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Analyse: Die Ukraine, Russland und der Westen. Die Bilanz nach einem Jahr der Präsidentschaft von Poroschenko | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die Ukraine, Russland und der Westen. Die Bilanz nach einem Jahr der Präsidentschaft von Poroschenko

Gerhard Simon

/ 8 Minuten zu lesen

Die Ukraine ist nach dem Sieg des Maidan im Februar 2014 entschlossen, sich aus der Hegemonie Russlands zu lösen und einen eigenen Weg nach Westen zu gehen, mit einem klar formulierten Ziel: Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Dies ist der entscheidende Grund für die Krise und den Krieg zwischen der Ukraine und Russland.

Fahnen von Ukraine und Europäischen Union. (© picture-alliance)

Der Weg nach Westen

Seit beinahe einem Vierteljahrhundert ist die Ukraine ein unabhängiger Staat. Sie hat in diesen ersten Jahrzehnten der Selbständigkeit immer wieder in ihrer außenpolitischen Orientierung geschwankt zwischen der Anlehnung an Russland und der Orientierung auf das Fernziel Integration in die EU; "Politik in viele Richtungen" (bahatovektornist) nannte man das unter Präsident Kutschma. Tatsächlich verblieb das Land in einer Grauzone und war damit ein unsicherer Kantonist sowohl für Russland als auch für den Westen.

Historisch gesehen und in der Perspektive der "langen Dauer" (longue durée) ist die Position zwischen Ost und West, zwischen Russland und Polen durchaus typisch für die Ukraine; sie hat aber verhängnisvolle Konsequenzen gehabt. Denn die Lage in der Grauzone war ein entscheidender Grund dafür, dass es der Ukraine über lange Zeit nicht gelang, einen eigenen Staat zu gründen und damit von einem Objekt zu einem Subjekt der Geschichte zu werden. Von der Frühen Neuzeit bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts gehörten alle damals von Ukrainern bewohnten Territorien zum Königreich Polen-Litauen. Danach begann Schritt für Schritt ihre Einbeziehung in das Moskauer Russische Imperium. In der Perspektive der "langen Dauer" kann man sagen, dass die Ukraine mit der Assoziation an die EU auf ihren historischen Weg im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zurückkehrt.

Die Antwort Russlands

Russland ist nicht bereit, diese Wahl des eigenen Weges und die Loslösung der Ukraine aus dem russischen Hegemonialverband zu akzeptieren, und Putin hat dabei den größten Teil der russischen Öffentlichkeit hinter sich. Zwar hat Russland nach 1991 die Unabhängigkeit der Ukraine völkerrechtlich anerkannt, aber tatsächlich haben weder die politischen Eliten noch die breite Bevölkerung verkraftet, dass die Ukraine sich von Russland abwendet und einen eigenen Weg geht. Denn eines ist auch aus der russischen Perspektive eindeutig: Ohne die Ukraine ist das Imperium für immer Vergangenheit. Der historische Einschnitt von 1991, den Putin als die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat, bleibt dann irreversibel. Die außenpolitische Orientierung auf Russland oder nach Westen hat einschneidende Konsequenzen für die innere Ordnung von Politik und Gesellschaft: Entweder parlamentarische Demokratie, weltanschauliche Toleranz und Rechtsstaatlichkeit oder autoritäre Präsidialherrschaft auf der Grundlage einer nationalen Idee von Großmacht und historischem Anspruch. Die Ukraine bekennt sich nach zwei zivilgesellschaftlichen Erhebungen 2004 und 2013/14 zur europäischen Vision einer freien Gesellschaft und bezieht daraus den Willen zu rechtsstaatlichen Reformen. In der offiziellen russischen Wahrnehmung dagegen wird der Westen immer stärker zur Bedrohung und zum Feind.

Die Annexion der Krim im März 2014 und der fortdauernde Krieg im Donbass haben zwischen der Ukraine und Russland Gräben aufgerissen, die weder die Beteiligten selbst noch die Welt draußen vor zwei Jahren für möglich gehalten haben. Die Narrative über die Gegenwart sind unüberbrückbar und scheinen von verschiedenen Ländern zu erzählen. Während in der Ukraine die erfolgreiche "Revolution der Würde" als Überwindung der korrupten Herrschaft des von Russland gestützten autoritären Präsidenten Janukowitsch gilt, malt die russische Propaganda ein ganz anderes Bild: In Kiew habe eine faschistische Junta gewaltsam den Präsidenten davongejagt und führe nun einen Krieg gegen alle Russen und alles Russische. Der tatsächliche Akteur im Hintergrund aber seien die USA, die auf diese Weise den Konkurrenten Russland schwächen wollten.

Inzwischen sind aber nicht nur die jeweiligen Vorstellungen über Gegenwart und Zukunft, sondern auch die über die Vergangenheit unvereinbar: Während in der Ukraine ein Gesetz in Kraft getreten ist, das die Propaganda der kommunistischen ebenso wie der nationalsozialistischen Symbolik verbietet, wird in Russland ein Gesetz vorbereitet, das die Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus unter Strafe stellt. Während in der Ukraine immer mehr Lenin-Denkmäler fallen, wird in Russland der Stalin-Kult wiederbelebt.

Der Krieg

Nach mehr als einem Jahr Krieg im Donbass hat keine Seite ihre Kriegsziele erreicht, was die Lage nicht nur labil, sondern auch gefährlich macht, weil eine erneute militärische Eskalation nicht ausgeschlossen werden kann. Russlands Kriegsziel ist die nachhaltige Destabilisierung der Ukraine und der Sturz der Regierung in Kiew, um dort wieder ein Regime zu etablieren, das die Ukraine in ähnlicher Weise wie Janukowitsch bis zum Februar 2014 innen- und außenpolitisch in russischem Fahrwasser hält. Ukrainisches Kriegsziel ist die Wiederherstellung der Souveränität auf dem gesamten Staatsgebiet einschließlich der Kontrolle über die eigene Staatsgrenze im Donbass. Taktisch haben beide Seiten Zugeständnisse gemacht und so den labilen Waffenstillstand Minsk 2 im Februar 2015 ermöglicht. Die Ukraine bezeichnet die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als "vorübergehend okkupierte Territorien" und verzichtet gegenwärtig auf eine militärische Rückeroberung. Russland hat das Projekt "Neu-Russland" fallengelassen, das eine Abtrennung großer Teile der östlichen und südlichen Ukraine von Kiew vorsah. Im Gegensatz zur Krim strebt die russische Politik derzeit nicht die Eingliederung der sogenannten Volksrepubliken in den russischen Staatsverband an.

Gegenwärtig spricht vieles dafür, dass der Krieg im Donbass mit niedriger Intensität weitergehen wird, weil Russland so einen Hebel zur Destabilisierung der Ukraine in der Hand behält. Aus russischer Sicht ist der fortdauernde Krieg im Donbass zudem eine Garantie dafür, dass eine Aufnahme der Ukraine in EU und Nato nicht realistisch ist.

Schleppende Reformen

Der Krieg hat dazu geführt, dass die dringend notwendigen Reformen in der Ukraine nicht mit dem nötigen Nachdruck betrieben werden. Der Krieg im Donbass hat bisher – rechnet man die Verluste auf beiden Seiten zusammen – mehr als 10.000 Tote gefordert, hinzu kommt ein Mehrfaches davon an Verwundeten; täglich werden neue Opfer gemeldet. Mehr als 1,5 Millionen Menschen sind auf der Flucht – manche vorübergehend, andere auf Dauer. Dennoch wird der Krieg im Land selbst und im Ausland immer weniger als Entschuldigung für den schleppenden Gang der Reformen akzeptiert. Wieder wird der Verdacht laut, die ukrainische Führung sei hervorragend in der politischen Rhetorik, der Deklaration von Zielen, aber schwach und ohne die nötige Konsequenz bei ihrer Umsetzung. Ziele sind die De-Monopolisierung der Wirtschaft, das heißt die Entmachtung der Oligarchen, die Dezentralisierung im Rahmen einer Verfassungsreform und vor allem eine Justizreform, ohne die alle Versprechungen über die Bekämpfung der Korruption Lippenbekenntnisse bleiben. Zwar hat die Werchowna Rada, das Parlament, einige Gesetze auf den Weg gebracht, aber viele Menschen spüren im Alltag hauptsächlich die sozialen Härten der Reformen, wie massive Anhebung der Tarife für Gas und Strom. Das mit umfassenden Vollmachten und viel Vorschusslorbeer ausgestattete Anti-Korruptionsbüro soll nun endlich im Herbst seine Tätigkeit aufnehmen. Präsident Poroschenko hat – entgegen seinen Versprechungen – bis heute sein Firmenimperium nicht verkauft.

Ökonomische Talfahrt

Zwar ist es im vergangenen Winter nicht zu massiven Versorgungsengpässen gekommen, aber inzwischen macht sich die wirtschaftliche Abwärtsspirale deutlich bemerkbar und trägt zur wachsenden Kritik an der Regierung bei. Das BIP ist 2014 um 6,8 % zurückgegangen; für das Jahr 2015 werden weitere 5,5 % Rückgang prognostiziert. Die Reallöhne werden in diesem Jahr voraussichtlich um 15 % fallen; die Inflation wird für das Jahr 2015 gegenüber dem vorangegangenen Jahr auf 30 % bis 35 % veranschlagt. Erst im Jahr 2016 erwarten die Fachleute eine leichte wirtschaftliche Erholung und damit das Ende der Talfahrt. Der Tiefpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung liege hinter der Ukraine, heißt es derzeit aus der Regierung.

Die ambivalente Politik des Westens

Der Westen betreibt angesichts der enormen Schwierigkeiten des Landes eine Schaukelpolitik: Einerseits solidarisieren sich die EU und die USA mit der Ukraine. Nie zuvor hat das Land so viel internationales Wohlwollen, Anerkennung und Unterstützung gefunden. Nie zuvor war Russland so isoliert und der Graben zum Westen so tief – das gilt sogar im Vergleich zu manchen Phasen des Kalten Krieges. Das geradezu nonchalante Vorgehen Russlands bei der Annexion der Krim und die fortdauernde russische Leugnung, am Krieg im Donbass beteiligt zu sein, haben fast überall im Westen Empörung, zumindest aber Unverständnis ausgelöst. Russland hat in hohem Maß seine Glaubwürdigkeit als Partner verloren.

Andererseits: Trotz der politischen, ökonomischen und in geringem Umfang auch militärischen Unterstützung der Ukraine durch den Westen verweigert die EU der Ukraine nach wie vor eine Beitrittsperspektive. Damit respektiert der Westen zumindest implizit die russische Position von den – wenn auch inzwischen kleiner gewordenen – Einflusszonen, nach der zwar Polen und die baltischen Staaten Mitglieder von Nato und EU werden konnten, dies der Ukraine aber nicht möglich sein soll. Auf längere Sicht wird sich diese Politik der Inkonsequenz kaum durchhalten lassen: Sowohl die Ukraine als auch Russland werden mehr vom Westen fordern: Natürlich jeweils das Gegenteil von dem, was die andere Seite verlangt.

Zukunftsperspektiven

Die Ukraine hat in den vergangenen Jahren einen langen Weg zurückgelegt. Die Konsolidierung einer politischen Nation, zu der sich sowohl die Ukrainischsprachigen als auch die Russischsprachigen bekennen, macht große Fortschritte. Der zweimalige Maidan 2004 und 2013/14 hat das Selbstbewusstsein der Zivilgesellschaft gestärkt. Die außenpolitische Orientierung auf die EU und weg von Russland findet heute eine breite Mehrheit in der Bevölkerung. Bei einer Umfrage im April 2015 sprachen sich 52 % der Ukrainer für den Beitritt zur EU aus, 12 % votierten für den Beitritt zur Zollunion mit Russland. Auch die Zustimmung zu einem Nato-Beitritt, die sich lange auf einem niedrigen Niveau bewegt hatte, wächst. Eine relative Mehrheit von 43 % befürwortet inzwischen die Mitgliedschaft in der Verteidigungsallianz, 32 % sind dagegen.

Kein Zweifel, im Osten und Süden des Landes ist die europäische Orientierung deutlich schwächer ausgeprägt als im Westen und im Zentrum. Aber sogar im Donbass sprechen sich derzeit mehr Menschen für den Beitritt zur EU aus als zur Zollunion mit Russland. Dennoch gibt es eine antiukrainische mentale Disposition bei einem Teil der Bevölkerung im Donbass, die Kiew als Feind und Moskau als Hoffnung wahrnimmt, vor allem aber sich selbst für das Zentrum hält. Die ukrainische Politik und Gesellschaft müssen nach dem Krieg Instrumente für die Versöhnung entwickeln.

Insgesamt ist die Ukraine an einem Punkt ihrer Geschichte angelangt, an dem eine Rückkehr zu den früheren Verhältnissen ausgeschlossen erscheint. Der Abschied vom russisch bestimmten Imperium dürfte genauso unumkehrbar sein wie der Wille, zu einem integralen Teil Europas zu werden. Die Konsolidierung einer autoritären Präsidialherrschaft ist in Kiew zu keiner Zeit gelungen, sie wird in der Zukunft umso weniger möglich sein.

Das Putinsche Russland hat durch die Nichtanerkennung der ukrainischen Eigenständigkeit und die politische und militärische Aggression – entgegen den russischen Intentionen – einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Ukraine geleistet. Jetzt aber braucht die Ukraine die Solidarität und die Unterstützung des Westens, um auf dem eingeschlagenen Weg erfolgreich weiterzugehen.

Der Beitrag beruht auf dem Einleitungsregerat des Autors zu den "Kiewer Gesprächen" in Köln am 11. Juni 2015.

Fussnoten

Prof. Dr. Gerhard Simon ist Historiker und war Leitender Wissenschaftlicher Direktor im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln und lehrte an den Universitäten Köln und Bonn.