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Analyse: Die Rumänen und Ungarn der Ukraine – stille Minderheiten?

Oleg Friesen München Von Oleg Friesen

/ 12 Minuten zu lesen

Der Zusammenstoß ukrainischer Sicherheitskräfte mit Kämpfern des Rechten Sektors im Juli dieses Jahres führte zu einem diplomatischen Skandal zwischen der Ukraine und Ungarn. Die Regierung Orban sieht sich als Advokat der ungarischen Minderheit in der Ukraine und beklagt regelmäßig deren Lage.

"Die Regierung Orban sieht sich als Advokat der ungarischen Minderheit in der Ukraine und beklagt regelmäßig deren Lage." (Im Bild: Viktor Orban hier auf einem EVP-Kongress in Madrid im Oktober 2015). (© picture-alliance/AP)

Einleitung

Warum es im Juli in Mukatschewe in der West-Ukraine zu einer tödlichen Schießerei zwischen der ukrainischen Polizei und Kämpfern des Rechten Sektors kam, ist noch immer umstritten. Die ukrainische Regierung wirft dem Rechten Sektor kriminelle Machenschaften vor, der Rechte Sektor meint, gegen genau diese vorzugehen. Viele internationale Beobachter und Medien werten den Vorfall jedoch als Machtlosigkeit der ukrainischen Regierung gegenüber den Freiwilligenbataillonen. Freuen konnte sich das russische Staatsfernsehen, welches erneut von einer Bedrohung durch Nationalisten sprach. Obwohl der Rechte Sektor in der politischen Landschaft der Ukraine auffällt, ist seine tatsächliche Macht gering. Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2014 erzielte die Partei bzw. ihr Kandidat nur etwa ein Prozent. Auch heute würde der Rechte Sektor nach verschiedenen Umfragen nicht die notwendigen fünf Prozent erreichen, um in die Oberste Rada der Ukraine einzuziehen. Dennoch ist der Vorfall in Transkarpatien alarmierend, deuten ihn viele als Synonym für die politische Instabilität der Ukraine. Besonders besorgt zeigte sich der westliche Nachbar Ungarn. In der Region Transkarpatien leben bis zu 150.000 ethnische Ungarn. Während der ungarische Ministerkabinettsvorsitzende und Fidesz-Politiker Lazar Janos erklärte, im Falle einer Eskalation der Lage in Transkarpatien die ethnischen Ungarn in seinem Land als Flüchtlinge aufzunehmen, sprach der Chef des ungarischen Geheimdienstes von in der Ukraine tätigen ungarischen Agenten, welche die ungarische Minderheit schützen und für die Interessen Budapests eintreten würden. Für das ukrainische Außenministerium war eine solche Aussage ein Affront, für den der ungarische Botschafter in Kiew einbestellt wurde.

Tatsächlich belastet das Thema der ungarischen Minderheit schon seit Jahren das Verhältnis zwischen Kiew und Budapest, wo es besonders im Wahlkampf aktuell ist. Die rechtskonservative Fidesz-Partei des Ministerpräsidenten Viktor Orban beansprucht für sich, die Rechte ethnischer Ungarn in der Ukraine zu verteidigen und fordert gar eine ungarische Autonomie in Transkarpatien. Ähnliche diplomatische Verstimmungen gab es auch zwischen der Ukraine und Rumänien, denn der Südwesten der Ukraine ist auch Heimat einer starken rumänischsprachigen Minderheit. Doch während das Verhältnis zwischen Kiew und Budapest problematisch ist, erleben die Beziehungen zwischen der Ukraine und Rumänien nach dem Maidan einen positiven Höhepunkt. Oft werden vermeintliche Probleme der ungarischen oder rumänischen Minderheit von Budapest oder Bukarest aufgeblasen – für die Vertreter der Minderheit in der Ukraine spielen sie eine geringere Rolle.

Allgemeines zu ethnischen Minderheiten in der Ukraine

Die Ukraine ist ein multikulturelles Land. Laut der Bevölkerungszählung von 2001 bezeichnen sich 77,8 % der Bürger als Ukrainer. Russen stellen mit 17,3 % die größte ethnische Minderheit dar. Die ethnische Zuordnung geht aber nicht unbedingt mit der Muttersprache und der tatsächlich im Alltag gesprochenen Sprache einher: Bis zu 30 % der Ukrainer geben Russisch als Muttersprache an. Die Muttersprache ist aber nicht immer die tatsächlich im Alltag gesprochene Sprache. Viele Ukrainer geben Ukrainisch als Muttersprache an, sprechen im Alltag jedoch Russisch oder die als "Surschyk" bekannte Mischsprache aus Ukrainisch und Russisch. Offizielle Zahlen existieren hierfür nicht. Geht man vom Gebrauch der ukrainischen und russischen Sprache aus, besteht sowohl ein Ost-West-Gefälle wie auch ein Unterschied zwischen Stadt und Land. In der Region Luhansk sprechen die Menschen auf dem Land überwiegend Ukrainisch, in der Stadt Russisch. Allerdings haben auch die südwestlichen Regionen der Ukraine – Transkarpatien und Tscherniwzi – einen hohen Anteil russischsprachiger Bevölkerung.

Die politischen und kulturellen Rechte der Minderheiten waren seit der Unabhängigkeit der Ukraine umstritten, besonders das Recht auf sprachliche Autonomie. Obwohl das ukrainische Recht keine doppelte Staatsbürgerschaft vorsieht, haben viele Bürger nicht-ukrainischer Abstammung einen zweiten Pass. National gesinnte politische Gruppierungen in der Ukraine, aber auch der ehemalige Präsident Wiktor Juschtschenko forderten die Einführung von Ukrainisch als alleiniger Amtssprache auf allen Ebenen der Staatsverwaltung. Unter der Regierung Janukowytsch wurde im Jahr 2012 schließlich die Regel eingeführt, nach der in Regionen und Kreisen, in denen eine Minderheit über 10 % ausmacht, deren Sprache den Status einer Regionalsprache erhält. Dies machte Russisch in neun von 27 Regionen bzw. Verwaltungsgebieten und in einigen Kreisen und Gemeinden weiterer Regionen zur zweiten Amtssprache. Rumänisch und Ungarisch sind aufgrund des für die Region nicht ausreichenden Bevölkerungsanteils lediglich in einigen Kreisen Regionalsprachen. Gegenwärtig soll die Dezentralisierungsreform, eines der größten Reformprojekte der Ukraine nach dem Maidan, die Rechte der Minderheiten sichern, denn Kreise und Kommunen erhalten mehr Kompetenzen zur Selbstverwaltung.

Die Rumänen der Nordbukowina

Bis zu 400.000 Menschen in der Ukraine sprechen Rumänisch als Muttersprache. Sie wären nach den Russen die zweitgrößte ethnische Minderheit des Landes, doch sie unterteilen sich selbst noch in Rumänen und Moldauer. Moldauer sind mit insgesamt 0,4 % der Gesamtbevölkerung die viertgrößte ethnische Minderheit der Ukraine. Für Eugen Petrasch, Leiter des rumänischen Kulturinstituts Eudoxiu Hurmuzachi in Tscherniwzi, ist die Teilung der Menschen in Rumänen und Moldauer noch eine Folge der sowjetischen Moldauisierungspolitik. Die heutige Region Tscherniwzi, historisch Nordbukowina genannt, gehörte vor 1940 zum Königreich Rumänien und wurde in Folge des Hitler-Stalin-Paktes von der Roten Armee besetzt und annektiert, so wie Bessarabien. Die Nordbukowina und Südbessarabien kamen mit Verweis auf die dortige ukrainische Bevölkerungsmehrheit zur Ukrainischen Sowjetrepublik und sind heute die ukrainischen Regionen Tscherniwzi und der westliche Teil der Region Odessa. Bessarabien selbst wurde zur Moldauischen Sowjetrepublik, der heutigen Republik Moldau. Die Sichtweise von Eugen Petrasch, dass Moldauer Rumänen seien, hat unter den Rumänisch sprechenden Menschen Befürworter und Gegner. Befürworter sprechen von der Erfindung einer moldauischen Identität durch den Stalinismus, um die gewaltsame Einverleibung der Gebiete und die Schaffung einer Moldauischen Sowjetrepublik zu rechtfertigen. Durch Maßnahmen wie die Einführung eines kyrillischen Alphabets für die Moldauer sowie die "Slawisierung" von rumänisch klingenden Namen wurde eine Entfremdung der Menschen beiderseits der neu gezogenen Grenze angestrebt. Erst seit der Unabhängigkeit der Ukraine dürfen sich Rumänen dort wieder als solche bezeichnen.

Die Nationalitätsspalte im Pass schaffte die Ukraine zwar sofort nach der Unabhängigkeit ab, doch beklagt Petrasch, dass sich die Moldauer nicht als Rumänen bezeichnen und kein Interesse an einer effektiveren rumänischen Minderheitenpolitik zeigen. Das Kulturinstitut Eudoxiu Hurmuzachi in Tscherniwzi ist aber gleichermaßen für Rumänen und Moldauer offen.

Gerade junge Vertreter der rumänischen Minderheit wandern seit 1991 nach Rumänien aus. Dies hat sich 2007 durch den EU-Beitritt Rumäniens noch verstärkt. Die verbliebenen Rumänen haben meistens die doppelte Staatsbürgerschaft. Durch die Abwanderung vieler qualifizierter Rumänen aus der Ukraine fehlen Fachkräfte, vielen rumänischen Schulen in der Ukraine fehlen Lehrer. Seit 1991 nahm die Zahl der auf Rumänisch unterrichtenden Schulen stetig ab. Dies ist einerseits auf abwandernde Lehrer zurückzuführen, doch fühlen sich viele Rumänen auch durch die Forderungen national gesinnter ukrainischer Parteien eingeschüchtert, Ukrainisch müsse einzige Unterrichtssprache sein. Dieser Anspruch gehörte zur Agenda des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko, was Vertreter der rumänischen Minderheit damals in die Arme der Partei der Regionen (PdR) des ehemaligen Präsidenten Janukowytsch trieb, von der sie sich eine bessere Minderheitenpolitik versprachen. Zusammen mit den Stimmen vieler der in Tscherniwzi lebenden Russisch sprechenden Bürger zog ein für die PdR kandidierender Rumäne ins Kiewer Parlament, und Tscherniwzi wurde zur Hochburg der Partei im Südwesten der Ukraine. Zur von den meisten Rumänen gewünschten EU-Integration kam es unter Janukowytsch nicht, auch wenn seine Regierung den ukrainischen Rumänen die 10 %-Minderheitensprachregelung brachte, die Rumänisch zur Amtssprache in mehreren Gemeinden der Region Tscherniwzi machte.

Für die ukrainischen Rumänen bedeutet EU-Integration der Ukraine vor allem einen intensiven Austausch mit dem EU-Mitglied Rumänien und bessere Reisebedingungen. Eugen Petrasch setzt große Hoffnungen auf die nach dem Maidan gewählte Regierung und ihren proeuropäischen Kurs. Einige Ziele seien bereits im letzten Jahr erreicht worden, wie der Wegfall der Visumspflicht für Bewohner grenznaher Gebiete. Davon profitieren etwa die Bewohner des zu 80 % von Rumänen bewohnten Kreises Hertsa in der Region Tscherniwzi, direkt an der rumänischen Grenze. Die Annäherung zwischen der Ukraine und Rumänien nach dem Maidan macht auch grenzüberschreitende wirtschaftliche und kulturelle Kooperation möglich. Der in Tiraspol (im mit russischer Unterstützung von Moldau abgespaltenen Transnistrien) aufgewachsene ukrainische Präsident Poroschenko hielt vor Vertretern der rumänischen Minderheit in Tscherniwzi eine Rede auf Rumänisch und eröffnete laut Petrasch ein ganz neues Kapitel in den Beziehungen zwischen der Ukraine und ihrer rumänischen Minderheit. Ex-Präsident Juschtschenko ist nach Aussage Petraschs noch durch diskriminierende Moldauerwitze aufgefallen. Trotz des aktuell entspannten Klimas zwischen der Ukraine und Rumänien bleiben Probleme wie das der rumänischen Schulen. Artur Kadelnyk ist bukowinischer Rumäne, doch sieht er seine Zukunft in der Ukraine. Während ältere Menschen der Zugehörigkeit der Nordbukowina zum rumänischen Staat nachtrauerten und die unrechtmäßige Annexion durch die Sowjetunion sowie die folgende Deportation Tausender Rumänen beklagen, sehen sich jüngere ukrainische Rumänen wie Kadelnyk als Ukrainer rumänisch-moldauischer Ethnizität. Das ukrainische Verständnis von Nation konstituiere sich heute jenseits des Begriffes der Ethnizität. Als Mitglied des "Klubs junger Reformatoren", welcher Diskussionen zwischen Studenten und Politikern der Ukraine in Tscherniwzi organisiert, ist Kadelnyk in der ukrainischen Zivilgesellschaft aktiv. In seinem Heimatdorf in der Region Tscherniwzi gab es keine rumänische Schule. Dennoch nahm er außerhalb des regulären Unterrichts zusätzlich rumänische Schulstunden, die die Schule anbot. Kadelnyk sieht es als seine staatsbürgerliche Pflicht, Ukrainisch zu lernen. Dass man als Angehöriger der rumänischen Minderheit Anspruch auf zusätzlichen Unterricht auf Rumänisch hat, ist für Kadelnyk Synonym dafür, dass der Vorwurf der "Ukrainisierung" nicht haltbar sei. Ein Problem der "Ukrainisierung" besteht laut Kadelnyk vielmehr für manche Politiker in Rumänien, die sich zu Verteidigern der sich angeblich in Gefahr befindenden rumänischen Minderheit in der Ukraine stilisieren möchten. Diese Karte spielte etwa im rumänischen Wahlkampf 2014 der sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat Victor Ponta, der gegenüber seinem deutschstämmigen Kontrahenten Klaus Johannis seine "wahre" rumänische Identität hervorheben wollte. Auch mehrere rechte Parteien in Rumänien, wie die bis 2008 im rumänischen Parlament eine große Rolle spielende "Großrumänien-Partei", welche eine Rückgabe der Nordbukowina durch die Ukraine forderte, befeuern immer wieder die Diskussion um eine Diskriminierung der rumänischen Minderheit in der Ukraine.

Seit Beginn des Krieges in der Ostukraine werden auch ukrainische Rumänen einberufen, um gegen die von Russland dirigierten und aufgerüsteten sog. Separatisten zu kämpfen. Am 8. Februar 2015 sprach der russische Außenminister Sergej Lawrow bei der Münchener Sicherheitskonferenz darüber, dass Vertreter der ungarischen und rumänischen Minderheiten in der Ukraine der sogenannten "positiven Diskriminierung" unterlägen, wenn es um die Mobilisierung in die ukrainische Armee gehe. In der von den russischen Staatsmedien betriebenen Propaganda wird die ukrainische Armee häufig als eine Truppe dargestellt, die von angeblich unter amerikanischem Einfluss stehenden Kommandeuren verheizt werde. Zwischen den Zeilen wirft Lawrow der ukrainischen Regierung, die in der russischen Rhetorik je nach Berichtssujet mal "illegitim", mal "Partner" ist, vor, sich so der Minderheiten des Landes zu entledigen. Von solchen absurden Behauptungen wollen Eugen Petrasch oder Artur Kadelnyk nichts wissen. Selbst in Rumänien wird zu diesem Vorwurf keine Stimme laut. Stattdessen produzierte das einflussreiche rumänische Nachrichtenblatt "Adevarul" einen Dokumentarfilm über ethnische Rumänen in der ukrainischen Armee. Diese sprechen dort über ihren Alltag, ihre rumänische Identität, aber auch über die Notwendigkeit des Kampfes in der ukrainischen Armee. Von der Entwicklung einer stabilen und demokratischen Ukraine hänge schließlich auch die Zukunft der rumänischen Minderheit in diesem Land ab.

Die Ungarn Transkarpatiens

In der westukrainischen Region Transkarpatien leben laut der Volkszählung von 2001 150.000 Ungarn – 12 % der Bevölkerung der Region. Mit 156.000 Personen ungarischer Herkunft in der gesamten Ukraine beträgt ihre Zahl 0,32 % der Gesamtbevölkerung. Auch in der Region Transkarpatien gibt es Kreise und einzelne Ortschaften, in denen Ungarisch zweite Amtssprache ist. Im Kreis Berehowe leben fast zur Hälfte Ungarn, viele Straßenschilder im Hauptort sind nur auf Ungarisch beschriftet. In Solotwino, einem südlichen Kreis der Region Transkarpatien, sind die Hinweisschilder sogar dreisprachig, da dort auch eine rumänische Minderheit lebt. Aufgrund des Zuzugs aus anderen Regionen der Sowjetunion sprechen auch viele Menschen in der Region Russisch, oft die interkulturelle Verkehrssprache. Obwohl in Transkarpatien deutlich weniger Ungarn leben als Rumänen in der Region Tscherniwzi, haben sich die Ungarn in einer Partei organisiert: der "Partei der Ungarn der Ukraine". Ziel dieser Partei ist eine ungarische Autonomie in der Region Transkarpatien, trotz des nicht ausreichenden Anteils der Ungarn in der gesamten Region. Unterstützt werden sie in dieser Forderung von den rechten Parteien Ungarns, Fidesz und Jobbik. Der russische Außenminister Sergej Lawrow kritisierte die ukrainische Regierung dafür, den Ungarn Transkarpatiens keine Autonomie zu gewähren, und forderte eine Verfassungsänderung, nach der die ungarische Minderheit einen Abgeordneten ins ukrainische Parlament schicken dürfte. Allerdings wurde die russische Diplomatie erst nach dem Maidan und dem damit verbundenen Regierungswechsel in der Ukraine zur selbsternannten Verteidigerin der Minderheiten in der Ukraine.

Die alltäglichen Probleme der Ungarn Transkarpatiens ähneln denen der Rumänen in der Region Tscherniwzi. Seit 1991 wandern viele Ungarn nach Ungarn oder in andere EU-Staaten aus. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine haben die Regierungen Ungarns ihre Staatsbürgerschaft großzügig an ethnische Ungarn in der Ukraine vergeben. Daher liegt es auch im Interesse ungarischer Politiker, im Wahlkampf über Sorgen und Probleme der ungarischen Minderheit in der Ukraine zu reden. Bei der Europawahl 2014 trat eine Vertreterin der ungarischen Minderheit der Ukraine, Andrea Bocskor, für die ungarische Fidesz-Partei an und wurde ins Europaparlament gewählt. Dies macht sie zum ersten Mitglied des Europaparlaments mit (zusätzlich) ukrainischer Staatsbürgerschaft. Die Motivation für die Abwanderung ist vor allem wirtschaftlicher Natur. Von einer offenen Diskriminierung der Ungarn in der Ukraine kann keine Rede sein, genauso wenig wie die ungarische Minderheit der Ukraine geschlossen den Anspruch der rechtsorientierten "Partei der Ungarn in der Ukraine" anerkennt, ihre Interessen zu vertreten. Auch das stellt den Anspruch dieser Partei in Frage, eine Verfassungsänderung zu fordern, die ihnen einen Platz in der Obersten Rada gewähren würde. Zudem ziehen viele junge Ungarn statt nach Ungarn nach Kiew und sehen ihre Zukunft als Bürger der Ukraine.

Olexandr Solontaj ist Experte des "Instituts politischer Aufklärung" in Kiew. Er stammt aus Transkarpatien. Sein Vater ist ethnischer Ungar. Auch wenn er sich als ukrainischer Bürger sieht und sich für eine proeuropäische demokratische Ukraine politisch engagiert, spricht er in einem Interview mit der ukrainischen Online-Zeitung "Glavcom" offen über die Ängste der ungarischen Minderheit in der Ukraine. Auch wenn der Zwischenfall von Mukatschewe am 12. Juli 2015 einen ganz anderen Hintergrund hatte, habe er unter den ukrainischen Ungarn zu Ängsten vor einer Destabilisierung der Region geführt. Die Aussagen des ungarischen Geheimdienstchefs, ungarische Agenten würden die Interessen Budapests und der ungarischen Minderheit in der Ukraine verteidigen, führten zu diplomatischen Verstimmungen. Doch auch Solontaj räumt ein, dass die ungarische Minderheit in der Ukraine sich stärker an Budapest orientieren und um ungarisches Eingreifen bitten könnte, sollte es der ukrainischen Regierung nicht gelingen, Sicherheit in der Region zu garantieren.

Die Beziehungen zwischen der Ukraine und Ungarn sind kühl, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban lud den russischen Präsidenten Wladimir Putin jedoch trotz EU-Sanktionen und Ukrainekrise zum Staatsbesuch nach Budapest ein. "Patriotisch" gesinnte russische Spitzenpolitiker sehen wegen deren konservativer Werte in der Fidesz-Partei Seelenverwandte. Der russische Politiker Wladimir Zhirinowskij, der für seine rechtspopulistischen Aussagen bekannt ist, wetterte gar, dass man die Ukraine aufteilen und Transkarpatien an Ungarn abtreten sollte. Dabei gehörte Transkarpatien während der Habsburger Monarchie zwar zum Königreich Ungarn, in der Zwischenkriegszeit jedoch zur Tschechoslowakei. Prag gewährte der mehrheitlich von Ukrainern bewohnten Region eine breite Autonomie. Die Region bekam den Namen "Karpaten-Rus". 1939 wurde Transkarpatien von der dem Dritten Reich nahestehenden Horthy-Regierung Ungarns annektiert, nach 1945 jedoch nicht von der Sowjetunion an die wiederhergestellte Tschechoslowakei zurückgegeben, sondern der UdSSR einverleibt. Eine Bezeichnung von Transkarpatien als historisch zu Ungarn gehörendes Gebiet ist also schon historisch schief. Trotz der persönlichen Annäherung ungarischer und russischer Politiker trägt Ungarn die europäischen Sanktionen gegen Russland mit und ist darüber hinaus am sogenannten "Reverse-Flow" beteiligt, der Gas aus Ungarn in die Ukraine leitet.

Fazit

Die ethnischen Minderheiten der Ukraine spielen in den außenpolitischen Beziehungen der Ukraine zu ihren Nachbarn häufig eine Rolle. Dabei hängen diese zwischenstaatlichen Beziehungen nicht zwangsweise von der tatsächlichen Lage der Minderheiten in der Ukraine ab. Die ungarische Fidesz-Partei oder der rumänische Präsidentschaftswahlkämpfer Victor Ponta sind Beispiele dafür, wie mitteleuropäische Politiker versuchen, ihre Zustimmungswerte dadurch zu steigern, dass sie sich als Verteidiger ihrer jeweiligen Minderheit in der Ukraine stilisieren. Die ukrainische Regierung erklärt, dass die angekündigte Dezentralisierungsreform den jeweiligen Minderheiten in ihren Siedlungsgebieten mehr Gestaltungsrechte garantieren werde. Seit der Unabhängigkeit gab es auch Überlegungen, ein Zweikammerparlament einzuführen, um den Regionen mehr Mitspracherechte in der gesamtukrainischen Politik zu geben. Eine solch tiefgreifende Reform steht gegenwärtig jedoch nicht auf der Reformagenda.

Fussnoten

Oleg Friesen ist Masterstudent der Osteuropawissenschaften an der LMU München und war im Juni/Juli 2014 sowie von März bis Juni 2015 Praktikant im Auslandsbüro der Friedrich-Naumann-Stiftung in Kiew.