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Deutschland in Europa

Angela Mehrer Jana Puglierin

/ 15 Minuten zu lesen

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die Europäer enger zusammenrücken lassen und Erwartungen an Deutschland als Führungsmacht geweckt. Berlin konnte diese bisher oft nicht erfüllen und hat sich stattdessen von einigen seiner engsten europäischen Partner entfremdet.

In einer Umfrage des European Council on Foreign Relations, die zwischen Ende Mai und Anfang Juni 2021 in zwölf EU-Ländern durchgeführt wurde, zeigte sich, dass die Bürgerinnen und Bürger der EU Deutschland als vertrauenswürdige, pro-europäische Macht wahrnahmen. Die Bundesregierung schien am Ende der Ära Merkel eine integrierende Kraft und Berlin der Anker der EU in schwierigen Zeiten zu sein. Nicht ganz zwei Jahre später würde eine solche Umfrage wohl weniger positiv ausfallen. Im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat Berlin in den Ländern Mittel- und Osteuropas viel Vertrauen eingebüßt. Gleichzeitig läuft der deutsch-französische Motor alles andere als rund. Im Oktober 2022 warnte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sogar öffentlich, es sei "nicht gut für Europa", wenn Deutschland "sich isoliere".

In den 16 Jahren unter Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte Deutschland sich zunehmend als Krisenmanager geriert, der die EU durch die globale Finanzkrise, die Krise in der Eurozone, die Migrationskrise, den Brexit, die Trump-Jahre und die Covid-19-Pandemie lotste. Das deutsche Mantra in Bezug auf die eigene Rolle in der EU lautete stets: "die Union zusammenhalten". An dieses Rollenverständnis wollte auch die neue Bundesregierung anknüpfen. Im Koalitionsvertrag vom Dezember 2021 nahm sich die Ampel-Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vor, Deutschlands "besondere Verantwortung" in einem "dienenden Verständnis für die EU als Ganzes" wahrzunehmen.

Nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 standen die Deutschen allerdings über Nacht vor den Trümmern ihrer Russlandpolitik. Anders als nach der Annexion der Krim im März 2014, als es Berlin gelungen war, die übrigen Europäer hinter gemeinsamen Sanktionen zu versammeln und die europäische Antwort auf die russische Aggression maßgeblich zu prägen, konnte die Bundesregierung dieses Mal nicht als einigende Kraft wirken. Stattdessen zwang Russlands Angriffskrieg die Deutschen dazu, sich von bis dato handlungsleitenden Prinzipien in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu verabschieden und ihre Rolle in Europa neu zu definieren. Die neue sicherheitspolitische Bedrohungslage weckte Erwartungen an Deutschland als "europäische Führungsmacht", die die von Bundeskanzler Olaf Scholz geführte Regierung bislang oft nicht erfüllen konnte – oder wollte. In Brüssel ist der Eindruck entstanden, dass Berlin allzu oft seine eigenen Interessen vor die Interessen Europas stellt.

Europapolitik in der Ära Merkel

Als Zentralmacht Europas wollte Deutschland in den Jahren der Ära Merkel als eine Kraft der Mäßigung und des Ausgleichs gesehen werden, nicht als Hegemon. Angesichts des Erstarkens von nationalistischen und EU-skeptischen Kräften in ganz Europa war es Merkels oberste Priorität, das im europäischen Integrationsprozess Erreichte zu konsolidieren und zu bewahren. Ehrgeizige Reformvorschläge waren nicht ihre Sache. Stattdessen plädierte sie in der Europapolitik stets für ein Fahren auf Sicht, wobei sie sich oft mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufriedengab. Es wurde Markenzeichen ihrer Politik, in der EU immer nur so viel Veränderung zu unterstützen, dass der Status quo grundsätzlich erhalten blieb.

Nicht immer stießen ihre Ansätze auf einhellige Zustimmung. Zweifellos hat Merkels Politik die EU ebenso oft gespalten wie geeint. Während ihrer Amtszeit traf Merkel einige einseitige Entscheidungen gegen die ausdrücklichen Einwände enger europäischer Partner. Die deutsche Euro-Rettungspolitik, die insbesondere in Südeuropa stark kritisiert wurde, oder Merkels Handeln während der Migrationskrise, die in Mittel- und Osteuropa auf große Widerstände stieß, sind dafür Beispiele, ferner die deutsche Russlandpolitik.

Die strategische Partnerschaft zwischen Berlin und Moskau wurde von den verschiedenen Merkel-Regierungen oft stärker gewichtet als das Verhältnis zu den europäischen Partnern in Mittel- und Osteuropa, die häufig das Gefühl hatten, Berlin mache eine Politik über ihre Köpfe hinweg. In Berlin herrschte quer durch alle Parteien die Ansicht, es werde in Europa keine Sicherheit ohne oder gar gegen Russland geben. Trotz einer nach innen immer autokratischer und nach außen immer aggressiver auftretenden Führung im Kreml sah Deutschland sich stets als "Vermittler zwischen Russland und Europa". Berlin handelte nach dem Prinzip "Annäherung durch Verflechtung" und trieb Deutschlands Energieabhängigkeit von Russland weiter voran. Obwohl die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 das Verhältnis zu Moskau schwer belastete, beschloss die Große Koalition aus Union und SPD nur ein Jahr später gegen den großen Widerstand der Mittel- und Osteuropäer den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2. Im Rückblick scheint es, als habe Berlin die militärische Bedrohung durch Russland systematisch unterschätzt, um das gute Einvernehmen und die lukrativen wirtschaftlichen Beziehungen nicht zu gefährden.

Angela Merkels Politikstil war allerdings das perfekte Symbol für den deutschen Zeitgeist. Berlin versuchte die unterschiedlichen Interessen der europäischen Partner – und auch Russlands – miteinander zu verbinden, zusammenzuhalten und zu verflechten. Merkel setzte auf die Einbindung aller Akteure in ein postmodernes, globalisiertes, verrechtlichtes und multilaterales internationales System, in dem Geopolitik und militärische Stärke als anachronistische Überbleibsel galten. "Harte Sicherheit" war nie Merkels Sache. Eine gut ausgerüstete und wehrfähige Bundeswehr gehörte nicht zu ihren Prioritäten, im Gegenteil. Diplomatisches Geschick, soft power und eine starke Wirtschaftsleistung garantierten ihr stattdessen lange Zeit strategischen Einfluss.

Vom Merkelismus zur Zeitenwende

Russlands immer aggressiverer Revisionismus, Chinas Entwicklung zum systemischen Rivalen und die transaktionale Außenpolitik Donald Trumps, der pragmatische Ad-hoc-Allianzen institutionalisierter Kooperation vorzog, stellten dieses Modell bereits gegen Ende der Merkel-Ära infrage. Merkel selbst räumte 2017 ein, die Zeiten, in denen sich Europa auf andere völlig verlassen konnte, seien "ein Stück vorbei". Deshalb müssten die Europäer mehr tun, um für ihre eigene Sicherheit zu sorgen und ihre Interessen in der Welt zu verteidigen.

Als die Ampelkoalition unter Führung von Bundeskanzler Scholz im Dezember 2021 ins Amt kam, legte sie einen europapolitisch ambitionierten Koalitionsvertrag vor. Berlins Wille, sich für eine stärkere EU zu engagieren, zog sich wie ein roter Faden durch das gesamte Papier. Die neue Regierung wollte ihre Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Handelspolitik auf der Basis gemeinsamer europäischer Interessen ausrichten und die europäische Souveränität fördern. Langfristig sollte ein föderaler europäischer Bundesstaat entstehen; die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sollte reformiert und durch Mehrheitsentscheidungen effektiver werden. Im Streit um Rechtsstaatlichkeit wollte die neue Bundesregierung eine harte Linie verfolgen. Der Koalitionsvertrag las sich, als habe die Ampel verstanden, dass eine moderierende Haltung, die auf die Einheit und den Status quo der EU zielt, nicht länger dem Zeitgeist entsprach. Stattdessen schien sie eine proaktivere, stärker gestaltende Rolle einnehmen zu wollen, die eine handlungsfähigere EU zum Ziel hatte.

Gleichzeitig war bereits im Wahlkampf absehbar, dass Olaf Scholz in der Außenpolitik bestrebt sein würde, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zu Russland und China Kontinuität zu wahren. Noch im Dezember 2021 bezeichnete er die Pipeline Nord Stream 2 als "privatwirtschaftliches Vorhaben", das er losgelöst von den damaligen Bemühungen sah, eine Zuspitzung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine zu verhindern. In Mittel- und Osteuropa bestätigte dies viele in ihrer Annahme, Deutschland habe schon immer seine "wirtschaftliche Interessen über die Sicherheitsinteressen Mitteleuropas" gestellt.

Der Beginn der russischen Invasion in der gesamten Ukraine am 24. Februar 2022 traf Berlin weitgehend unvorbereitet. Die wenigsten politischen Entscheidungsträger in Berlin hatten mit einem Krieg gerechnet – entsprechend groß war der Schock. Nur drei Tage später machte der Bundeskanzler in seiner inzwischen berühmt gewordenen Regierungserklärung zur "Zeitenwende" weitreichende Ankündigungen, die einer kleinen Revolution der deutschen Außen-, Verteidigungs- und Energiepolitik gleichkamen: Waffenlieferungen in die Ukraine, umfassende Sanktionen gegen Russland, mehr deutsches Engagement zum Schutz der Alliierten in Osteuropa, ein im Grundgesetz abgesichertes "Sondervermögen Bundeswehr" von 100 Milliarden Euro, das Bekenntnis zum Zweiprozentziel der Nato sowie eine sofortige Reduzierung der Energieabhängigkeit von Russland. Gegen Ende der Rede verwies Scholz zudem explizit auf die europäische Dimension der Zeitenwende: "Für Deutschland und für alle anderen Mitgliedsländer der EU heißt das, nicht bloß zu fragen, was man für das eigene Land in Brüssel herausholen kann, sondern zu fragen: Was ist die beste Entscheidung für die Union? Europa ist unser Handlungsrahmen."

Die Rede wurde in den europäischen Hauptstädten und in Washington frenetisch begrüßt. Das entschiedene und mutige Vorgehen des Kanzlers galt vielen europäischen Partnern als Inspiration. Endlich schien eine deutsche Bundesregierung bereit, voranzugehen und eine wirkliche Führungsrolle in Europa einzunehmen, um europäische Interessen zu befördern. Eine diesbezügliche Erwartungshaltung an Berlin hatte es schon lange gegeben.

Bereits wenige Monate später kamen bei einigen EU-Partnern, insbesondere in Mittel- und Osteuropa, Zweifel an der Ernsthaftigkeit des angekündigten Kurswechsels auf. Die Umsetzung der Ankündigungen blieb hinter dem zurück, was sie sich erhofft hatten. Bei der Lieferung von Rüstungsgütern an die Ukraine war Deutschland kaum jemals Vorreiter, sondern wartete ab, bis andere die Initiative ergriffen. Hinzu kam die Frustration darüber, dass Berlin bei den Debatten über einen möglichen Importstopp für russisches Gas beziehungsweise einen Gaspreisdeckel zunächst auf der Bremse stand. Mit großem Unverständnis nahmen die Entscheidungsträger in Warschau, Riga, Tallin und Vilnius zudem wahr, dass bei den Beschaffungsvorhaben für die Bundeswehr jede Menge Zeit ins Land ging, bevor Beschlüsse gefasst und Aufträge an die Industrie vergeben wurden.

Zwar hat Deutschland mittlerweile mehr Waffen, Munition und andere militärische Güter als jedes andere Land in Kontinentaleuropa an die Ukraine geliefert. Die humanitäre, wirtschaftliche und militärische Hilfe beläuft sich inzwischen auf mehr als 14 Milliarden Euro. Doch es ist der Bundesregierung nicht gelungen, diese Leistung erfolgreich zu kommunizieren und die Deutungshoheit über das eigene Handeln zu erlangen. Besonders Olaf Scholz und das Kanzleramt standen in Brüssel häufig isoliert da.

Europäisierung der Zeitenwende

In seiner Regierungserklärung zur Zeitenwende hatte der Bundeskanzler offengelassen, was diese für die gemeinsame europäische Politik in Brüssel und die deutschen europapolitischen Prioritäten konkret bedeuten sollte. Am 29. August 2022 holte er dies nach, indem er in Prag eine europapolitische Grundsatzrede mit dem Titel "Europa ist unsere Zukunft" hielt, in der er die Zeitenwende auf die europäische Ebene übertragen wollte. Die Wahl des Ortes war kein Zufall. Gerade angesichts der Zweifel an der Verlässlichkeit Deutschlands in vielen Hauptstädten in Mittel- und Osteuropa ging es Scholz um ein starkes Zeichen der Verbundenheit mit der Region. In seiner Rede wurde deutlich, wie sehr er durch den Krieg in der Ukraine seine eigenen europapolitischen Prioritäten neu sortiert hatte. Während das Thema EU-Erweiterung in seiner Humboldt-Rede vom November 2018 keine Erwähnung gefunden hatte, war es in Prag ein zentrales Element seiner Überlegungen: "Europas Mitte bewegt sich ostwärts", so Scholz. Emmanuel Macrons Idee einer Europäischen Politischen Gemeinschaft ist für ihn keine Alternative zur Erweiterung. Der Kanzler hatte zuvor lange gezögert, sich für die rasche Gewährung des EU-Kandidatenstatus für die Ukraine und Moldau auszusprechen und dies erst beim gemeinsamen Besuch in Kyjiw mit Präsident Macron, Italiens Regierungschef Mario Draghi und dem rumänischen Präsidenten Klaus Iohannis im Juni 2022 getan. Nun vertrat er diese Position umso entschiedener.

Um die EU erweiterungsbereit zu machen, plädierte er für weitreichende institutionelle Reformen und die schrittweise Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen, auch in der Außenpolitik. Gleichzeitig wurde klar, dass Scholz, wie vor ihm Merkel, der Idee eines Europas der verschiedenen Integrationstiefen und Geschwindigkeiten nicht viel abgewinnen kann. Wie Merkel will auch Scholz "keine EU der exklusiven Clubs und Direktorien", sondern eine EU "der gleichberechtigten Mitglieder".

Scholz’ Ziel ist ein "geopolitisches Europa". Die EU sieht er als Bollwerk der Europäer gegen Herausforderungen von außen. Er möchte sie in die Lage versetzen, ihre Sicherheit, Unabhängigkeit und Stabilität in einer multipolaren Welt zu bewahren, in der einzelne europäische Nationalstaaten sich nicht allein behaupten können. Dazu gehört auch, die EU resilient zu machen gegen einseitige Abhängigkeiten von Drittstaaten in kritischen Bereichen und sie zu einem globalen technologischen Vorreiter aufzubauen. Ebenso plädierte Scholz für eine besser koordinierte und ambitioniertere europäische Verteidigungspolitik. Hier machte er eine Reihe konkreter Vorschläge: eine engere Kooperation europäischer Rüstungsunternehmen, einen eigenständigen Rat der Verteidigungsministerinnen und -minister, die mittelfristige Schaffung eines echten EU-Hauptquartiers, eine Überprüfung der Rüstungsexportbestimmungen und ein gemeinsames Luftverteidigungssystem für Europa.

Einen weiteren Schwerpunkt der Rede legte er auf das Thema Rechtsstaatlichkeit. Er brachte seine Unterstützung für ein konsequentes Vorgehen der EU-Kommission bei der Verletzung rechtsstaatlicher Standards zum Ausdruck und forderte, Zahlungen von EU-Mitteln von der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien abhängig zu machen. Bereits im Koalitionsvertrag hatten sich die Parteien der Ampel-Regierung für eine EU ausgesprochen, "die ihre Werte und ihre Rechtsstaatlichkeit nach innen wie außen schützt", und damit zu erkennen gegeben, dass sie bei diesem Thema klare Kante zeigen wollte.

Weil sich die Ampel-Koalition nach ihrem Amtsantritt bis dato kaum europapolitisch positioniert hatte und in Brüssel seltsam blass geblieben war, galt die Europa-Rede als Wegweiser für die europapolitischen Prioritäten der Bundesregierung. Viele der Vorschläge, die Scholz in Prag ausführte, waren allerdings nicht neu und eher technokratischer Natur. Wie sie nun gegen die bisherigen Widerstände umgesetzt werden sollen, erklärte er nicht. Ähnlich wie Merkel neigt auch Scholz nicht zu großen europapolitischen Visionen. Und noch eine weitere Parallele ist offenkundig: In seiner Rede machte Scholz deutlich, dass er Deutschlands Rolle weniger darin sieht, sich an die Spitze der EU zu setzen und voranzugehen, sondern vielmehr darin, als "Land in der Mitte des Kontinents" alles dafür zu tun, "Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenzuführen". Das klang deutlich mehr nach "ehrlichem Makler" als nach "Führungsnation". Bereits im Juli 2022 hatte er in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" geschrieben: "Führen, das kann nur heißen: zusammenführen, und zwar im doppelten Wortsinn." Scholz versteht darunter, gemeinsam mit anderen Lösungen zu erarbeiten, auf Alleingänge zu verzichten und als einigende Kraft in Europa zu wirken.

Wahrnehmung auf europäischer Ebene

Von der Absicht, "deutsche Interessen im Lichte europäischer Interessen" zu definieren, wie es sich die Ampel-Parteien im Koalitionsvertrag vorgenommen haben, spüren Deutschlands Partner bislang allerdings häufig zu wenig. Stattdessen haben sie den Eindruck, dass Berlin allzu oft keinen Gedanken an die Reaktionen in anderen europäischen Hauptstädten verschwendet. Das liegt maßgeblich an einem Mangel an Kommunikation. Der im September von Bundeskanzler Scholz angekündigte 200 Milliarden Euro schwere "Doppel-Wumms", mit dem die Ampel-Regierung die Folgen der gestiegenen Energiepreise für deutsche Bürgerinnen und Bürger sowie für Unternehmen abfedern will, wurde im Vorfeld nicht mit den europäischen Partnern abgestimmt. Italien, Spanien, Frankreich und die EU-Kommission reagierten entsprechend verärgert und beklagten eine unfaire Wettbewerbsverzerrung. Deutschland verhalte sich nicht solidarisch, da weniger finanzkräftige Staaten ein solches Hilfspaket nicht auf die Beine stellen könnten. Die EU-Kommissare Thierry Breton und Paolo Gentiloni warnten in einem Meinungsartikel vor einem "europaweiten Subventionswettlauf", der die Solidarität und Einheit in Europa untergraben könne. Die Bundesregierung konterte mit dem Argument, auch andere EU-Staaten schützten ihre Unternehmen vor den Folgen der Energiekrise und griffen ihren Bürgern unter die Arme. Das stimmte zwar, doch hatte sich der Eindruck eines deutschen nationalen Alleingangs da bereits festgesetzt. Es bleibt ein Rätsel, wieso Olaf Scholz als Architekt des europäischen Aufbauplans "Next Generation EU" in dieser Frage nicht über mehr Fingerspitzengefühl verfügte.

Irritationen gab es in Brüssel auch mit Blick auf die deutsche Chinapolitik. Nachdem sich die Parteien der Ampel im Koalitionsvertrag darauf verständigt hatten, ihre Beziehungen zu China stärker europäisch auszugestalten, hatte man in Brüssel die Hoffnung, dass Berlin zukünftig weniger eine Sonderbeziehung zu Beijing suchen würde, als dies noch unter Merkel der Fall gewesen war. Deshalb traf die Entscheidung von Olaf Scholz, im November 2022 mit einer großen Delegation von Wirtschaftsvertretern nach Beijing zu reisen und Staats- und Parteichef Xi Jinping seine Aufwartung zu machen, in Europa auf Kritik – zumal Frankreichs Präsident Macron Scholz zuvor vorgeschlagen hatte, diese Reise gemeinsam anzutreten, um ein Signal der Einigkeit der EU zu senden und den chinesischen Versuchen, ein europäisches Land gegen ein anderes auszuspielen, entgegenzuwirken. Im April 2023 reiste Macron nun gemeinsam mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Beijing.

Schon dass Olaf Scholz in seiner Prager Rede die deutsch-französischen Beziehungen mit keinem Wort erwähnt hatte, war in Paris sehr negativ aufgefallen. Ende Oktober 2022 wurden die deutsch-französischen Regierungskonsultationen kurzfristig abgesagt. Seitdem gilt das Verhältnis als belastet. Insbesondere mit Blick auf die Verteidigungspolitik gibt es große Differenzen. Frankreich strebt nach wie vor eine größere Autonomie Europas an, insbesondere im Bereich der Rüstung. Eine starke, wettbewerbsfähige europäische Verteidigungsindustrie hat für Frankreich einen hohen Stellenwert. Für Deutschland hat hingegen kurzfristig das schnelle Schließen von Fähigkeitslücken Priorität. Europäische Lösungen werden dabei oft als zu zeitaufwendig und komplex angesehen. Stattdessen hat die Bundesregierung beschlossen, vor allem amerikanische Waffensysteme "von der Stange" zu kaufen, darunter Kampfflugzeuge vom Typ F-35 zur Aufrechterhaltung der nuklearen Teilhabe. Diese Entscheidung sieht man in Paris mit großer Skepsis, weil befürchtet wird, das geplante deutsch-französisch-spanische Future Combat Air System könnte dadurch untergraben werden.

Ähnlich skeptisch sehen die Franzosen die von Deutschland initiierte European Sky Shield Initiative – das in der Prager Rede angekündigte gemeinsame Luftverteidigungssystem für Europa. Der Initiative haben sich bislang 15 Staaten angeschlossen, allerdings sind weder Frankreich noch Polen dabei. Sie soll auf dem deutschen Iris-T SML und dem amerikanischen Patriot System aufbauen, erwogen wird zudem der Kauf des israelischen Systems Arrow 3. Frankreich sowie auch Italien kritisierten, dass europäische Alternativen gar nicht erst berücksichtigt wurden.

Hinter den deutsch-französischen Dissonanzen steht die viel grundsätzlichere Frage, wie groß die Rolle der USA bei der europäischen Verteidigung sein soll. Im Zuge des russischen Krieges gegen die Ukraine offenbarte sich, dass der wichtigste Verbündete Berlins nicht in Europa, sondern in Washington sitzt. Der französische Verteidigungsexperte Camille Grand bringt die französischen Bedenken auf den Punkt: "Aus Pariser Sicht deutet das Bestreben Berlins, (…) stets nur gemeinsam mit den USA zu handeln (wie beim Marder, den Patriots und den Leopard-Panzern) auf eine Ausrichtung, die für deutsch-französisch-europäische Initiativen wenig Raum lässt."

Richtet man den Blick auf die Partner Deutschlands in Mittel- und Osteuropa, so wird nach wie vor deutlich, dass die Bundesregierung verlorenes Vertrauen zurückgewinnen muss. In Berlin wird allerdings manchmal so getan, als sei dies in erster Linie das Ergebnis der Propaganda der polnischen Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit", die das systematische Schlechtreden Deutschlands seit Jahren kultiviert und momentan offensiv benutzt, um ihre Chancen im laufenden Wahlkampf zu erhöhen. Aber die Enttäuschung über Deutschland ist auch innerhalb der polnischen Opposition weit verbreitet. Piotr Buras, Leiter des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations, resümiert: "Die polnische Wahrnehmung Berlins ist so negativ wie selten zuvor – weit über die Kreise der üblichen Deutschlandskeptiker hinaus."

Proaktivere Rolle für Berlin

Die Ära Merkel war geprägt von der Notwendigkeit, die EU unter wachsendem internen und externen Druck zusammenzuhalten. Als Zentralmacht in Europa hat Deutschland seine Aufgabe darin gesehen, den Status quo zu bewahren, aber ohne klare Vorstellungen davon zu entwickeln, wie es weitergehen soll. Berlin hat eine Politik der Anpassung an die äußeren Bedingungen verfolgt, anstatt sie aktiv zu gestalten. Angesichts der Zeitenwende in Europa ist dies nicht mehr ausreichend. Von Deutschland als mächtigstem und reichstem Land der EU wird mehr proaktive Führung erwartet, um die europäische Handlungsfähigkeit nach innen und außen zu stärken. Um diese Rolle ausfüllen zu können, muss die Ampel-Koalition entschiedener als bislang europäische Interessen zur Basis ihrer Entscheidungen machen. Sie sollte wieder stärker die Zusammenarbeit mit Paris suchen und verlorenes Vertrauen insbesondere in Mittel- und Osteuropa zurückgewinnen. Sie sollte ihren Partnern zeigen, dass sie aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat und nicht wieder in alte Reflexe zurückfällt. Eine ehrliche Aufarbeitung der deutschen Russlandpolitik der vergangenen 25 Jahre wäre ein guter Anfang. Alleingänge wie das Nord-Stream-2-Projekt dürfen sich nicht wiederholen. Stattdessen muss Berlin seine Russland- und seine Chinapolitik europäisch einbetten. Vor allem muss die Bundesregierung ihre Politik besser kommunizieren. Es geht darum, die europäischen Partner einzubeziehen, statt sie nur ex post zu informieren. Eine Grundvoraussetzung dafür wäre allerdings, dass sie sich in der Europapolitik auf eine gemeinsame Linie einigt – und Brüssel nicht wie bei der Debatte um den Verbrennungsmotor zur Bühne koalitionsinterner Auseinandersetzungen macht.

Auf vielfache Weise hat der russische Angriffskrieg Europa enger zusammenrücken lassen. Dies trifft jedoch nicht auf Deutschland zu – es hat sich von einigen seiner engsten Partner entfremdet. Berlin aber bleibt das wirtschaftliche und politische Kraftzentrum der EU. Ohne oder gegen Deutschland lässt sich in Europa nur schwer etwas erreichen. Dieser Verantwortung muss die Bundesregierung besser gerecht werden – und die Europapolitik stärker am Geist des Koalitionsvertrags ausrichten.

ist Office Programme Coordinator des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations (ECFR).
E-Mail Link: angela.mehrer@ecfr.eu

ist promovierte Politikwissenschaftlerin und leitet das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR).
E-Mail Link: jana.puglierin@ecfr.eu