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Analyse: sinkender Wohlstand und die Anpassungsstrategien der Bevölkerung | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: sinkender Wohlstand und die Anpassungsstrategien der Bevölkerung Der Lebensstandard in der Ukraine in den Jahren 2014/2015

Kseniia Gatskova

/ 9 Minuten zu lesen

In den letzten zwei Jahren hat sich der Lebensstandard der ukrainischen Bevölkerung rapide und beträchtlich verschlechtert. Die Abwertung der Nationalwährung, der Rückgang der industriellen Produktion und die Erhöhung der Energiepreise führten zu einem Anstieg der Lebenshaltungskosten sowie zur Schrumpfung der Mittelschicht. Zum ersten Mal seit den 1990er Jahren wird die Armut zum Problem.

Hrywnja-Scheine (© dpa)

Allgemeine Tendenzen

Abgesehen von der wirtschaftlichen Rezession infolge der globalen Finanzkrise 2008/2009 gab es eine langsame Verbesserung der Wirtschaftslage in der Ukraine zwischen den Jahren 2000 und 2013. Die Armutsrate sank in dieser Zeit spürbar, und obwohl die Ukrainer nach wie vor zu den ärmsten Völkern Europas zählten, haben die meisten Haushalte einen moderaten Anstieg des Lebensstandards erlebt. Seit der Aggression Russlands im Frühling 2014 sind jedoch negative Tendenzen für den Wohlstand der Menschen zu erkennen. Diese Tendenzen haben sich 2015 nicht nur weiter fortgesetzt, sondern auch drastisch verschärft.

Laut Angaben der Weltbank betrug das ukrainische Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf im Jahr 2014 8.560 Dollar (Internationaler Dollar in Kaufkraftparität), was lediglich der Hälfte des BNE pro Kopf im Nachbarland Belarus entspricht. Kleinere Werte haben in Europa nur Moldawien, Georgien und Armenien (Interner Link: s. Grafik 1). Im Jahr 2014 schrumpfte die Wirtschaft der Ukraine um 6,8 Prozent, wobei 2015 ein weiterer Rückgang zwischen sieben und zwölf Prozent erwartet wird. Die enorme Abwertung der Hrywnja gegenüber Dollar und Euro und die Anhebung der Energiepreise haben die Inflation ruckartig steigen lassen. Sinkendes reales Einkommen und steigende Preise für Güter und Dienstleistungen führten in den letzten zwei Jahren dazu, dass viele Familien in der Ukraine eine deutliche Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Situation in Kauf nehmen mussten. Einen dermaßen niedrigen Lebensstandard wie in den letzten zwölf Monaten hat die ukrainische Bevölkerung zuletzt in den 1990er Jahren erlebt. Die aktuelle Wirtschaftskrise, die unter anderem stark durch den andauernden Konflikt im Osten des Landes – und die damit verbundene Industriezerstörung sowie den Handelskrieg mit Russland – bedingt ist, wirkt sich äußerst negativ auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung aus.

Das Ausmaß der extremen Armut ist dramatisch gestiegen. Die traditionell am meisten von der Armut betroffenen Gruppen sind nach wie vor Rentner, kinderreiche Familien und die ländliche Bevölkerung. Ebenfalls besonders armutsanfällig sind die Binnenvertriebenen, deren Anzahl in der Ukraine mittlerweile über 1,5 Millionen liegt.

Einkommen

Laut Angaben des ukrainischen Statistikamtes haben sich die Reallöhne in der Ukraine seit Ende 2013 um mehr als 30 Prozent verringert. Die Einkommen der Haushalte stiegen viel langsamer als die Konsumentenpreise und dadurch ist die Kaufkraft der Bevölkerung merklich gesunken. Im Jahr 2013 betrug der Durchschnittslohn in der Ukraine 3.234 Hrywnja (etwa 280 Euro nach dem damaligen Wechselkurs), zwischen Januar und Oktober 2015 bekam ein Arbeiter durchschnittlich 4.012 Hrywnja (156 Euro nach dem Wechselkurs im Oktober 2015).

Laut offizieller Statistik bezogen die städtischen Haushalte im ersten Quartal 2015 im Durchschnitt ein monatliches Einkommen von 2.297 Hrywnja (etwa 89 Euro) pro Kopf. Ländlichen Familien standen im Durchschnitt 2.059 Hrywnja (80 Euro) im Monat pro Person zur Verfügung. Die ohnehin kargen Renten, der Mindestlohn und das Existenzminimum wurden Ende 2013 eingefroren und bis September 2015 nicht erhöht. Das neue offizielle Existenzminimum von 1.330 Hrywnja (umgerechnet 54 Euro) – vor September 2015 waren es noch 1.176 Hrywnja (umgerechnet 49 Euro) – entspricht nicht den realen Lebenskosten im Land. In einer im Jahr 2015 durchgeführten Umfrage des Instituts für Soziologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften wurde untersucht, welches Einkommen pro Kopf das Existenzminimum nach Meinung der Befragten sichern würde. Das angegebene Medianeinkommen betrug 3.000 Hrywnja, was das offizielle Existenzminimum um mehr als das Zweifache übersteigt. Dennoch bezieht jede zehnte Person in der Ukraine ein Einkommen, das unterhalb des offiziellen Existenz­minimum­s liegt.

Die Durchschnittsrente lag Anfang 2015 bei 1.536 Hrywnja (79 Euro) pro Monat. Aufgrund der niedrigen Renten ist eine Fortsetzung der Arbeit unter Rentnern verbreitet. Seit April 2015 wird diese Gruppe zusätzlich belastet: Einem neuen vorübergehenden Gesetz zufolge wird arbeitenden Rentnern die Rente um 15 Prozent gekürzt.

Auch wenn man das Ausmaß der Schattenwirtschaft – die laut Expertenmeinungen etwa 50 Prozent der Wirtschaft erreicht – in Betracht zieht, reichen die Einkommen der breiten Bevölkerungsschichten kaum zum Überleben. Niedrige Einkommen stellen ein großes Problem für das ganze Land dar, wobei die Situation in der Hauptstadt Kiew etwas besser als an anderen Orten der Ukraine ist.

Ferner wird die finanzielle Situation zahlreicher Haushalte durch die steigenden Lohnzahlungsrückstände erschwert. In vielen Organisationen und Unternehmen erhalten die Arbeiter mehrere Monate überhaupt keine Arbeitsentlohnung oder nur einen Teil des festgelegten Lohnes. Laut Informationen des Statistikamtes ist im Laufe von 2014 der Lohnrückstand auf fast das Fünffache gestiegen. Diese Zahl berücksichtigt keine inoffiziellen Zahlungsrückstände. Generell lässt sich aber feststellen, dass Arbeitnehmer, die ihr Gehalt oder Teile des Gehaltes inoffiziell ("im Umschlag") erhalten, besonders ungesichert und in Bezug auf die Nichtauszahlung des Lohnrückstands gefährdet sind. Laut einer Umfrage des Instituts für Soziologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften im Jahr 2015 gaben 15,5 Prozent der Bevölkerung an, dass sie oder ihre Familienangehörigen im Laufe des Jahres mit nicht oder nur teilweise ausgezahlten Löhnen (bzw. Renten, Sozialhilfe) zu tun hatten (Interner Link: s. Grafik 2). Im regionalen Durchschnitt sind die Lohnzahlungsrückstände im Osten des Landes am höchsten, vor allem in den vom Konflikt mit Russland betroffenen Gebieten Donezk und Luhansk.

Ausgaben

Laut Umfragen gehören Preissteigerung, Arbeitslosigkeit und Lohn- bzw. Rentenzahlungsverzüge zu den drei am häufigsten erwähnten Befürchtungen der Ukrainer. Die genannten Probleme spiegeln durchaus die Realität der heutigen Lage im Land wider. Seit Beginn des Konflikts mit Russland sind die Preise in der Ukraine enorm gestiegen (Interner Link: s. Grafik 3). In den letzten zwei Jahren verlor die Hrywnja massiv an Wert. Der Höhepunkt wurde im Frühling 2015 erreicht, als die Inflationsrate im Vergleich zum Ende des Vorjahres 60,9 Prozent erreichte. Die Abwertung der Landeswährung hat vor allem die Importprodukte für viele ukrainische Käufer unerschwinglich gemacht. Dies betrifft nicht nur große Käufe wie Autos oder Elektrotechnik, sondern mittlerweile auch importierte Schuhe, Bekleidung und Lebensmittel, die für viele Familien zu teuer geworden sind. Auch die im Land produzierten Güter sind generell wesentlich teurer geworden.

Laut Angaben des Statistikamtes sind im Jahr 2014 die Preise für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke in der Ukraine etwa um 25 Prozent gestiegen. 2015 setzte sich dieser Trend nicht nur weiter fort, sondern beschleunigte sich auch, was in einer weiteren Erhöhung der Lebensmittelpreise um 34 Prozent resultierte. Die Preise für Brotwaren, Fisch und Obst sind am stärksten gestiegen. Umfragedaten weisen darauf hin, dass die Menschen ihren Konsum entsprechend verringern: Es werden insgesamt weniger Obst, Fleisch, Fisch, Eier, Zucker, Milchprodukte und andere Lebensmittel konsumiert, wobei der Konsum der zwei Basisprodukte – Brot und Kartoffeln – relativ unverändert bleibt. Etwa einem Drittel der Bevölkerung fehlt die Möglichkeit, notwendige Nahrungsmittel zu kaufen; jeder zweite Ukrainer kann sich nicht seinen Präferenzen entsprechend ernähren. Dabei können sich Familien mit Kindern insgesamt weitaus weniger Lebensmittel pro Person leisten als Familien ohne Kinder.

Verschiedene Bevölkerungsgruppen sind unterschiedlich von der Krise betroffen. Besonders hohem Druck sind diejenigen ausgesetzt, die mit gravierenden Gesundheitsproblemen zu kämpfen haben, da hohe Medizinkosten Familien mit Durchschnittseinkommen in eine Notlage bringen können. In den letzten zwei Jahren sind die Preise im Bereich der Medizinversorgung – der allgemeinen Tendenz entsprechend – stark gestiegen (über 30 Prozent), was vor allem den Preisen für Medikamente geschuldet ist.

Die Budgets der Familien wurden zusätzlich durch die rasante Erhöhung der Kommunaltarife in den Jahren 2014 und 2015 belastet (Interner Link: s. Ukraine-Analysen Nr. 153). Als Ergebnis haben sich die Wohnkosten fast verdoppelt. Die größte Veränderung betraf die Gaspreise, die mehr als verdreifacht wurden. Elektroenergie, Wasserversorgung, Heizung und Abwasser verteuerten sich um etwa 50 bis 70 Prozent. Angesichts des strategischen Plans der Regierung, die Gaspreise für private Haushalte bis zur Erreichung des Marktniveaus zu erhöhen, werden die Energiepreise bis 2017 noch weiter steigen. Der Erfolg auf dem Weg zur Energieunabhängigkeit der Ukraine hängt jedoch maßgeblich von der Wirtschaftsentwicklung ab: Eine weitere Tariferhöhung wird nur dann ohne schwerwiegende soziale Spannungen realisierbar sein, wenn es zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung kommt.

Anpassungsstrategien

Nach wie vor sind Familien- und Freundschaftsnetzwerke in der Ukraine eine bedeutende Quelle ökonomischer Stabilität und sozialen Zusammenhalts. Vor dem Hintergrund der schwachen politischen Institutionen, die ein sehr geringes Vertrauen seitens der Bevölkerung genießen, spielen die informellen Beziehungen in den postsowjetischen Ländern eine zentrale Rolle im Alltagsleben der Menschen. Gut bekannt sind die Forschungsstudien zur Vermittlung von Arbeitsstellen durch informelle Kanäle. Die letzteren spielen in der gegenwärtigen Ukraine oft eine wichtigere Rolle bei der Jobsuche als die Leistungen des Arbeitsamtes. In Zeiten der Wirtschaftskrise steigt die Bedeutung der persönlichen Netzwerke, weil sie eine Sicherungsfunktion übernehmen, die vom Staat nicht gewährleistet werden kann.

Ukrainer, die den Rückgang ihrer Einkünfte immer stärker spüren, verlassen sich zunehmend auf ihr Sozialkapital. Die Nutzung der informellen Beziehungen spiegelt sich unter anderem im gegenseitigen Austausch von Gütern und Dienstleistungen als Teil einer Sparstrategie wider. So erhalten beispielsweise junge Mütter gebrauchte Kindersachen von Freunden und Bekannten, die ältere Kinder haben, um Ausgaben für Kinderbekleidung zu reduzieren. Zu weitverbreiteten Praktiken gehört auch qualifizierte kostenlose oder -günstige Hilfe wie etwa die Reparatur von Elektrogeräten, Friseurdienste, Nachhilfeunterricht u. Ä.

Die subsistenzwirtschaftliche Nutzung der Datschen ist ein weiteres zentrales und erprobtes Element der Anpassungsstrategien der Menschen. Viele Ukrainer sind auf Lebensmittel (Kartoffeln, Kohl, rote Beete, Gurken, Äpfel usw.) aus eigenem Anbau angewiesen, wobei die Stadtbewohner inzwischen öfter mit der Hilfe von Verwandten vom Lande rechnen, während bei den letzteren die Subsistenzwirtschaft zuweilen eine unverzichtbare zusätzliche Einkommensquelle und die Haupternährungsquelle darstellt.

Das Sparverhalten im Bereich Lebensmittelkonsum hat sich auf die Gewohnheiten der Bürger ausgewirkt: Zum einen sind die Restaurantbesuche in den letzten zwei Jahren wesentlich zurückgegangen, weil Menschen vorzugsweise zu Hause essen. Zum anderen steigen viele Familien auf günstigere Produkte – meist von einer niedrigeren Qualität – um. In qualitativen Interviews geben die Befragten zu, dass sie derzeit viel mehr auf Werbeaktionen und Rabatte achten, um Lebensmittel zu günstigeren Preisen zu kaufen. Manche Familien suchen gezielt nach Lebensmitteln, deren Haltbarkeitsdatum am nächsten Tag abläuft, da diese wesentlich günstiger verkauft werden. Gleichzeitig ist eine allgemeine Tendenz zur Ersetzung der Importprodukte durch in der Ukraine produzierte Güter zu beobachten.

Schrumpfende Mittelschicht

Wachsender Wohlstand und seine gleichmäßige Verteilung bilden eine Kernaufgabe der Politik in den gegenwärtigen Industrieländern. Es gilt, dass eine breite Mittelschicht eine Basisstütze der modernen Demokratie und eine Triebkraft eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums darstellt. Die Steuerabgaben einer höheren Anzahl gut verdienender Bürger sichern außerdem die Finanzierung der staatlichen Sozialsysteme und tragen somit zur Armutsbekämpfung bei.

Es gibt unterschiedliche Definitionen der Mittelschicht. Der klassische Ansatz berücksichtigt die Größe des frei verfügbaren Einkommens sowie das Konsummuster der Menschen. Diesem Ansatz zufolge erlaubt das Einkommen der Mittelschicht – im Gegensatz zu dem ärmerer Bevölkerungsgruppen – einen höheren Konsum als für das "bloße Überleben" notwendig ist.

Laut Umfrageergebnissen aus dem Jahr 2015 (Interner Link: s. Grafik 4) leben weniger als ein halbes Prozent der Familien in der Ukraine im Wohlstand. 12,9 Prozent der Befragten geben an, dass ihr Haushalt ein Einkommen bestreitet, das mehr als nur die Basisbedürfnisse zu decken ermöglicht, und weitere 2,7 Prozent haben zusätzlich noch die Möglichkeit, Ersparnisse zu bilden. Gemeinsam machen diese letzten zwei Gruppen 15,6 Prozent der Bevölkerung aus und können als die gegenwärtige ukrainische Mittelschicht betrachtet werden. Im Zuge des Wirtschaftswachstums in den 2000er Jahren erreichte die Mittelschicht in der Ukraine 24,5 Prozent (2008) – also ein Viertel der Bevölkerung; nach der globalen Finanzkrise schrumpfte sie auf 19,3 Prozent (2010). Die aktuellen Tendenzen in der ukrainischen Wirtschaft deuten auf einen weiteren Rückgang der Mittelschicht hin. Dies birgt ein erhöhtes Risiko der Verlangsamung der Wirtschaftsreformen sowie der Demokratisierungsprozesse im Land.

Fazit

Die Folgen der wirtschaftlichen Krise machen sich bei den ukrainischen Bürgern zunehmend bemerkbar. Eine rasante Abwertung der Nationalwährung, der Rückgang der industriellen Produktion und die Erhöhung der Energiepreise führten zum Anstieg der Lebenshaltungskosten. Im Vordergrund bleibt das Problem des niedrigen Einkommens, das schon vor der Krise existierte und die Familien hinderte, sich einen finanziellen Puffer für die Zukunft zuzulegen. Unter den jetzigen Umständen ist die Bevölkerung gezwungen, in vielerlei Hinsicht zu sparen, bei Lebensmitteln, Gebrauchsgütern und Dienstleistungen.

Die Schatteneinkommen, mit denen viele Ukrainer ihre wirtschaftliche Situation in den letzten Jahrzehnten aufbessern konnten, stellen sich in Zeiten der Krise als besonders ungesichert heraus. Die Bekämpfung der Schattenwirtschaft durch den Staat birgt Konfliktpotenzial, weil die Offenlegung der Nebeneinkünfte nicht selten ebenfalls ihre Kürzung bedeutet.

Im Alltag verlassen sich die Menschen immer mehr auf die altbekannten Krisenbewältigungsstrategien – informelle Beziehungen im Familien- und Bekanntenkreis, Subsistenzwirtschaft und Substitution der teuren Importwaren durch günstigere im Land produzierte Produkte.

Die Schrumpfung der Mittelschicht, die generell als eine Triebkraft der Modernisierungs- und Demokratisierungsprozesse angesehen wird, stellt die Stabilität der zukünftigen politischen Verhältnisse vor ernsthafte Herausforderungen. Vor dem Hintergrund schleppender Reformen kann ein weiteres Absinken des Lebensstandards zu sozialen Spannungen im Land führen.

Fussnoten

Dr. Kseniia Gatskova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg. Schwerpunkte ihrer Forschung sind postsowjetische Transformation, soziale Ungleichheit, Migration und Zivilgesellschaft. Externer Link: http://www.ios-regensburg.de/personen/mitarbeiterinnen/kseniia-gatskova.html