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Über die Zeitenwende hinaus. Für eine neue deutsche Sicherheitspolitik

Claudia Major Christian Mölling

/ 14 Minuten zu lesen

Deutschland muss seine Sicherheitspolitik auch abseits des russischen Krieges gegen die Ukraine zukunftsfest aufstellen. Die äußere Zeitenwende erfordert eine innere Zeitenwende, und eine erfolgreiche deutsche Zeitenwende ist Voraussetzung für eine europäische Zeitenwende.

Europa befindet sich in der wohl entscheidendsten Phase der vergangenen 75 Jahre. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist ein Grund dafür, aber nicht der einzige. Bereits die langfristigen Entwicklungen sogenannter Megatrends wie etwa der Klimawandel bedeuteten eine Veränderung der globalen sicherheitspolitischen Ordnung. Der Krieg hat neben seinem direkten Effekt – der Zerstörung der Ukraine und der sicherheitspolitischen Ordnung in Europa – den Wandlungsprozess der globalen Ordnung beschleunigt. Auf diese Beschleunigung und die damit verbundene Unsicherheit darüber, welche Folgen der Wandel mit sich bringen wird, gilt es nun zu reagieren. Davon hängt ab, wie weit Europa sein Schicksal selbst gestalten kann, oder ob es eher von anderen gestaltet wird.

Dies definiert zugleich die Phase schwerster Prüfungen für die deutsche Sicherheitspolitik seit Bestehen der Bundesrepublik. Denn Deutschland kommt aufgrund seines wirtschaftlichen und politischen Gewichts bei der Gestaltung der Zukunftsfähigkeit Europas eine zentrale Rolle zu. Deutschland wird unweigerlich zur Handlungsfähigkeit Europas beitragen: entweder positiv durch seinen aktiven Beitrag oder negativ durch die Abwesenheit dieses Beitrags. Für einen aktiven Beitrag müsste Deutschland zwei Herausforderungen als zentral erkennen, in denen eine Zeitenwende eine 180-Grad-Wende einer Politik bedeutet, deren Kurs jahrzehntelang nicht hinterfragt wurde.

Der eine Bereich ist die Verteidigungspolitik. Auch wenn der Schock des russischen Angriffs die Rolle des Militärs kurz unterstrichen haben mag: Einen belastbaren Plan, was Verteidigungsfähigkeit für Deutschland bedeutet und wie sie herzustellen wäre, gibt es bislang nicht. Der andere Bereich ist die Sicherheitspolitik. Diese war bisher vor allem eine Außenpolitik mit zivilen Mitteln, denn sie war von Fragen der wirtschaftlichen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit und der Verteidigung des deutschen Rechtsstaates abgekoppelt. Dieses Ordnungsprinzip spiegelt sich zugleich in der klaren Trennung der Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und privaten Akteuren wie den Betreibern von Kraftwerken oder IT-Infrastruktur wider. Integrierte Ansätze sind die Ausnahme. Dieses innere deutsche Ordnungsprinzip der politischen Insellösungen bietet weder Antworten auf den Wandel der globalen Ordnung noch auf die Fragen, die Europa in Zukunft umtreiben und die Sicherheit Deutschlands bestimmen werden. Es gilt also, die deutsche Sicherheitspolitik neu zu denken und über den russischen Krieg gegen die Ukraine hinaus für zukünftige Herausforderungen aufzustellen. Die äußere Zeitenwende erfordert also auch eine innere Zeitenwende, und nur eine erfolgreiche deutsche Zeitenwende ermöglicht eine erfolgreiche europäische Zeitenwende.

Neue Sicherheits-(un)ordnung

Die aktuelle Situation der sicherheits-, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Unordnung ist entscheidend für Europa. Das liegt an drei fundamentalen Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine: Erstens verändert der Krieg unmittelbar die Sicherheitslage und die Bedingungen, unter denen die europäischen Staaten und ihre Verbündeten Sicherheit auf dem Kontinent ermöglichen müssen. Zweitens ist er zugleich ein Beschleuniger für den schon länger laufenden Wandel globaler Ordnungen in den Bereichen Sicherheit, Technologie, Wirtschaft und Demokratie sowie für den Kampf gegen den Klimawandel. Drittens wirkt der Krieg wie eine zukunftsverändernde Explosion, die die Verlaufsbahnen der großen Trends in Politik, Wirtschaft und Technologie verschiebt. Allerdings ist unklar, in welche Richtung und mit welchen Folgen genau. Es verändern sich also die Gewichte, mit denen diese Trends auf uns wirken, und es verändern sich ebenso die Konstellationen der Trendbahnen untereinander, also wie sich die Trends gegenseitig beeinflussen. Damit entstehen neue Räume der Ungewissheit – Risiken, aber auch Chancen. So hat etwa die Reduzierung der Energieabhängigkeit von Russland die deutsche Energiewende beschleunigt.

Alle drei Wirkungen haben gemeinsam: Sie sind tiefgreifend und haben langfristige strukturelle Auswirkungen. Dennoch steckt die Diskussion, wie Deutschland und Europa reagieren sollten, bislang mehrheitlich im Hier und Jetzt fest. Der deutsche Diskurs wird derzeit mehr vom Blick zurück bestimmt als vom Blick nach vorn. Die Zeitenwende ist eine Reaktion auf eine Veränderung in der Vergangenheit. Dabei verändert der Krieg in der Ukraine die wesentlichen Bedingungen für Risiken und Chancen in der Zukunft und setzt einen fundamental neuen Rahmen für die deutsche Sicherheitspolitik. Es geht nicht nur darum, angemessen auf ihn zu reagieren, sondern auch darum, die deutsche Sicherheitspolitik über den Krieg hinaus für den Umgang mit und die Gestaltung von zukünftigen Schocks aufzustellen.

Dies erfordert eine grundlegende Überarbeitung bisheriger Grundannahmen, Strukturen und Prozesse in Deutschland und Europa. Deutschlands künftiger Handlungsspielraum bei der Wahrung seiner Sicherheit und seines Wohlstands sowie bei der Verteidigung seiner Interessen hängt davon ab, wie die zukünftige Ordnung aussehen wird. Die Bundesregierung muss also einen Plan entwickeln, wie sie die Ordnungselemente, die durch den Krieg durcheinendergewirbelt wurden, wieder sinnvoll zusammensetzen kann, sei es die Rolle militärischer Gewalt oder der Einfluss technologischer Entwicklungen.

Noch existiert kein Bauplan für die neue Ordnung. Einzelne Bausteine aus den Bereichen Sicherheit und Verteidigung, Wirtschaft und Finanzen, Klima, Energie, Technologie und Demokratie sind zwar bekannt, denn viele Probleme sind nicht neu. So ist weitgehend bekannt, wie Regierungen auf den Klimawandel reagieren sollten. Doch welche Rolle welche Bausteine zukünftig spielen sollten, bleibt zu bestimmen. Neu und erschwerend ist, dass die Herausforderungen zeitgleich auftreten. Daher werden die kommenden Jahre der Neugestaltung für Europa eine Phase großer Unsicherheit und geringer Stabilität sein.

Bei der Konstruktion einer belastbaren Ordnung sollten Deutschland und Europa sich an drei zentralen Fragen orientieren: Wie sieht eine gute europäische Ordnung aus, die europäische öffentliche Güter wie Sicherheit, Wohlfahrt und demokratische Entscheidungsfindung bereitstellt und schützt? Wie kann sie gebaut werden, auf welche Widerstände wird sie treffen? Wie kann sie aufrechterhalten werden?

Rahmenbedingungen einer neuen deutschen Sicherheitspolitik

Ein Jahr Zeitenwende ist auch ein Jahr der Neuvermessung all dessen, was sich verändert hat und sich weiter verändern wird. Vor allem sind vorhandene und zukünftige Abhängigkeiten ins Bewusstsein gerückt, die Sicherheit, Wohlstand und politische Teilhabe begrenzen können. Bei der Neugestaltung ist Zeit ein zentraler Faktor: Zum einen hat die Neuordnung schon begonnen, zum anderen bestehen etwa durch Wahlen Unsicherheiten über die Kontinuität politischer Geschlossenheit in Europa. All dies kann aber nicht über die Schlüsselrolle Deutschlands für das Gelingen einer neuen europäischen Sicherheitspolitik hinwegtäuschen, die zuallererst eine erfolgreiche Neuaufstellung der Bundesrepublik erfordert.

Vier Abhängigkeiten zeigen die Grenzen von Deutschlands Handlungsfähigkeit auf. In den Bereichen fossile Energieträger und Rohstoffe war Deutschland lange abhängig von Russland, wo es beides günstig einkaufen konnte, um seinen wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern und gesellschaftliche Wohlfahrt zu ermöglichen. Den Preis für diese Abhängigkeit und die Loslösung davon zahlt Deutschland jetzt, ökonomisch und politisch.

Eine weitere Abhängigkeit besteht von China als Markt für deutsche Unternehmen und wesentlicher Teil deutscher Lieferketten, aber auch zunehmend mit Blick auf gesellschaftliche Infrastruktur in Deutschland, sei es über IT-Elemente in der öffentlichen Kommunikation, chinesische Beteiligungen an deutschen Unternehmen oder Kooperationen bei der Transportinfrastruktur. Neben dieser ökonomischen Abhängigkeit steht China auch als Beispiel für die Dreiecksverbindungen, die Deutschland beeinflussen, etwa bei dem Ziel, Russland und Putin eigene Stärke entgegenzusetzen: China unterstützt Russland in diesem Krieg und hat damit kein Interesse an einer deutschen Stärke, die einen Nachteil für Putin bedeuten könnte.

Traditionell ist Deutschland wie ganz Europa bei militärischer Sicherheit von den USA abhängig. Das gilt bis heute: Die USA unterstützen die Ukraine in ihrem Abwehrkampf nicht nur quantitativ und mit Blick auf die Bandbreite der Waffen in einem Maß, das kein anderer Staat leisten kann. Sie ermöglichen mit ihren einzigartigen Fähigkeiten bei der Aufklärung und Zielsuche auch die Effizienz der ukrainischen Armee. Die USA eröffnen damit Handlungsoptionen für die europäische Sicherheit, die Deutschland nicht bieten könnte. Ohne die amerikanische Unterstützung wäre Europa in einem klassischen militärischen Szenario nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Weil aber die Abhängigkeiten von Russland und vor allem von China zunehmend problematisch sind, steigt die Bedeutung der USA auch mit Blick auf gemeinsame Märkte und Technologien. Sie bieten eine Alternative zur russischen und chinesischen Option. Gleichzeitig zeichnet sich immer deutlicher ab, dass auch der Krieg in der Ukraine die langfristige Ausrichtung der USA auf den Indopazifik und China nicht beeinflussen wird, Deutschland und Europa also künftig mehr Ressourcen für die eigene Sicherheit aufbringen müssen.

Und schließlich hängt Deutschland von der EU als politischer, ökonomischer und rechtlicher Gemeinschaft ab. Nicht nur profitiert Deutschland vom Binnenmarkt und der europäischen Handelsmacht, sondern ist die EU auch die Antwort auf die Frage, wo Deutschland geopolitisch steht. Für kein anderes Land in Europa ist diese Verortung so wichtig, weil unsere Partner und Alliierten bis heute die Frage stellen, ob sich die historische Erfahrung mit den Vorgängern der Bundesrepublik wiederholen könnte, die mit ihrer Größe und der Lage im Herzen Europas ein Risiko für die Sicherheit auf dem Kontinent waren. Diese "deutsche Frage" stellt sich heute in besonderem Maße, weil Deutschland seinen Partnern im Rahmen der EU und der Nato sogar ein Schutzversprechen gegeben hat – und sich zugleich nicht ohne seine Partner schützen kann.

Doch neben den Gefahren von außen für die EU und damit auch für Deutschland sind es vor allem innere Spannungen, die die Fähigkeit der EU bedrohen, ihre Aufgabe als Konsensmaschine in Europa wahrzunehmen. Die Mitgliedstaaten haben wesentliche Fragen der EU-Weiterentwicklung in den vergangenen Jahren vertagt, weil ihre Erwartungen an die Union zu verschieden und ihre Bereitschaft, sich für sie zu engagieren, zu gering waren. Dies gilt für nahezu alle Politikfelder. Als jüngste Herausforderung kommt die Aufnahme der Ukraine, Moldovas und der sechs Balkanstaaten hinzu. Während sich alle einig sind, dass die EU dies in ihrer derzeitigen Konstitution nicht stemmen kann, zeichnet sich keine Reform der EU ab. Zwar werden die neuen Beitrittskandidaten über die neue Europäische Politische Gemeinschaft enger an die EU gebunden. Doch welcher Union sie irgendwann beitreten können, bleibt unklar. Damit stehen nicht nur die alten außenpolitischen Sicherheitskonzepte, Integration und Stabilitätsexport in die Nachbarschaft, infrage – es gibt auch noch keine Alternativen.

Von den Abhängigkeiten von Russland und China muss Deutschland sich lösen beziehungsweise sie verringern, um sich weniger erpressbar zu machen. Die Abhängigkeit von den USA gilt es, hin zu einer ausgewogeneren Lastenteilung im Verteidigungsbereich weiterzuentwickeln und anzuerkennen, dass die eigenen Interessen mit denen der USA nicht deckungsgleich sind. Die Abhängigkeit von der EU gilt es, in einen handlungsfähigeren Rahmen zu überführen.

Die kommenden fünf Jahre werden entscheidend sein für diese Weichenstellungen. Wie viel Handlungsspielraum die europäischen Staaten und auch Deutschland dabei haben werden, hängt auch vom politischen und gesellschaftlichen Zusammenhalt in den europäischen Staaten ab. 2024 wird in Großbritannien, Finnland, der Slowakei, Rumänien, Litauen sowie auf europäischer Ebene das EU-Parlament gewählt. Veränderte Mehrheiten könnten den Zusammenhalt in Europa und seine Handlungsfähigkeit weiter schwächen. Hinzu kommen die Wahlen in den USA 2024, die sich auch auf Europa auswirken werden. Ohne politische Führung aus Washington wird es schwer, die Geschlossenheit in Europa aufrecht zu erhalten, und alte Trennlinien drohen wieder aufzubrechen, etwa mit Blick auf den Umgang mit Russland, den Wiederaufbau der Ukraine und die Weiterentwicklung der Nato.

Schlüsselrolle für Europa

Während alle Regierungen in Europa Antworten für die europäische und internationale sicherheitspolitische Neuordnung finden müssen, kommt der Bundesregierung eine Schlüsselrolle zu. Deutschlands Wirtschaftskraft ist in Europa und weltweit von Bedeutung, aber der Krieg in der Ukraine hat ihre Schwachstellen aufgezeigt: Die Bundesrepublik muss sich mit den deutschen Abhängigkeiten auseinandersetzen und neue Energiequellen auftun, die Lieferketten diversifizieren und neue Märkte erschließen. Politisch ist Berlin noch dabei, sich an seine neue Rolle zu gewöhnen: Der Krieg in der Ukraine hat Deutschland gezwungen, eine aktivere Rolle in der europäischen Sicherheit und Verteidigung zu spielen. Deutschland ist sowohl wirtschaftlich als auch sicherheitspolitisch ein wichtiger Partner, aber es bleibt verwundbar und zögert, entscheidende Maßnahmen zu ergreifen, etwa bei der militärischen Unterstützung der Ukraine.

2023 und 2024 werden auch national entscheidende Jahre sein: Gelingt es Deutschland, die Finanzierung seiner Verteidigung langfristig in der Finanzplanung zu verankern? Bislang basiert die Erhöhung der Verteidigungsausgaben weitgehend auf dem einmaligen 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr. Analysiert und definiert die Nationale Sicherheitsstrategie überzeugend Deutschlands Sichtweise und Ambitionen? Gelingt Deutschland die Fortsetzung seiner Energiewende und die Verringerung seiner Abhängigkeiten von China?

Noch reagiert Deutschland vor allem und versucht, die Konsequenzen des Krieges und globaler Trends im Hier und Jetzt zu beeinflussen. Das ist in einer Zeit, in der sich die Dinge schnell weiterentwickeln, unzureichend: Es braucht eine langfristig belastbare Neuaufstellung. Hinzu kommt der Eindruck, dass die anfängliche Dringlichkeit, die unmittelbar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine bahnbrechende Entscheidungen ermöglichte, immer mehr schwindet – und mit ihr die Bereitschaft, tiefgreifende und schmerzhafte Entscheidungen zu treffen. Die Umsetzung der Zeitenwende vor allem in der Verteidigungspolitik geht nur schleppend und anscheinend ohne systematischen Plan voran.

Dies liegt auch daran, dass Deutschland für seine außenpolitische Neuaufstellung auch eine innenpolitische und gesellschaftspolitische Zeitenwende braucht. Dazu gehören eine Aufarbeitung und Neuausrichtung der Russlandpolitik; die Erarbeitung einer neuen Ostpolitik, die die Länder der Region als solche und nicht nur durch die russische Brille wahrnimmt; eine Neudefinition der Rolle des Militärs als Instrument der Sicherheitspolitik; eine praktische Reform des Verteidigungssektors; sowie ein neues Verständnis über eine aktive deutsche Rolle in EU und Nato.

Blick nach vorn

Ohne eine deutsche Neuaufstellung in den Bereichen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik droht die Rückkehr alter Rezepte. Die Widerstände sind jedoch jeweils anders gelagert: Der Bereich Verteidigung leidet unter einem Staats- und Systemversagen. Probleme sind so miteinander verbunden, dass einfache und isolierte Lösungsansätze schnell auf Probleme in anderen Bereichen treffen. In der Sicherheitspolitik wehren sich Entscheidungsträger in Bund und Ländern mit Händen und Füßen gegen die Umsetzung all jener seit Langem gepredigten Konzepte, die eine umfassendere Sicherheitspolitik ermöglichen sollen, sei es die Vernetzung von innerer und äußerer Sicherheit, die Einbettung neuer Ansätze wie Klimaschutzkonzepte oder die Förderung der Rechte, Repräsentanz und Ressourcenausstattung von Frauen und marginalisierten Gruppen. Eine Veränderung würde erhebliche konzeptionelle und institutionelle Anpassungen voraussetzen – vor allem aber den unbedingten Willen, im bereits laufenden Systemkonflikt bestehen zu wollen, unabhängig vom einen oder anderen Lieblingsprojekt, sowie die Bereitschaft, Macht abzugeben.

"Deutschlandgeschwindigkeit" bei der Verteidigung

Die Hürden für eine erfolgreiche Verteidigungspolitik und der Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit sind groß. Während Deutschland sich seit dem Ende des Kalten Krieges nicht wesentlich bewegte, tat es der Rest der Welt: Die sicherheitspolitische Lage wandelte sich von einzelnen Brandherden erst zu einer Krisensichel, die ganz Europa umgab, und dann zu einem Flächenbrand, der immer näher an die Grenzen Europas heranrückte. Eine leistungsfähige militärische Feuerwehr, also eine einsatzfähige Bundeswehr – zum Brandschutz oder zum Löschen – war nicht mehrheitsfähig.

Mit der Zeitenwende will die Bundesregierung schlagartig umsteuern. Das scheitert bislang nicht nur daran, dass der Motor im Maschinenraum unterdimensioniert und nicht funktionstüchtig ist, sondern auch daran, dass kaum jemand den Maschinenraum bedienen kann, also militärische Macht und ihren Einsatz mitdenkt, und lange Zeit politische Führung fehlte. Zudem bleibt unklar, welcher Zustand nach der Zeitenwende erreicht werden soll.

Für die dringende Generalüberholung hat Deutschland seit Olaf Scholz’ Zeitenwende-Rede im Bundestag ein entscheidendes Jahr verloren. Zugleich bleibt nur noch wenig Zeit: Die Bundesregierung ist noch etwas mehr als zwei Jahre im Amt, um Erfolge zu erzielen, die eine Fortsetzung der Reform rechtfertigen. Dieser Zeithorizont steht im Spannungsverhältnis zu der Zeit, die es braucht, um die grundlegenden Missstände zu bewältigen: 12 bis 15 Jahre für den Wandel bei Kultur, Prozessen und Material. Es geht um nicht weniger als den Verteidigungssektor insgesamt, also um das Zusammenspiel von Politik, Verwaltung, Streitkräften und industrieller Basis, das aus einem Zustand des System- und Staatsversagens heraus in ein leistungsfähiges System umgebaut werden muss.

Obwohl militärische Sicherheitsvorsorge und in der Folge auch Rüstung Verfassungsrang haben, blickt Deutschland auf 30 Jahre politisches Desinteresse und bürokratische Regulierungswut zurück. Im Ergebnis machen alle Dienst nach Vorschrift, doch am Ende steht keine nennenswerte Verteidigungsfähigkeit auf der Habenseite. Die Verkettung von Einzelproblemen bedeutet auch, dass es keine schnelle präsentable Insellösung gibt, die man sich nun als Einzelprojekt vornehmen kann. Rasche Erfolge kann es aber bei der Unterstützung der Ukraine und der Wiederaufnahme europäischer Kooperationsprojekte geben.

Deutschland hat es nach dem russischen Überfall in beeindruckender Geschwindigkeit geschafft, sich aus der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu lösen. Diese Erfolgsgeschichte läuft unter dem Motto "Deutschlandgeschwindigkeit". Es bräuchte diese Deutschlandgeschwindigkeit auch im Verteidigungsbereich.

Lineare Sicherheitspolitik überwinden

Deutschlands neue Sicherheit muss in einem Kontext systemischer Konflikte gewährleistet werden. Dies erfordert schnelles und umfassendes Handeln sowie die Fähigkeit, die Auswirkungen von Megatrends proaktiv zu beeinflussen. Das ist nichts, was Deutschland bis heute vorweisen kann, weder in seiner institutionellen Aufstellung noch in seiner politischen Ausrichtung. Deutschland wird daher sein gesamtes Politikmodell neu gestalten müssen – ein Unterfangen, das über die klassische Außen- oder Sicherheitspolitik hinausgeht. Wie herausfordernd das ist, zeigen bereits die Energiekrise und die Klimapolitik.

Die Herausforderung besteht darin, die lineare Fortsetzung deutscher Politik entlang bestehender Strukturen und Grenzen zu beenden. Es gilt anzuerkennen, dass Deutschlands Umwelt einem exponentiellen, disruptiven Wandel unterworfen ist. Eine angemessene Reaktion muss Deutschland daher in die Lage versetzen, Störungen zu bewältigen oder zu verhindern. Das bedeutet einerseits, das bislang vorherrschende Politikmodell zu überwinden, das in erster Linie auf externe Schocks reagiert, und andererseits ein Konzept zu entwickeln und umzusetzen, das Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen des disruptiven Wandels gewährleistet.

Eine erfolgreiche Neuaufstellung ist dann abgeschlossen, wenn Deutschland seine Handlungsfähigkeit im Kontext systemischer Konflikte in vier Bereichen signifikant verbessert hat: Beurteilungsfähigkeit; Kooperationsfähigkeit über Europa hinaus; Konfliktfähigkeit und Präventionsfähigkeit. Eine Nationale Sicherheitsstrategie kann eine erste Antwort geben. Letztlich sind es jedoch nicht Regierungsdokumente, die Deutschlands Sicherheitspolitik verändern, sondern die langfristige und dauerhafte Umsetzung, also zielgerichtetes Handeln, um Deutschland und seine Partner vor existenzbedrohenden Risiken zu schützen.

Sicherheitspolitisches Erwachsenwerden

Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Zeitenwende-Rede sehr klar die wesentliche Herausforderung für die deutsche Sicherheitspolitik umrissen: "Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus."

Aufgrund ihrer Geschichte war die Bundesrepublik lange überzeugt, den Krieg und das Militärische überwunden zu haben. Es geht heute allerdings nicht darum, den Krieg gutzuheißen, sondern damit umgehen zu können, wenn andere Länder oder Akteure Deutschland mit militärischer Gewalt konfrontieren oder versuchen, ihre Interessen damit durchzusetzen. Es geht darum, die Unbeholfenheit der deutschen Gesellschaft zu überwinden, mit Krieg als sozialer Realität umzugehen, mit der Überraschung und dem Entsetzen darüber, dass der Krieg wieder nach Europa zurückkehrt und die Errungenschaften und das Erfolgsmodell Deutschlands und der EU infrage stellt: Frieden durch Recht. Die Unbeholfenheit rührt auch daher, dass durch den Krieg ein fundamentaler Wandel der deutschen Politik notwendig und der Einsatz eigener Stärke erforderlich wird, um zum Frieden durch Recht zurückzukehren. Der Bundeskanzler verweist damit auf die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Stark vereinfacht, geht es bei der Zeitenwende also um das sicherheitspolitische Erwachsenwerden Deutschlands. Das ist ein langfristiger Prozess, der jetzt auf die richtige Bahn gesetzt werden muss. Deutschlands Partner können diesen Prozess unterstützen, indem sie signalisieren, dass ein stärkeres Engagement etwa im Verteidigungsbereich erwünscht und nicht bedrohlich ist, und indem sie diese Neuaufstellung aktiv unterstützen. Denn die erfolgreiche deutsche Zeitenwende ist eine Voraussetzung für die erfolgreiche europäische Zeitenwende, die Deutschland mit seinen Partnern voranbringen muss.

ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
E-Mail Link: claudia.major@swp-berlin.org

ist promovierter Politikwissenschaftler und Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin.
E-Mail Link: moelling@dgap.org