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Von "umfassender strategischer Partnerschaft" zu Systemrivalität Für eine Chinapolitik ohne Illusionen

Thorsten Benner

/ 3 Minuten zu lesen

Bei der Neuausrichtung der deutschen Chinapolitik gilt es, die Lehren aus dem Scheitern der deutschen Russlandpolitik zu berücksichtigen. Denn die Abhängigkeiten Deutschlands gegenüber China sind weitreichender und komplexer, als es jene gegenüber Russland je waren.

"Wir müssen unsere China-Politik an dem China ausrichten, das wir real vorfinden", sagte Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung nach seiner Wahl zum Bundeskanzler im Dezember 2021. Ein knappes Jahr später, kurz vor seiner Reise nach Beijing im November 2022, erklärte er: "Wenn sich China ändert, muss sich auch der Umgang mit China verändern." Diese beiden Sätze mögen banal und selbstverständlich klingen. Doch sie sind es nicht. Insbesondere seit der Machtübernahme Xi Jinpings als Chinas Staats- und Parteichef 2013 hat Deutschland unter Bundeskanzlerin Angela Merkel seine Chinapolitik an Blütenträumen einer "umfassenden strategischen Partnerschaft" mit einem Wunsch-China ausgerichtet, obwohl sich das Land immer stärker zu einem Systemrivalen und Gegner entwickelt, der Deutschland und Europa mit seinem globalen Machtanspruch sowie seinem autoritären Staatskapitalismus mit riesigem Heimatmarkt (sicherheits)politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich herausfordert.

Olaf Scholz hat mit seinen beiden zitierten Maximen die Grundlagen für eine realistische Chinapolitik gelegt. Jetzt geht es darum, den chinapolitischen Kurswechsel, den viele Stimmen bereits gegen Ende der Merkel-Ära anmahnten, mit Nachdruck umzusetzen. Grundlage dafür muss eine mentale Neujustierung auf Basis des real existierenden kommunistischen Parteistaats sein sowie der Abschied von weit verbreiteten Illusionen. Dabei gilt es, die richtigen Lehren aus dem katastrophalen Scheitern der deutschen Politik gegenüber der anderen autoritär regierten Großmacht zu berücksichtigen: Russland. Das böse Erwachen aus der bisherigen Russlandpolitik und den energiepolitischen Abhängigkeiten kam für viele in Deutschland erst am Tag des russischen Überfalls auf die gesamte Ukraine. Mit Blick auf China sollte das Erwachen früher kommen. Xi hat gegenüber Taiwan einen sehr ähnlichen historisch begründeten Unterwerfungsanspruch formuliert wie Putin gegenüber der Ukraine. Er könnte einen Krieg mit den USA riskieren, um seinen Traum zu erfüllen, Taiwan unter chinesische Kontrolle zu bringen. Ein solches Szenario hätte auch für Deutschland weit größere Konsequenzen als der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Das betrifft nicht nur die militärische Dimension eines Krieges zwischen den Großmächten. Die weltweiten Verwerfungen durch den kompletten Bruch der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den USA, ihren Verbündeten und China wären dramatisch. Deutschlands Abhängigkeiten gegenüber China sind weitreichender und komplexer als jene gegenüber Russland. Sie betreffen zahlreiche Rohstoffe, industrielle Vorprodukte und weitere wichtige Teile von Lieferketten, nicht zuletzt bei den Kerntechnologien der Energiewende. Schon jetzt benutzt Beijing wirtschaftliche Abhängigkeiten als Waffe. Deutschland muss diese Abhängigkeiten mit Nachdruck reduzieren.

Merkels Illusionen

Im Juli 2017 brachte Angela Merkel in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping im Bundeskanzleramt ihre chinapolitischen Illusionen prägnant auf den Punkt: "Wir haben inzwischen nicht nur eine strategische Partnerschaft, sondern eine umfassende strategische Partnerschaft, wie wir das nennen. Das bedeutet im Grunde, dass alle Bereiche der Gesellschaft in diese Zusammenarbeit mit einbezogen sind."

Die Bundeskanzlerin machte unmissverständlich deutlich, dass sie die Partnerschaft zwischen Deutschland und China auch unter Xi Jinping auszuweiten gedachte, und hielt bis zum Ende ihrer Kanzlerschaft an dieser Linie fest. Eines ihrer letzten Prestigeprojekte war es, Ende 2020 in der EU ein Investitionsabkommen mit China durchzusetzen, das Comprehensive Agreement on Investment. Dies war Merkels chinapolitischer Willkommensgruß an den frisch gewählten US-Präsidenten Joe Biden. Dabei ging es ihr darum, mit Beijing zusammenzuarbeiten, um "eigene Handlungsspielräume auch gegenüber den USA zu erweitern". Merkel versuchte mithilfe der strategischen Partnerschaft mit Beijing, Gegenmacht gegenüber den USA aufzubauen.

Mit diesem Ansatz war Merkel keinesfalls allein auf weiter Flur. Der Schock über das Verhalten des US-Präsidenten Donald Trump, der jegliches gemeinsame Vorgehen der USA und Europas gegenüber China ablehnte und Deutschland und Europa regelmäßig handelspolitisch drohte, saß tief. Führende China-Experten in Deutschland forderten, mit Beijing zusammenzuarbeiten, um die Rolle des US-Dollars als internationale Leit- und Reservewährung zu begrenzen. Das Anti Coercion Instrument, das die EU derzeit als Schutz gegen wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen ausarbeitet und inzwischen vor allem auf China gemünzt ist, war ursprünglich als Reaktion auf US-Sekundärsanktionen gegenüber Iran gedacht, die europäische Firmen ins Visier nahmen.

Xis Kampf

In Merkels letzter Amtszeit von 2018 bis 2021 war die Ausrichtung am Leitbild einer "umfassenden strategischen Partnerschaft" mit dem China Xis zunehmend umstritten. Ein chinapolitisches Umdenken setzte in Deutschland wie auch auf europäischer Ebene ein. Wichtigster Katalysator dafür waren Worte und Taten Xis. Schon früh nach seinem Amtsantritt als Staats- und Parteichef 2013 war klar geworden, dass Xi keinen Kurs der politischen Öffnung verfolgen würde.

In dem 2013 verfassten "Dokument 9" forderte die Führung der Kommunistischen Partei eine starke Reideologisierung im Kampf gegen als feindlich wahrgenommene "westliche Ideen". Im ersten Jahrzehnt seiner Führung hat Xi den absoluten Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei in allen Bereichen zementiert, auch in der Wissenschaft. Dazu gehören verschärfte Repressionen gegen all diejenigen, die der Parteistaat als "nicht auf Linie" klassifiziert. Im Namen des "Kampfes gegen den Terror" verletzt Xis Parteistaat systematisch die Rechte der Minderheit der Uiguren. Entgegen des in einem internationalen Abkommen verbrieften Versprechens "ein Land, zwei Systeme" hat Xi mit großer Entschlossenheit die politische Autonomie Hong Kongs ausgehebelt und Demonstrationen dagegen brutal niederschlagen lassen. Xi geht zudem unter Inkaufnahme wirtschaftlicher Kosten gegen Teile der chinesischen Wirtschaft etwa im Digitalbereich vor, um den Macht- und Kontrollanspruch der Partei durchzusetzen. Den eigenen Machtanspruch perpetuierte Xi, indem er Amtszeitbegrenzungen und das Prinzip kollektiver Führung abschaffte, die die Kommunistische Partei nach den Erfahrungen mit Mao eingeführt hatte. Den Kampf gegen internationale Widersacher, insbesondere gegen die USA und den von ihnen angeführten Westen, führt Xi genauso entschlossen wie den Kampf im Inneren. Die chinesische Führung sieht das als Teil einer historischen Mission, das Land wieder zu alter Größe zu führen, als zentrales Element des von Xi propagierten "chinesischen Traums". Bis spätestens 2049, dem 100-jährigen Jubiläum des Parteistaats, soll die "nationale Wiedergeburt" erfolgreich vollzogen sein.

Dabei traf Xi zu Beginn seiner Amtszeit international auf wenig Widerstand. Im südchinesischen Meer schüttete Beijing völkerrechtswidrig Inseln auf und militarisierte diese anschließend. Dies geschah während Barack Obamas US-Präsidentschaft, der mit Blick auf Herausforderungen wie Afghanistan oder Nordkorea auf Kooperation mit Beijing setzte und die Konfrontation scheute. Die chinesische Antwort auf Obamas Kooperationsangebot war, dies als Schwäche auszunutzen und die eigenen militärischen Interessen durchzusetzen. Die USA vertraten unter Donald Trump und vertreten nun auch unter Joe Biden eine deutlich konfrontativere Position gegenüber Beijing – nicht zuletzt auch technologisch, etwa durch Sanktionen auf Hochtechnologieexporte wie im Halbleiterbereich, wo China auf von den USA und ihren Verbündeten kontrollierte Technologie angewiesen ist. Xi sieht sich in einem langen Kampf mit den USA. Im März 2023 brachte er dies auf den Punkt: "Westliche Länder, angeführt von den Vereinigten Staaten, haben China in allumfassender Weise eingedämmt und unterdrückt, was für die Entwicklung unseres Landes beispiellose Herausforderungen gebracht hat."

Die zentrale Herausforderung ist aus Xis Sicht, sich für diesen Kampf nach innen wie nach außen zu härten und widerstandsfähig zu sein. Dafür soll das chinesische Militär in Xis Worten zu einer "Großen Mauer aus Stahl" ausgebaut werden. In einer Rede im April 2020 sagte er sehr klar, dass man in allen sicherheitsrelevanten Bereichen der Produktion vom Ausland unabhängig werden wolle. Gleichzeitig müsse man die "Abhängigkeit internationaler Produktionsketten von China erhöhen und dadurch eine starke Fähigkeit zu Gegenmaßnahmen und Abschreckung gegenüber Ausländern ausbilden, die Lieferungen an China künstlich einschränken könnten". Die drei Jahre dauernde Geiselnahme des kanadischen Forschers Michael Kovrig und des kanadischen Geschäftsmanns Michael Spavor ab Dezember 2018, die als Reaktion auf die Festnahme der Tochter des Huawei-Gründers in Kanada erfolgte, zeigte, dass Beijing heute auch nicht mehr davor zurückschreckt, ausländische Staatsbürger als Faustpfand für die Durchsetzung seiner Interessen zu instrumentalisieren. Dasselbe gilt für frontale Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit in Europa, wie die im März 2021 von China verhängten Sanktionen gegen kritische China-Forscher in Europa belegen, darunter das gesamte Berliner Mercator Institute for China Studies, die als Vergeltung für EU-Sanktionen gegen einige an Menschenrechtsverletzungen beteiligte chinesische Beamte auferlegt wurden.

Generell ist Beijings Außenpolitik klar zwei Zielen untergeordnet: die innere Legitimität der Kommunistischen Partei zu erhöhen und gleichzeitig die Position des Parteistaats zu stärken, vor allem gegenüber den USA. Aus dieser Zielsetzung erklären sich auch zwei der außenpolitischen Positionierungen Chinas, die Deutsche und Europäer in den vergangenen Jahren am meisten verstört haben dürften: die Pandemieaußenpolitik sowie die "grenzenlose Freundschaft" mit Putins Russland. In den ersten Wochen der Corona-Pandemie leisteten europäische Länder China Unterstützung in Form von Hilfslieferungen, ohne daraus Kapital zu schlagen. Beijing hingegen schlachtete jede Lieferung von medizinischen Gütern nach Europa später öffentlich aus, stellte den eigenen Weg der Pandemiebekämpfung propagandistisch als Zeichen der Überlegenheit des Parteistaats dar, unterband offene Untersuchungen zum Ursprung des Virus in China und verbreitete gleichzeitig Verschwörungstheorien zum angeblichen Ursprung des Virus in den USA. Diese Verweigerung einer offenen Zusammenarbeit angesichts eines globalen Gesundheitsnotstands, weil Machtinteressen der Kommunistischen Partei dem entgegenstanden, warf grundlegende Fragen zur Kooperationsfähigkeit Beijings auf.

Ebenso irritierend finden viele Europäer, dass Beijing seit Beginn der Invasion Russlands in der gesamten Ukraine fest an der Seite des Kreml steht und an der zwischen Xi und Putin im Februar 2022 kurz zuvor vereinbarten "Freundschaft ohne Grenzen" und "ohne verbotene Bereiche" festhält. Beijings Unterstützung für Moskau, die sich in politischer Flankierung, vertieften Handelsbeziehungen sowie Kooperation des Militärs niederschlägt, ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass China Russland in der Auseinandersetzung mit den USA langfristig an seiner Seite haben möchte. Beijings Sorge ist nicht eine langfristige Destabilisierung der europäischen Friedensordnung, sondern eine Niederlage Moskaus, die eine Ablösung Putins durch einen weniger chinafreundlichen Kreml-Herrscher nach sich ziehen könnte.

Auch Beijings Politik gegenüber Deutschland folgt den Zielen der Stärkung der eigenen Herrschaftsbasis und der eigenen Position im Systemkonflikt mit den USA. China schätzt Deutschland als Absatzmarkt und in den Bereichen, in denen Deutschland wie etwa in der Industrie und in der Wissenschaft etwas anzubieten hat, auch als Bereitsteller von Technologie. Gleichzeitig möchte Beijing so weit wie möglich verhindern, dass Deutschland und Europa sich mit den USA gegen China zusammenschließen.

Chinapolitisches Umdenken

Diese Betrachtung macht deutlich: Wer im chinesischen Parteistaat einen "umfassenden strategischen Partner" sieht, ist blind für die Realitäten der Machtpolitik Xis. In der deutschen Wirtschaft und Politik gibt es noch einige, die dies nicht einsehen – ob aus kurzsichtigem wirtschaftlichen Eigeninteresse oder aus sonstigen Motiven. Aufseiten der Wirtschaft ist der langjährige Volkswagen-Chef Herbert Diess dafür ein Beispiel. Im Sommer 2022 sagte er über den Kongress der Kommunistischen Partei, der im Oktober anstand, dieser "dürfte eine weitere Öffnung bringen. China wird sich auch im Wertesystem weiter positiv entwickeln. Wir können einen Beitrag zum Wandel leisten, indem wir vor Ort vertreten sind." Sein Nachfolger Oliver Blume verteidigte Anfang September 2022 das VW-Werk in Xinjiang mit einer formvollendeten "Wandel durch Handel"-Argumentation: "Es geht darum, unsere Werte in die Welt zu tragen. Auch nach China, auch in die Uiguren-Region." Aufseiten der Politik ist Bundestagsvizepräsident Hans-Peter Friedrich (CSU) ein Vertreter dieser Haltung. 2021 sagte er: "Nein, China ist keine Diktatur, China ist ein Staat, in dem im Wesentlichen eine Partei, nämlich die Kommunistische Partei herrscht. Wir haben das einfach so zur Kenntnis zu nehmen." Derartige Äußerungen sind allerdings mittlerweile in der politischen Mitte seltener geworden.

Dazu hat auch die Betonung der Systemrivalität mit China durch Teile der Wirtschaft beigetragen, die durch die "Made in China 2025"-Strategie aufgeschreckt wurden. Mit ihr verkündete Beijing die Absicht, Deutschland in zentralen Industriebereichen wie dem Maschinen- und Anlagenbau den Rang abzulaufen. Lange Zeit hatte sich die deutsche Industrie darauf verlassen, dass man sich am Markt durch Innovationsvorsprung global durchsetzen werde und China als Wettbewerber nicht gefährlich werden könne. Doch nun wurde vielen klar, dass dies ein Trugschluss war. Die chinesische Konkurrenz konnte sich sehr wohl und viel öfter als gedacht durchsetzen. Dies war aus Sicht der Industrie nicht nur dem Fleiß der chinesischen Ingenieure geschuldet, sondern auch unfairen Methoden des autoritären Staatskapitalismus chinesischer Prägung. Viele deutsche Unternehmen können über Beispiele des Diebstahls geistigen Eigentums in Joint Ventures oder Benachteiligungen auf dem chinesischen Markt bei der Auftragsvergabe gegenüber chinesischen Konkurrenten berichten. Doch die Problematik geht tiefer. Chinesische Unternehmen haben den Vorteil eines riesigen geschützten Heimatmarkts, in dem sie Wettbewerbsvorteile aus Skaleneffekten und staatlichen Krediten zu Vorzugskonditionen ziehen können. Im Januar 2019 fasste der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) seine Bedenken in einem wegweisenden Grundsatzpapier zusammen, das China als "systemischen Wettbewerber" identifizierte. Dass Beijing 2021 aus Ärger über die Taiwanpolitik Litauens auch dort produzierende deutsche Unternehmen mit Wirtschaftssanktionen belegte, ließ die Alarmglocken des BDI noch einmal lauter läuten. Der BDI verurteilte diesen fundamentalen Angriff auf die Kernprinzipien des EU-Binnenmarkts als "verheerendes Eigentor". Zwei Monate nach der Publikation des BDI-Berichts Anfang 2019 verkündete dann die EU in einem Strategiepapier, dass China zugleich Partner, Wettbewerber und Systemrivale sei. Der Dreiklang fand auch Einzug in den Koalitionsvertrag der Ampelkoalition.

Eine wachsende Zahl von Stimmen erkennt mittlerweile an, dass die Systemrivalität überwiegt. In einem Positionspapier formulierte die SPD-Bundestagsfraktion 2020: "Die Systemkonkurrenz bestimmt letztendlich das Ausmaß, wie die Partnerschaft mit China konkret ausgestaltet werden kann, und beeinflusst auch die Art und Weise des wirtschaftlichen Wettbewerbs mit China." Der SPD-Kovorsitzende Lars Klingbeil hat mehrfach betont, dass Deutschland dringend kritische Abhängigkeiten von China reduzieren muss. Aufseiten der Union gehört Norbert Röttgen zu den Politikern, die bereits unter Angela Merkel ein sehr deutliches Umdenken mit Blick auf China anmahnten. Ein Kristallisationspunkt war die Debatte um die von Merkel vorangetriebene Beteiligung des chinesischen Konzerns Huawei an der kritischen Mobilfunkinfrastruktur 5G. Röttgen opponierte erfolgreich gegen Merkels Kurs und sorgte gemeinsam mit Abgeordneten des damaligen Koalitionspartners SPD und mit Unterstützung der Opposition aus Grünen und FDP dafür, dass der Bundestag ein Gesetz verabschiedete, das Instrumente zum Ausschluss Huaweis enthielt. Eine bemerkenswert kritische Positionierung gegenüber Beijing hat in den vergangenen Jahren die FDP entwickelt. Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Johannes Vogel etwa hat sehr deutlich einen Stresstest für die deutschen Abhängigkeiten von China gefordert und argumentiert, dass China die "größere systemische Herausforderung" sei als Russland. Die vielleicht härteste Positionierung gegenüber Beijing findet sich bei den Grünen, vorangetrieben unter anderem durch den EU-Abgeordneten Reinhard Bütikofer. Entsprechend sind Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck Antreiber einer realistischeren Chinapolitik in der Ampelkoalition.

Widerstandsfähige China-Strategie

So erfreulich dieses Umdenken ist, so wenig ausreichend sind bislang die Resultate. Xis China hat sich weit schneller auf bedrohliche Art und Weise verändert als unser Umgang damit. Handelsbilanzdefizit und Abhängigkeiten wachsen weiter. Und zu viele gefährliche Illusionen haben weiter einen prominenten Platz in der Debatte: Zu viele flüchten sich in das Narrativ "China ist nicht Russland", als ob wir sicher sein könnten, dass Xi nicht ähnlich wie Putin ideologisch und machtpolitisch getriebene, aus unserer Sicht irrationale Entscheidungen trifft – etwa für eine Invasion Taiwans. Zu viele, auch der Kanzler, nutzen das Scheinargument "Keine Entkopplung" als Nebelkerze in der Diskussion, als ob jemand von Belang eine komplette Entkopplung von China fordern würde. Zu viele gehen davon aus, dass man klimapolitisch mit Beijing problemlos zusammenarbeiten könne oder gar Zugeständnisse in anderen Bereichen machen müsse, damit China uns klimapolitisch entgegenkommt. Zu viele hoffen, mit einem System ohne unabhängigen Rechtsstaat ließe sich verlässlich Reziprozität beim Marktzugang vereinbaren. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Es ist wichtig, dass die erste Nationale Sicherheitsstrategie und die erste China-Strategie, die die Bundesregierung im Laufe des Jahres 2023 vorlegen wird, gegen diese Illusionen angehen und eine ambitionierte China-Politik formulieren, die die Widerstandsfähigkeit gegenüber der aggressiven Politik Xis umfassend erhöht. Dazu ist ein chinapolitischer Europäisierungsschub sowie enge Koordinierung mit gleichgesinnten Partnern nötig. Orientierung dabei kann die jüngste messerscharfe chinapolitische Grundsatzrede von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vermitteln, die bislang beste Antwort auf Xis China vonseiten einer führenden europäischen Politikerin.

Entsprechend sollte sich die Bundesregierung im Bereich "wirtschaftliche Sicherheit" verpflichten, in einem ersten Schritt die Abhängigkeiten auf Unternehmensebene sowie gesamtwirtschaftlich klar zu erfassen und einem Stresstest zu unterziehen, um festzustellen, ob Unternehmen, Branchen und Lieferketten den Schock einer Abkopplung von China im Kriegsfall absorbieren könnten.

In einem zweiten Schritt sollten konkrete Maßnahmen zur Verringerung der Abhängigkeiten vorangetrieben werden. Politisch sollte die Bundesregierung das Risiko für China-Investitionen klar an die Unternehmen zurückgeben, statt immer höhere Abhängigkeiten vonseiten deutscher Großunternehmen politisch zu flankieren. Bei Rohstoffen und industriellen Vor- und Zwischenprodukten muss die Regierung durch klare Vorgaben und Anreize sicherstellen, dass Unternehmen Abhängigkeiten von China reduzieren und alternative Bezugsquellen erschließen, auch wenn dies mit höheren Kosten verbunden ist. Gerade bei kritischer Infrastruktur ist es zentral, keine weiteren Abhängigkeiten einzugehen – anders als durch die Entscheidung von Bundeskanzler Scholz im Herbst 2022, dem chinesischen Staatsunternehmen Cosco den Einstieg in den Hamburger Hafen zu ermöglichen, statt in eine einheitliche europäische Position gegenüber Cosco zu investieren. Richtigerweise verwenden Scholz und sein Kabinett viel Zeit darauf, Beziehungen zu Ländern zu vertiefen, die alternative Märkte, Bezugsquellen für Rohstoffe und kritische Produkte für die Industrie oder ein politisches Gegengewicht zu China darstellen.

In einem dritten Schritt sollte die Regierung sicherstellen, dass deutsche Unternehmen und Wissenschaftler keinen Beitrag zum Aufbau chinesischer Kapazitäten im Militär- oder Repressionsapparat leisten. Hier wird der Druck vonseiten der USA auf der Basis der von der Biden-Regierung verkündeten drastischen Verschärfung der Exportkontrollen gegenüber China bei kritischen Technologien, die auch militärischen Nutzen haben, noch einmal enorm zunehmen. Gleichzeitig müssen Deutschland und Europa massiv in die eigene Innovationsfähigkeit investieren.

Gesellschaftlich sollten wir uns besser gegen Versuche chinesischer Einflussnahme schützen, etwa durch Transparenzerfordernisse für Lobbyisten oder für jegliche Vereinbarungen mit wissenschaftlichen Einrichtungen und Medien, und gleichzeitig unsere Chinakompetenz deutlich ausbauen, wie auch unsere gesamte Asien- und Indopazifikkompetenz.

Sicherheitspolitisch muss Deutschland verhindern, dass aus der Systemrivalität mit Beijing ein heißer Krieg wird. Friedenspolitisch muss Deutschland deshalb mit Partnern in eine glaubwürdige Abschreckung Beijings investieren, den friedlichen Status quo zu Taiwan gewaltsam zu verändern. Gleichzeitig sollten wir uns einen neugierigen Blick auf die Diversität der chinesischen Gesellschaft bewahren, politische Kanäle offenhalten sowie Beijing Kooperationsangebote unterbreiten, wo deutsche und europäische Interessen dies nahelegen. Chinapolitisch steht ein turbulentes Jahrzehnt bevor. Deutschland sollte sich mit großer Entschlossenheit sturmfester machen.

ist Mitbegründer und Direktor des Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin.
E-Mail Link: tbenner@gppi.net