine Entscheidung auf dem Nato-Gipfel 2008 in Bukarest zu überdenken, als der Ukraine ein Aktionsplan für die Mitgliedschaft verweigert wurde.

Die Ukraine erwartet auch die Unterstützung Deutschlands, wenn es darum geht, Russland zur Rechenschaft zu ziehen – sowohl durch die Einrichtung eines Sondertribunals als auch durch die Beschlagnahmung von Vermögenswerten russischer Oligarchen und der russischen Zentralbank, die dem Wiederaufbau der Ukraine zugutekommen sollen. Wir in der Ukraine sind überzeugt, dass es ziemlich ungerecht wäre, wenn die Partner der Ukraine für den Wiederaufbau zahlen müssten und nicht der Aggressor. Russland soll die Rechnung bezahlen, und den Wiederaufbau sollen vor allem Unternehmen aus den Ländern übernehmen, die zum Sieg der Ukraine beigetragen haben. Hier sollten deutsche Unternehmen im Vorteil sein. Es wäre für alle von Nutzen, wenn Zehntausende Evakuierte, die in die Ukraine zurückkehren, auch Zehntausende deutsche Unternehmen mitbringen würden.

Deutschland kommt also eine bedeutende Rolle zu – sowohl wenn es darum geht, der Ukraine zu helfen, den Krieg zu gewinnen, als auch wenn es darum geht, die Ukraine im Frieden weiterzuentwickeln. Für den Krieg brauchen wir deutsche Waffen. Für den Frieden brauchen wir die deutsche Unterstützung bei einer Aufnahme in die EU und bei Investitionen für den Wiederaufbau.

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Pforzheim

ist Gründerin und Leiterin des Think Tanks New Europe Center in Kyjiw.
E-Mail Link: alyona.getmanchuk@neweurope.org.ua