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Das Ende des wohlwollenden Hegemons? Die Achse Paris-Berlin in Europa

Eric-André Martin

/ 8 Minuten zu lesen

Seitdem Olaf Scholz angesichts des russischen Angriffs auf die gesamte Ukraine von einer "Zeitenwende" sprach, blicken Deutschlands internationale Partner erwartungsvoll nach Berlin. Wie steht es um das Bild Deutschlands in der Ukraine, Polen, Frankreich und den USA?

"Frankreich und Deutschland tragen gemeinsam die Verantwortung dafür, das Projekt eines geeinten und souveränen Europas zu bekräftigen." Mit diesen Worten fasste Frankreichs Präsident Emmanuel Macron anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags zusammen, was seit seinem Amtsantritt 2017 im Mittelpunkt seines Handelns in Europa und in Bezug auf Deutschland steht: die Entwicklung einer gemeinsamen Agenda, die zugleich Impulse für die bilaterale Zusammenarbeit setzt, die Position Europas auf der Weltbühne stärkt und es diesem Europa ermöglicht, den Herausforderungen von morgen zu begegnen – eine ehrgeizige europäische Agenda also, zu deren Prioritäten die Stärkung der europäischen Souveränität zählt. Ihr zugrunde liegt die Auffassung, dass die wichtigsten Herausforderungen, denen sich Europa in den vergangenen Jahren gegenübersah, von globaler Dimension sind. Dieses Postulat wiederum erfordert ein Überdenken des Projekts Europa vor dem Hintergrund seiner Beziehungen zur übrigen Welt. Es gilt, eine Agenda zu entwerfen, dank derer Europa seine Souveränität durch Initiativen in sechs Handlungsräumen stärken kann, die Macron als wesentliche Elemente zeitgenössischer Macht identifiziert: Sicherheit und Verteidigung, Migration und Grenzen, ökologischer Wandel, digitale Transformation, Ernährungssouveränität, wirtschaftliche und industrielle Macht. Letztlich laufe dieses Bestreben auf eine Neugründung Europas hinaus, bei der der ursprüngliche Fehler des europäischen Projekts behoben würde: der Verzicht auf Macht, der eine notwendige Voraussetzung für die europäische Einigung war. Die Umsetzung von Macrons Projekt hängt von einem deutsch-französischen Kern und dessen Fähigkeit ab, eine treibende Kraft für Europa zu entfalten.

Gleichwohl kann aber auch die Beständigkeit, mit der Macron dieses Ziel vertritt, nicht über die geringen Fortschritte hinwegtäuschen. Zwar hat die deutsch-französische Zusammenarbeit einige Durchbrüche auf europäischer Ebene ermöglicht, wie zum Beispiel das europäische Aufbauinstrument "Next Generation EU" für die Zeit nach Covid-19. Doch die verhaltene Reaktion Berlins auf die inhaltlichen Vorschläge Macrons für Europa hat auf französischer Seite zu einer gewissen Frustration geführt, die mitunter in Überdruss und sogar Ressentiments umschlug. Auf deutscher Seite sorgten zum einen die Alleingänge des französischen Präsidenten in Angelegenheiten der Außen- und Sicherheitspolitik für Verärgerung, zum anderen, dass man vom Partner vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Während Deutschland einen institutionellen Ansatz vorzog, um die Rolle der EU und der Nato in Sicherheitsfragen zu stärken, verfolgte Frankreich mit Blick auf Libyen und die Türkei eine sehr auf die eigenen nationalen Interessen fokussierte Politik. Den Höhepunkt dieser Differenzen markierte zweifellos die Aussage des französischen Präsidenten zum "Hirntod" der Nato.

Paradoxerweise führen die wiederholten Krisen der vergangenen Jahre und vor allem der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine aber klar vor Augen, dass die EU die einzig richtige Ebene ist, um den Herausforderungen entgegenzutreten, denen Frankreich und Deutschland gegenüberstehen. Dieser Konflikt wird tiefgreifende Konsequenzen für die EU nach sich ziehen, und vor dem Hintergrund der Polykrise und Ressourcenknappheit kommt die Versuchung wieder auf, "rette sich, wer kann" zu denken und eine Jeder-für-sich-Haltung einzunehmen. Daher stellt sich die Frage, wie Frankreich und Deutschland die Zukunft für sich selbst, aber auch für die EU und die internationale Ordnung sehen. Welchen Platz nehmen die Partner in der Vorstellung ein, die der andere sich von seiner eigenen Zukunft macht?

Der Krieg als asymmetrischer Schock

Seit Beginn des Krieges in der Ukraine dreht sich die öffentliche Diskussion in Deutschland um die "Zeitenwende". Berlin ist gezwungen, das Land aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, vor allem vom russischen Gas, zu befreien und die Dekarbonisierung der deutschen Wirtschaft voranzutreiben, um die Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsstandorts Deutschland zu sichern. Die aktuelle Krise wirft in Deutschland existenzielle Fragen auf. Berlin muss unter Zeitdruck sein Wirtschaftsmodell überdenken und so gestalten, dass es Wohlstand und Sicherheit zugleich gewährleisten kann – und das, während die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie gefährdet ist. Bundeskanzler Olaf Scholz muss sowohl der Bevölkerung als auch den Wirtschaftskreisen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln und gleichzeitig die bisweilen abweichenden Ansichten seiner Koalitionspartner ausbalancieren.

In Frankreich gestaltet sich die politische Debatte um den Krieg in der Ukraine einvernehmlicher. Geschützt durch den verfassungsrechtlichen Status der Außen- und Verteidigungspolitik als "domaine réservé" des Staatspräsidenten, also als ein ihm vorbehaltener Bereich, bewahrt sich Macron einen breiten Handlungsspielraum und bleibt weitgehend von Kritik verschont. Aus französischer Sicht bestätigt der Krieg in der Ukraine die Dringlichkeit einer Stärkung der europäischen Souveränität. Auch hat Frankreich im Rahmen der Krisenbewältigung nicht die Hemmschwellen zu überwinden, denen sich Berlin gegenübersieht. Das gilt insbesondere für Waffenexporte oder Versuche, Gespräche mit dem russischen Präsidenten zu führen. Für Paris wirft der Konflikt Deutschland auf grundlegende Fragen zurück, die zu lange auf die lange Bank geschoben wurden: Berlin muss den offenkundig gewordenen Widerspruch überwinden, eine technologisch und wirtschaftlich erfolgreiche Großmacht sein zu wollen, auf geopolitscher Ebene aber unbedeutend zu sein. Es gilt, die Fähigkeiten und die Ausrüstung des deutschen Militärs weiterzuentwickeln und zu verbessern. Berlin muss nicht nur in die Sicherheit des Landes investieren, sondern auch die Abhängigkeit von bestimmten ausländischen Märkten verringern. Zudem drängt die gegenwärtige Krise zu einem Überdenken der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten im wirtschaftlichen und finanziellen Bereich, um die Entstehung einer wahrhaft europäischen Industriepolitik zu ermöglichen. Die Verabschiedung des Inflation Reduction Act in den USA unterstreicht das Risiko, dass europäische Unternehmen ihren Standort verlagern und die europäischen Wirtschaftssysteme aufgrund der steigenden Energiekosten an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Nur mit einer Antwort auf europäischer Ebene wird es möglich sein, die für den digitalen Wandel und die Energiewende notwendigen Technologien souverän und nachhaltig zu entwickeln.

Im Hinblick auf die Beziehung zu Berlin ist die französische Sichtweise ambivalent. Einerseits sieht Paris darin eine Gelegenheit, Deutschland für seine europäische Agenda zu gewinnen, in deren Mittelpunkt das erklärte Ziel einer größeren strategischen Autonomie steht, insbesondere gegenüber den USA und China. Angesichts einer deutschen Haltung, die als zögerlich oder unentschlossen wahrgenommen wird, ist Frankreich versucht, den eigenen Vorteil zu suchen und Berlin dazu zu bewegen, Entscheidungen zu treffen, die den französischen Vorstellungen entsprechen.

Andererseits ist sich Frankreich der Tatsache bewusst, dass die Erschütterung durch den Krieg Berlin mit der Zeit dazu bewegen könnte, seine Stellung in Europa neu auszurichten und sich von Paris zu distanzieren. Das rührt an alte französische Ängste und die Sorge, dass Berlin seine Rolle als wohlwollender Hegemon aufgeben könnte, um eine auf die eigenen nationalen Interessen ausgerichtete Agenda zu verfolgen und eine härtere Gangart bei Themen einzulegen, die für Paris zentral sind. Hierzu zählen die Bereitstellung von Mitteln auf europäischer Ebene, die zur Überwindung der Energiekrise und der Kriegsfolgen notwendig sind, die Reform der europäischen Institutionen, die Erweiterung der EU sowie die transatlantischen Beziehungen. Vor diesem Hintergrund wurden bestimmte Beschlüsse der Bundesregierung in Frankreich als eine Tendenz Berlins interpretiert, im Alleingang zu handeln, etwa die China-Reise von Bundeskanzler Scholz nach der Wiederwahl von Xi Jinping zum Staats- und Parteichef – zu einem Zeitpunkt, als die europäischen Partner sich mit der Frage beschäftigen, wie auf den autoritären Kurs des chinesischen Regimes zu reagieren sei. Hinzu kamen die unkooperative Haltung in der EU-Haushaltsdebatte und Deutschlands Widerstand gegen den europäischen Gaspreisdeckel.

Gleichzeitig stehen die deutsch-französischen Unstimmigkeiten bei Energiethemen, militärischen Angelegenheiten und Handelsfragen konkreten Fortschritten in der bilateralen Zusammenarbeit im Weg. Das zeigen zum Beispiel die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Rüstungsprojekt Future Combat Air System oder der geplanten Gaspipeline aus Spanien durch Frankreich.

Moment der Wahrheit für gemeinsame Ambitionen

Im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine und seinen Folgen für Europa ist es Deutschland und Frankreich nicht gelungen, als treibende Kraft zu wirken und die anderen EU-Mitgliedstaaten und die Kommission für eine gemeinsame Agenda zu gewinnen. Dabei ist jetzt nicht die Zeit für Selbstreflexion, Konkurrenzdenken oder gar Schuldzuweisungen, sondern es sind Taten gefragt. Wie die beiden Länder die Folgen des Krieges bewältigen, wird von entscheidender Bedeutung für den Zusammenhalt der EU sein.

Das gilt umso mehr, als die deutsch-französische Autorität in den Augen einiger EU-Mitglieder angeschlagen ist, weil Paris und Berlin die Gefahr eines Krieges mit Moskau unterschätzt und die Warnungen Polens oder der baltischen Staaten vor Russland ignoriert haben. Dieser Autoritätsverlust wird sich in verschiedenen Bereichen bemerkbar machen: zunächst in der Veränderung des militärischen Gleichgewichts in Europa – Polen verfolgt das Ziel, die stärkste Landstreitkraft Europas zu werden, das Vereinigte Königreich hat durch die frühzeitige und bedingungslose Unterstützung der Ukraine an Einfluss gewonnen, und die Türkei behauptet ihre Militärmacht; des Weiteren in der Kritik am übermäßigen Einfluss Frankreichs und Deutschlands auf die europäische Politik, die bei den geplanten Reformen der europäischen Institutionen Vorsicht erforderlich macht, vor allem mit Blick auf das Einstimmigkeitsprinzip. Letztlich könnten die politischen Ereignisse des Jahres 2024 die Karten in Europa neu mischen, wenn das Europäische Parlament gewählt und die Europäische Kommission abgelöst wird, aber auch die Präsidentschaftswahlen in den USA stattfinden.

Auf globaler Ebene werden Frankreich und Deutschland auf den Status mittelgroßer Mächte zurückgeworfen. Ihre Fähigkeit steht infrage, die Folgen der zunehmenden amerikanisch-chinesischen Spannungen durch den Aufbau einer soliden, auf effizientem Multilateralismus basierenden Verteidigung abzufangen. Das unterstreicht die Herausforderung, vor der die EU als Ganzes steht: Sie muss sich als unabhängiger und widerstandsfähiger Akteur in einer zunehmend multipolaren und von Machtrivalitäten geprägten Welt behaupten. Für Bundeskanzler Scholz hat Deutschland daher keine andere Wahl, als sich mit seinen Partnern in Bereichen solidarisch zu zeigen, in denen eine innere Spaltung Europas Einmischungen aus dem Ausland Tür und Tor öffnen würde. In dieser Hinsicht ist es "von entscheidender Bedeutung, eine noch engere Zusammenarbeit mit Frankreich zu pflegen, das dieselbe Vorstellung einer starken und souveränen EU hat". Die aktuelle Situation erfordert ein neues Projekt für Europa, das nicht mehr auf Frieden und Versöhnung, wirtschaftliche Expansion und Integration ausgerichtet ist, sondern auf die Verteidigung der Sicherheit, des wirtschaftlichen Wohlstands, der Entscheidungsfähigkeit und des Gesellschaftsmodells. Für Paris und Berlin bedeutet das, dass sie sich wieder gemeinsam mit den großen Fragen des aktuellen Zeitgeschehens auseinandersetzen müssen. Getrennte Wege zu gehen, würde heißen, sich von der ursprünglichen Idee eines Europas im Sinne seiner Gründerväter zu verabschieden und damit faktisch die Vorstellung eines starken, handlungsfähigen Europas aufzugeben.

Aus dem Französischen von Sandra Uhlig, Bonn

ist Generalsekretär des Studienkomitees für deutsch-französische Beziehungen am Institut français des Relations internationales (IFRI) in Paris.
E-Mail Link: martin@ifri.org