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Analyse: Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022 | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022

Svitlana Biedarieva

/ 11 Minuten zu lesen

Russlands Invasion wird von vielen ukrainischen Künstler:innen verarbeitet und dokumentiert und beschleunigt die Dekolonialisierung der ukrainischen Kunst.

Bilder der ukrainischen Künstlerin Marija Prymatschenko, deren Museum, inkl. einiger Bilder, durch die russischen Besatzer zerstört wurde. (© picture-alliance, Photoshot)

Zusammenfassung

Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Transformationen, die in der ukrainischen Kunst seit Beginn der vollumfänglichen Invasion im Februar 2022 gegen die Ukraine erfolgt sind. Es wird untersucht, wie die Arbeiten der Künstler:innen die Zugehörigkeit der Ukraine zum postsowjetischen Raum im Kontext kolonialer russischer Narrative neu interpretieren und bestreiten. Sie thematisieren darüber hinaus aus dekolonialer Perspektive das Trauma der anhaltenden, weit verbreiteten militärischen Gewalt durch Russland, der die Menschen ausgesetzt sind. Diskutiert wird auch der politisch-künstlerische Widerstand gegen die Invasion.

Theoretische Einführung

Mein Ausgangspunkt ist, dass die Begriffe des Postkolonialen und des Dekolonialen nicht austauschbar sind. Sie spiegeln vielmehr zwei unterschiedliche Phasen der ukrainischen Befreiung von der kolonialen Verstrickung wider. Während der Begriff "postkolonial" die Situation unmittelbar nach der kolonialen Erfahrung meint und die Implikationen des Kolonialismus neu interpretiert, bezeichnet "dekolonial" den abschließenden Prozess der Demontage des kolonialen Narrativs. Madina Tlostanova, die zur Dekolonialisierung forscht, hebt die chronologischen und logischen Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen hervor. Sie beschreibt den postkolonialen Zustand als in größerem Maße objektiv gegeben. Es geht dabei um die geopolitische und geohistorische Situation von Menschen, die aus ehemaligen Kolonien kommen. Dekolonialisierung wird als ein weiterer Schritt betrachtet, der die bewusste Entscheidung beinhaltet, wie die Realität zu interpretieren und wie darauf zu reagieren ist.

2022 haben die Gräueltaten des anachronistischen russischen Angriffskrieges die Ukraine zum Kulminationspunkt ihrer dekolonialen Phase geführt. Das einst dominierende Narrativ aus der Zeit nach 1991, dem zufolge die russische Kultur die ukrainische Kultur "umfasst", brach unwiderruflich in sich zusammen. In der Tat wird nun jedes aggressive Vorgehen Russlands gegen die Ukraine lediglich eine Entwicklung vorantreiben, die einen unausweichlichen Wandel darstellt. Tlostanova hat zusammen mit dem Entkolonisierungs-Theoretiker Walter Mignolo und anderen Forscher:innen aus der Modernity/Coloniality-Gruppe vorgeschlagen, dass eine dekoloniale Perspektive in erster Linie ein epistomologisches Projekt ist, das sich der Produktion neuer, entwirrter Kenntnisse widmet. Und zwar im Gegensatz zur postkolonialen Neukombination bestehender Narrative als Erkundung von Erinnerungen und Geschichte.

Bei meinen Forschungen schaffe ich oft einen dekolonialen theoretischen Rahmen, akzeptiere aber auch die Notwendigkeit, eine neue Methodologie zu entwickeln, die die besondere Situation einer gemeinsamen Grenze zwischen Russland und der Ukraine berücksichtigt, die die koloniale und postkoloniale Beziehung zwischen den beiden Ländern geprägt hat. Wenn wir von ukrainischer Kunst sprechen, erscheint es mir sinnvoll, dem Konzept der "horizontalen Kunstgeschichte" des Kunsthistorikers Piotr Piotrowski zu folgen. Es handelt sich um ein nichtlineares, diffuses und polyphones Modell, das jede lokale Kunstszene individuell in ihrem jeweiligen sozialen und politischen Kontext betrachtet. Es stellt sich gegen eine hierarchische, vertikale Kunstgeschichte, die das Feld in Zentren und Peripherien der Kunstproduktion teilt. Beispielsweise ergibt sich ukrainische Kunstgeschichte aus Ideen und visuellen Elementen, die zu unterschiedlichen Ideologien, einst unterdrückten Kulturelementen und verzerrten Identitäten gehören, die alle zum jeweiligen Ort gehören und passen. Piotrowski selbst betrachtete seine Theorie zwar nicht als dekolonial, jedoch ist ihre Ausrichtung auf lokalisierte Polyphonie von Stimmen besonders hilfreich. Durch Rückgriff auf diesen Ansatz wird im Folgenden analysiert, wie der jüngste dekoloniale Wandel die zeitgenössische Kunstgeschichte in der Region neu interpretierte und den Raum der Kunstproduktion neu dachte. Gleichzeitig soll die kulturelle Vielfalt deutlich gemacht werden, die zum Objekt gezielter Attacken von Russlands militärischer Aggression geworden ist.

Die ukrainische Geschichte ist nichtlinear und setzt sich aus heterogenen Narrativen und diversen Identitäten zusammen, die aktuell von zeitgenössischen ukrainischen Künstler:innen in ihren Arbeiten reflektiert werden. Russlands langwährende Kolonialisierungsstrategien und seine jahrhundertelange Politik kolonialer Dominanz über die Ukraine wie auch die epistemische Gewalt des sowjetischen Projekts und deren zeitgenössische Auswirkungen haben bis vor kurzem Einfluss auf die Sichtbarkeit ukrainischer Kunst gehabt. Die Ermordung vieler Angehöriger der ukrainischen Avantgarde in der Sowjetzeit, die Teil der "Erschossenen Renaissance" (ukr.: Rosstriljane widrodschennja) waren, sowie die Repressionen gegen die Generation der "Sechziger" ("Schistdesjatnyky") – unter anderem der unaufgeklärte Mord an Alla Horska 1970 – und in beiden Fällen die anschließende Vernichtung der Werke stehen für Russlands koloniale Dominanz über die ukrainische Kultur des 20. Jahrhunderts. Das hatte auch Auswirkungen auf die postkoloniale Situation der Ukraine nach Erlangung der Unabhängigkeit 1991. Die ukrainische Kunst lässt sich bis 2014 als postkolonial definieren. In den letzten neun Jahren hat sich viel verändert. Ukrainische Kunst wurde zum Spiegel der dekolonialen Wende in der ukrainischen Gesellschaft.

Der Krieg hat starke Auswirkungen auf die Kunstszene der Ukraine. Künstler:innen mussten aus den russisch besetzten Gebieten wegziehen. Verbreitet wurden künstlerische Hinterlassenschaften vernichtet. Das renommierte Kunst- und Kulturzentrum Isolazija in Donezk wurde nach 2014 von den pro-russischen Machthabenden in ein berühmt-berüchtigtes Gefängnis umgewandelt.

Ebenso wie die gefährdeten Archive zeitgenössischer Kunst waren auch verschiedene Stätten des Kulturerbes von Angriffen betroffen. Einige Stätten wurden unwiederbringlich zerstört, unter anderem das Haus und Museum der naiven Künstlerin Polina Rajko im Gebiet Cherson und das Museum des Philosophen Hryhory Skoworoda im Gebiet Charkiw. Zahlreiche Museumssammlungen in den besetzten Gebieten sind geplündert worden.

Der Wegzug von Künstler:innen aus dem Donbas und von der Krim nach 2014 beförderte die Entwicklung dokumentarischer Praktiken: Künstler:innen wurden zu Sprachrohren für die Situation in diesen Gebieten. Mit Beginn der großangelegten Invasion 2022 wurden ukrainische Künstler:innen weitgehend zu unmittelbaren Zeug:innen russischer Kriegsverbrechen. Das schlug sich in persönlichen Chroniken und Tagebüchern nieder, die zu Zeugnissen des Widerstands der ukrainischen Gesellschaft und der Resilienz gegen den neokolonialen Krieg wurden.

Der Krieg durch die Linse ukrainischer Künstler:innen

Die Produktion neuer Narrative in der Kunst wurzelt in hohem Maße in direkten Belegen für Kriegsverbrechen. Die Serie "Data Extraction" von Zhanna Kadyrova folgt der Idee von einem Ort, der sein Wissen als Beweis für eine Gräueltat bewahrt und der an der Formierung einer neuen historischen Erinnerung beteiligt ist. In ihrer vorgefertigten Installation "Data Extraction. Irpin" (2022) konzentriert sich die Künstlerin auf die Stadt Irpin bei Kyjiw, in der die russische Invasion im Frühjahr 2022 beträchtliche Schäden verursacht und zu zahlreichen Toten unter der Zivilbevölkerung geführt hat. Die Arbeit zeigt eine Asphalt-Ausschnitt aus dem Stadtteil Irpinski Lypky in Irpin, der durch eine Rakete beschädigt wurde, und verdeutlicht damit das Ausmaß der Zerstörungen, die die Stadt während der russischen Gräueltaten erlitt (Abb. 1). Die Serie "Data Extraction" wurde 2011 gestartet und bestand ursprünglich aus extrahierten Betonstücken; der Asphalt hat nun, mit der Zeit, den konzeptionellen Fokus und die Ziele verändert. Zunächst war es das Ziel, die Straßen von Kyjiw zu kartieren und die Reparatur der Straßen der Stadt für die Fußballeuropameisterschaft 2012 festzuhalten.

(© Zhanna Kadyrova)

Seinerzeit war das eine Kritik an den ausschließlich oberflächlichen Veränderungen als Folge und Ausdruck der Korruption beim Umbau der Stadt. Nach 2014 wendete sich die Künstlerin der Dokumentierung von Schäden in unterschiedlichen Städten der Ukraine zu, die durch das russische militärische Vorgehen verursacht wurden. Darunter waren auch Materialien aus den besetzten Gebieten. Nach 2022 erweiterte sich ihre Arbeit, weil das Niveau der Zerstörung gestiegen war, was die Künstlerin zu dokumentieren versuchte. Die Serie repräsentiert eine andere Art der Dokumentation des Krieges, bei der die physischen Beweise für die Zerstörungen gleichsam bewahrt werden. Der Einsatz von Stein und Asphalt als haltbare Materialien verweist auf die langfristigen Auswirkungen solcher Zerstörungen, und dass sie sich in das Gedächtnis der Öffentlichkeit einbrennen. Das Projekt in seiner neuen Fassung ist zudem einer der ersten Versuche einer Memorialisierung, bei der Belege für die Aggression aus dem realen Leben in den Raum einer Galerie transportiert und für die Öffentlichkeit ausgestellt werden. Indem es von einer Kritik an dem Umbau zu einer Dokumentierung kriegsbedingter Zerstörungen übergeht, hat dieses Projekt seine Orientierung geändert. Diese wechselte von einer internen Orientierung, die sich auf lokale soziale und politische Spannungen konzentriert, zu einer externen, die auf die traumatischen Auswirkungen des anhaltenden Krieges fokussiert. Kadyrovas forensische Arbeit mit unmittelbaren Belegen ist ein Beispiel dafür, wie die Erinnerung an eine aktuelle Gräueltat sich herausbildet. Die Dokumentation fertiger, unbearbeiteter Objekte erfolgt aufgrund der fehlenden zeitlichen Distanz, die helfen würde, die traumatische Erfahrung von Vernichtung und Tod zu verarbeiten. Die neue dekoloniale Epistemologie manifestiert sich hier als Dokumentation ohne jede Mediation, als direkter Beweis für die Verbrechen und als unmittelbarer Eintrag in die gesellschaftliche Erinnerung.

Auch der Ansatz der Erinnerung wird verändert. Die Arbeit Shelter (2022) von Taras Kamennoy zeigt geschweißte "Narben" auf metallenen Oberflächen, durch die der Künstler Fragen der Invasion und der posttraumatischen Genesung neu denkt (Abb. 2).

(© Taras Kamennoy)

Die kolonialen und neokolonialen Traumata werden durch grob verlötete Einschnitte in den Stahl repräsentiert: Sie reichen von oberflächlichen Kratzern bis zu tiefen Eingriffen in das Material. Der Künstler will verdeutlichen, dass die Prozesse der Zerstörung und der Reparatur die Logik der missbräuchlichen historischen Beziehung zwischen Russland und der Ukraine widerspiegeln. Während mit dem rostfreien Stahl der Widerstand und die Verteidigungsanstrengungen der Ukraine sowie die Unverletzlichkeit der Grenzen und die territoriale Integrität konnotiert werden, repräsentieren die Einschnitte die sich wiederholende russische Aggression, die ihre Spuren sogar in festem Metall hinterlässt. Angesichts der Sackgasse der Situation, die sich aus der Nähe zum aggressiven Nachbarn ergibt, besteht die Symbolik hier in der notwendigen Konstruktion eines Mantels, eines großen Schutzraums, der die Menschen dahinter bewahrt. Der Mantel wird vom Künstler als Grenzlinie betrachtet, der die Unterdrückten und den Unterdrücker trennt und unter den ständigen Attacken fortbesteht. Das beschädigte Stahlschild von Kamennoy ist zwar reparierbar, trägt aber dauerhafte Spuren, ganz wie die ukrainische Geschichte für alle Zeit die Zeichen der Kolonisierung trägt – auch wenn jetzt dekoloniale Prozesse stattfinden.

Der forensische Ansatz durch eine Rekonstruktion der Ereignisse mit Hilfe von ansonsten peripheren Belegen, durch den die Situation des Krieges konnotiert, jedoch nicht umfassend angesprochen wird, steht im Fokus der Arbeit "Repeat after Me" (2022) der Künstler:innengruppe "Open Group" (Abb. 3). Es handelt sich um ein Video, das Interviews mit Binnengeflüchteten aus dem Osten und Süden der Ukraine enthält, die in Lwiw untergekommen sind.

(© Foto: E. Lipa; Bild: Open Group (Yuriy Biley, Pavlo Kovach and Anton Varga))

Die Interviewten erzählen nicht von ihren Erfahrungen. Sie imitieren stattdessen unterschiedliche Geräusche, die der Krieg mit sich gebracht hat: den Lärm, den verschiedene Arten von Militärgerät, der Beschuss mit Raketen, Waffen, die Luftabwehr und Drohnen erzeugen. Auf den ersten Blick ist es gewissermaßen ironisch, da es von Augenzeug:innen wiederholt wird. Aber dieses praktische Wissen bezieht sich auf die Umstände des Überlebens unter Kriegsbedingungen. Nach über anderthalb Jahren großangelegter Invasion hat die ukrainische Gesellschaft eine Expertise erlangt, mit der sie zwischen den unterschiedlichen Geräuschen unterscheiden kann, die wiederum auf unterschiedliche Grade der Gefahr hinweisen. Dieses existenzielle Wissen hilft, die laufenden Ereignisse zu rekonstruieren, ohne dass man deren Grund sieht. Das Video hat eine interaktive Komponente, bei der das Publikum eingeladen wird, diese Geräusche zu wiederholen. Auf diese Weise wird ein Wissen geteilt, das unter friedlichen Umständen wohl kaum zu erwerben wäre, unter den Bedingungen des Krieges aber überlebenswichtig ist. Die epistemologische Basis, die in dieser Arbeit erzeugt wird, zeigt, wie ein Wechsel der Wahrnehmungsformen und der Ausdrücke erfolgt, da das neue Wissen durch lebensbedrohliche Umstände validiert wird. Der dekoloniale Prozess erfolgt hier durch die Herstellung eines neuen Narrativs, das allein durch den Kontext der Situation aktualisiert wird – und das außerhalb der Situation redundant erscheint. Der Dialog, den diese Arbeit mit dem Publikum jenseits der Kriegszone herstellt, lädt ein, dieses Wissen neu zu kontextualisieren und dessen Grundlagen über den Bereich der unmittelbaren Auswirkungen des Krieges auszuweiten.

Der Film "Irpin. Chronicles of Revival" ("Chroniky widrodschennjy"; 2022) von Olha Mykhailiuk enthält eine ähnliche epistemologische Erkundung, indem eine Begegnung mit unmittelbaren Zeug:innen und Überlebenden der Gewaltereignisse in der Stadt Irpin im Gebiet Kyjiw im Frühjahr 2022 erfolgt. Mykhailiuk wendet sich in dieser Arbeit unmittelbaren Aussagen von Augenzeug:innen zu (Abb. 4).

(© Olya Mykhailiuk)

Die Künstlerin betrachtet das Wiederaufleben der Stadt nach den Zerstörungen und den zahlreichen Toten. Das erfolgt durch eine Linse der Verbindung zwischen den Menschen und der Natur, die sie umgibt. Es werden Parallelen zwischen dem Wiederaufbau und der Regeneration der Natur gezogen. Die Bewohner:innen von Irpin sprechen über ihre Gärten, zeigen die Pflanzen, um die sie sich kümmern, und berichten von den Verlusten von Verwandten und Freund:innen, die sie durch den russischen Angriffskrieg erlitten haben. So beginnt beispielsweise eine der Interviewten in der Episode "Pani Tanja" ihre Erzählung, indem sie ihre Erinnerungen an den Wald teilt, der früher die Stadt umgab; dann spricht sie von ihrem Garten, mit dessen Hilfe sie sich versorgt. An einem bestimmten Punkt ihres Monologs erzählt sie über ihren Enkel Dima, der durch Beschuss ums Leben kam und während der russischen Besatzung für mehrere Wochen in ihrem Garten beerdigt lag. Die Geschichte geht damit weiter, dass Pani Tanja stolz eine detaillierte Tour zum Gemüse und den Blumen in diesem Garten bietet. Das Trauma des Verlustes ist mit der Hoffnung auf ein Wiederaufleben verwoben, die ihr Garten ihr bietet. Die Natur und die Kultur sind an dem historischen Prozess des Widerstands der ukrainischen Gesellschaft gegen die Invasion und der Überwindung ihrer Folgen beteiligt, wenn wir über das Ende der postkolonialen Situation und den Beginn eines dekolonialen Wiederaufbaus und einer Erholung nach dem Krieg sprechen.

Fazit

Die Identifizierung aller Opfer des russischen Angriffskrieges und die Wiederherstellung ihrer Agenda ist die zentrale Aufgabe, die die Dekolonialisierungsprozesse weiter voranbringen wird. Das Wissen um den tatsächlichen Stand der menschlichen Verluste und das reale Ausmaß der Zerstörungen sowie die Wahrheit über die Kriegsverbrechen werden dabei helfen, eine epistemologische Basis einer entwirrten Geschichte des Krieges zu schaffen. Dieser Prozess ist als Gegensatz zur unterdrückten, traumatischen Geschichte der Ukraine in sowjetischer Zeit zu betrachten. Letztere reicht von der Verschleierung der Verbrechen während des Holodomors 1932–33 in der Ukraine durch die Sowjetregierung bis hin zur Unterdrückung der Erinnerung an jene, die durch den Holocaust umkamen oder im Zuge des Stalinschen Terrors Opfer der Repressionen wurden.

Der erste Schritt ist hier, die postkoloniale Perspektive zu verlassen. Ukrainische Künstler:innen leisten ihren Beitrag hierzu, indem sie sich sowohl auf eine Dokumentation des Krieges aus erster Hand und dessen kritische Reflexion konzentrieren, wie auch dabei helfen, eine neue entflochtene Geschichte zu etablieren.

Der Künstler Mykola Ridnyj verweist darauf, dass eine kritische zeitliche Distanz vonnöten ist, um die Auswirkungen des Krieges auf die ukrainische Gesellschaft und Kultur in vollem Umfang bewerten zu können. Die unmittelbare Arbeit ukrainischer Künstler:innen zur Schaffung von neuen entflochtenen Epistemologien und Narrativen des Widerstandes wie auch die Konzentration auf eine Wiedereinsetzung zuvor abwesender Subjekte ist der Schlüssel zur Dekolonialisierung des ukrainischen Kulturraumes.

Dieser radikale Wandel, bei dem die postkoloniale Situation in der Ukraine in Prozesse dekolonialer Loslösung nach 2022 übergeht, muss als tektonische Verschiebung reflektiert werden, und zwar in der Forschung über wie auch in der Ukraine. Ein wichtiger Aspekt hier ist die Notwendigkeit, neue Methodologien und eine neue Sprache zur Beschreibung und Analyse zu entwickeln. Das wäre ein Teil des dekolonialen epistemologischen Prozesses, der in der Schaffung neuer Narrative wurzelt. Sowohl die postkoloniale wie auch die dekoloniale Theorie, auf die ich mich in diesem Beitrag beziehe, haben bei der Analyse des besonderen ukrainischen Falles ihre Grenzen, da sie sich in einem unterschiedlichen kolonialen Kontext herausbildeten, etwa im Vergleich zu Lateinamerika oder den Ländern des globalen Südens. Sie reflektieren nicht in vollem Umfang die Merkmale der früheren ukrainischen Verwicklung, etwa die gemeinsame Grenze mit dem ehemaligen Kolonialstaat, die anachronistische Erneuerung der imperialen Bestrebungen und die Position Russlands als Kolonialmacht in einer Zeit, in der die Imperien dieser Welt zerfallen sind. Hinzu kommen Moskaus Anleihen bei den sowjetischen Propagandanarrativen des Kalten Krieges von einem antiimperialistischen Kampf. Es ist äußerst wichtig, eine Theorie zu entwickeln, die über die Dichotomie postkolonial – dekolonial hinausgeht, und dies mit einer Methodologie und Terminologie zu verbinden, mit der die Situation der Ukraine korrekt eingeordnet und diskutiert werden könnte.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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Dr. Svitlana Biedarieva ist Kunsthistorikerin, Künstlerin und Kuratorin und aktuell Gastwissenschaftlerin an der Universität Zürich. Sie hat in Kunstgeschichte am Courtauld-Institut für Kunst der Universität London promoviert. Sie ist Herausgeberin des Bandes Contemporary Ukrainian and Baltic Art: Political and Social Perspectives, 1991-2021 (Stuttgart: ibidem Press 2021) und Mitherausgeberin von At the Front Line. Ukrainian Art, 2013-2019 (Mexico City: Editorial 17, 2020).