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Analyse: Informalität an höheren Bildungseinrichtungen der Ukraine | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Informalität an höheren Bildungseinrichtungen der Ukraine

Abel Polse Tetiana Stepurko

/ 11 Minuten zu lesen

Für viele Ukrainer erfüllen höhere Bildungseinrichtungen die Funktion eines Übergangsritus, den es zu durchleben gilt. (© picture alliance / ZB)

Ein Taxifahrer erzählte auf dem Weg vom Flughafen Borispyl nach Kiew, dass er seinen Sohn auf die Universität von Cherson schickt, "weil die Einschreibung dort billiger ist als in Kiew". Auf die Frage, warum sein Sohn einen Uniabschluss braucht, antwortete er freimütig, ohne könnte er nicht einmal in einem Supermarkt arbeiten.

Durch den hohen symbolischen Stellenwert von höherer Bildung, der im Erbe der Sowjetkultur verankert ist, werden selbst bei Stellen, die kein Hochschulstudium verlangen, Bewerber mit einem höheren Abschluss bevorzugt. Weil Eltern und Studierende wissen, dass ein Universitätsabschluss auf dem Arbeitsmarkt immer ein Wettbewerbsvorteil ist, kämpfen sie darum, an einer möglichst guten Universität aufgenommen zu werden. Diese Situation wird durch die mangelnde Verfügbarkeit und das in der Regel geringere Ansehen von technischen Instituten und Berufsschulen noch verschärft.

Dazu muss gesagt werden, dass Bildung und auch höhere Bildung in der Ukraine theoretisch gebührenfrei sind – jedenfalls offiziell gemäß der Verfassung des Landes. Unser Taxifahrer hat sich also nicht auf offizielle Studiengebühren, sondern auf eine Art inoffizielle Zahlung bezogen, die notwendig ist, um an einer höheren Bildungseinrichtung studieren zu können.

Die Thematik ruft eine große Bandbreite von Reaktionen hervor, die sich zwischen zwei Extrempositionen bewegen. Die eine erkennt den insgesamt negativen Effekt der Korruption an und geht davon aus, dass informell geleistete Zahlungen – wie gering sie auch sein mögen – das Potential haben, die soziale und wirtschaftliche Entwicklung eines Landes zu unterminieren, und dass sie insgesamt verurteilt werden sollten. Einige Wissenschaftler und Analysten gehen so davon aus, dass die routinemäßigen Praktiken des Gebens und Nehmens das System unterminiert haben und eine institutionalisierte und weitverbreitete Korruption haben entstehen lassen, die sofort beseitigt werden sollte.

Tatsächlich wird für die Ukraine ein großes Ausmaß an Korruption verzeichnet, Transparency International führt die Ukraine 2016 im Index der Korruptionswahrnehmung auf dem 130. von 168 Plätzen, gleichauf mit Nepal, Kamerun und Iran. Russland, Moldawien und Belarus gelten als weniger korrupt. Nach einer früheren Erhebung von Transparency International in der Ukraine gehören das Bildungswesen und das Gesundheitssystem zu den korruptesten Bereichen des Landes, darauf folgen Justiz, Parlament und Polizei.

Die zweite, entgegengesetzte Perspektive auf die informellen Strukturen leugnet die Existenz dieser Praktiken nicht, sondern verortet sie in einem größeren Rahmen. Die Abwesenheit des Staates in manchen Bereichen oder Teilbereichen des öffentlichen Lebens mache eine persönliche informelle Absprache zwischen Individuen möglich und auch sinnvoll, um mit den vielfachen Fehlern eines Systems umzugehen, in dem der Staat als schwach oder funktionsunfähig wahrgenommen wird.

Das Milieu der Korruption

Das Gesundheitswesen ist, was das Ausmaß der Korruption angeht, wohl der schlimmste Bereich. In einer 2015 vom Kiewer Internationalen Institut für Soziologie durchgeführten Umfrage gaben 69 % der Befragten an, für Gesundheitsleistungen bestochen zu haben, danach kommen Oberschulen (64 %), gefolgt vom Umgang mit der Polizei (51 %) und mit Angestellten höherer Bildungseinrichtungen (49 %). Auf der anderen Seite geben 57 % der Vertreter von Oberschulen, 32 % der Angestellten im Gesundheitsbereich und 23 % der Inspektoren der Gesundheitsämter an, dass ihnen über Jahre hinweg informelle Zahlungen angeboten worden seien.

Im Bildungsbereich zeigen sich zwei unterschiedliche Wahrnehmungen: Einerseits gilt er als stark von Korruption geprägt. Andererseits wird er als einer der Bereiche geführt, in denen die informellen Zahlungsangebote am stärksten zurückgegangen sind. Dennoch werden für diverse Dienstleistungen immer noch häufig informelle Zahlungen gefordert, direkt oder indirekt. Und so geben auch unabhängige Berichte die Korruption an höheren Bildungseinrichtungen (an Universitäten und unter ihren Lehrenden) mit 47 % an, wobei 44 % der Universitätsabsolventen und Studierenden sowie 36 % der Studierenden an Fachhochschulen angaben, diese Tendenz bekämpfen zu wollen.

Zufall oder nicht, Gesundheitswesen und Bildungssystem sind die Bereiche, in denen der Staat für Organisation und Finanzierung eine große Rolle spielt: Die meisten Gesundheitseinrichtungen wie auch die meisten Schulen und Universitäten sind staatlich. Der Staat zahlt dort die Gehälter (die unter dem durchschnittlichen Lohn in der Wirtschaft liegen). Daran zeigt sich in unseren Augen, dass das in den staatlichen Bereichen herrschende Missmanagement möglicherweise zu informellen Strukturen führt, die all jene Probleme bewältigen sollen, die die begrenzten staatlichen Managementkapazitäten nach sich ziehen.

Eine faire Bewertung von Korruption und informellen Strukturen im Bereich der höheren Bildung sollte zwischen informellen Zahlungen und Korruption kritisch unterscheiden und auch deren jeweilige Ursprünge und Konsequenzen in den Blick nehmen. Die am weitesten verbreitete Definition von Korruption, die häufig und unter anderem auch von der Weltbank genutzt wird, ist "die Verwendung öffentlicher Ämter zum persönlichen Vorteil", während unter informellen Strukturen in der Regel Aktivitäten verstanden werden, die nicht vom Staat reguliert werden oder für diesen unsichtbar sind. Der Begriff Korruption geht normativ davon aus, dass der Staat immer und überall zugegen ist (öffentliches Amt meint, dass die betreffende Person für den Staat arbeitet), der Begriff der informellen Strukturen tut das nicht. Er geht vielmehr davon aus, dass der Staat Transaktionen nicht unter Kontrolle hat oder beobachtet, wobei das die Fälle einschließt, in denen der Staat abwesend oder handlungsunfähig ist.

Was ist die Funktion der informellen Strukturen in den höheren Bildungseinrichtungen der Ukraine? Sprechen wir über ein wirtschaftliches Phänomen oder gehört mehr dazu?

Informelle Zahlungen und Gegenmaßnahmen

Informalität in der höheren Bildung umfasst eine Reihe von Praktiken: einmalige und fortlaufende Zahlungen für Lehre und Lehrmittel; Zahlungen für die Beschleunigung von Zulassungsverfahren ohne Erfüllung der Kriterien (staatliche Prüfungen); Zahlungen dafür, noch als Student eingeschrieben zu sein, obwohl man sich bereits in einem Arbeitsverhältnis befindet; das Vertuschen nicht leistungsbasierter Zulassung durch verschiedene Fakultäten, indem die studentischen "Kunden" auf Quid-pro-quo-Basis angenommen werden; Zahlungen an Lehrende und andere Studierende für die Anfertigung von Prüfungsleistungen für Lehrveranstaltungen. Der extremste, aber keinesfalls seltene Fall ist der Erwerb eines Abschlusses durch reiche Studierende, die nicht eine einzige Lehrveranstaltung besucht haben.

In einer von uns in Auftrag gegebenen Umfrage, die das Kiewer Internationale Institut für Soziologie 2012 durchführte, haben wir eine ablehnende Haltung gegenüber informellen Zahlungen im Bereich der höheren Bildung aufgezeigt. Nur 3 % der Befragten hielten informelle Zahlungen an Lehrende für notwendig, 29 % vertraten eine fatalistischere Position und hielten sie für einen "Teil des Systems". Ablehnung war jedenfalls die insgesamt vorherrschende Einstellung. Nur 9 % der Befragten hielten informelle Zahlungen für die einzige Überlebenschance von Lehrenden an Universitäten, 59 % sahen sie als Zeichen für einen Niedergang des Landes. In einer weiteren Frage wurden informelle Zahlungen von 44 % der Befragten auch mit Schande assoziiert. Außerhalb des universitären Umfelds sahen sie allerdings 38 % als Teil des zum Überleben notwendigen Systems an.

Manche Lehrenden verweigern so die Annahme von Bestechungsgeld. Dies kann aber auch zu Druck von Seiten der Universität führen. Zum einen wird dadurch das System der Korruption gefährdet, aus dem andere Lehrende ihr Einkommen beziehen. Zum anderen bedeuten Studierende auch Einnahmen für Universitäten und so kann es passieren, dass ein Lehrender, der einen Student immer wieder durchfallen lässt, von der Verwaltung unter Druck gesetzt wird, wenn diese befürchtet, der Student könnte komplett aus der Universität ausscheiden.

Es gab einige Bemühungen zur Bekämpfung dieser Tendenzen. Die Gründung der externen unabhängigen Evaluation (zovnizhnie nezalezhne otsiniuvannia – ZNO) zielte darauf ab, die Zulassungsverfahren transparenter zu gestalten, indem sie für jeden Studienbewerber verpflichtend eingeführt wurden.

Das Gesetz von 2014 zur höheren Bildung sollte die Autonomie der Universitäten stärken und sie in die Lage versetzen, die mit Informalität verbundenen Probleme eigenständig zu lösen anstatt zentral ausgegebene Anweisungen auszuführen. Zusätzlich wurde Prozorro – ein elelektronisches System zur Vergabe öffentlicher Aufträge – eingeführt, um die Verwendung staatlicher Gelder transparenter zu gestalten.

Informelle Zahlungen und Solidarität

In einer weiteren kürzlich durchgeführten Untersuchung stellten wir zwei Tendenzen fest, die helfen können, etwas Licht ins Dunkel der informellen Praktiken und ihrer Bedeutungen zu bringen. 84 % der Befragten stimmten der Behauptung, der Staat handle in ihrem Interesse, nicht zu, 79 % denken, die Regierung tue nicht das Beste fürs Land, und 76 % haben nicht das Gefühl, der Staat würde sie beschützen.

Diesen Ergebnissen und dem fehlenden Vertrauen in den Staat steht ein wachsendes Vertrauen in die Mitbürger oder zumindest ein Gefühl der Solidarität gegenüber. Bis zu 100 % der Befragten (in den Regionen Winnyzja, Iwano-Frankwisk und Kirowograd) gaben an, es sei wichtig oder sehr wichtig, sich gegenseitig zu helfen, und 84 % glaubten, dass persönliche Kontakte entscheidend für den Zugang zu Dienstleistungen und Informationen sind.

Können informelle Zahlungen in der höheren Bildung als Ausdruck sozialer Solidarität verstanden werden? Kann möglicherweise festgehalten werden, dass die Bürger unzufrieden damit sind, dass sie zahlen müssen, dass sie das als beschämende Praxis ansehen, es aber dennoch tun, weil sie es als Möglichkeit der Einkommensumverteilung an öffentliche Angestellte ansehen, die nicht genug verdienen? Als erstes möchten wir darauf hinweisen, dass informelle Zahlungen in höheren Bildungseinrichtungen zwar häufig, jedoch nicht notwendigerweise systematisch sind. Oder, in den Worten eines ehemaligen Studenten: "Als ich studiert habe, gab es zwei Möglichkeiten, eine Abschlussprüfung zu bestehen. Entweder viel Arbeit ins Studium zu stecken oder zu zahlen und den Abschluss zu kaufen. Mit dieser Wahl unterschieden sich letzten Endes diejenigen, die sich von dem erworbenen Wissen Vorteile für ihre Arbeit erhofften, von denen, die sich einfach nur einen Abschluss an die Wand hängen wollten. Ich habe allerdings auch Studierende gesehen, die in einem anderen Bereich zu arbeiten anfingen, als der, in dem sie ihren Abschluss gemacht hatten."

Ein Dozent berichtete von einem interessanten Ansatz: "Es gibt Studierende, die eine Prüfung bestehen müssen, um einen Abschluss zu bekommen. Ich weiß, dass sie früher oder später bestehen werden, und ich weiß auch, dass es nicht ihre Schuld ist, dass sie gezwungen sind, einen Abschluss zu machen, um später zu arbeiten, denn in der Ukraine ist es undenkbar, ohne universitäre Ausbildung einen Job zu bekommen. Ich werde die Studierenden über kurz oder lang bestehen lassen und mich nicht schlecht fühlen, wenn sie am nächsten Tag mit einer Schachtel Schokolade oder einer Flasche Cognac zu mir kommen."

Lehrende sind an Einkommen studentischen Ursprungs nicht immer interessiert, sie werden jedoch unter Umständen von Seiten der Verwaltung unter Druck geraten, Studierende nicht durchfallen zu lassen. Eine kreative Option, um den Druck der Verwaltung zu verringern ohne das Berufsethos zu verletzen, ist es, Studierende zu bitten, das Geld, das sie zur Bestechung aufwenden würden, zum Kauf neuer Bücher für die Bibliothek zu verwenden. Der clevere Informant berichtete in diesem Zusammenhang von mehreren Vorteilen: 1. Studierende, die das Studieren gar nicht gewohnt sind, lernen so, dass es eine Bibliothek gibt und dass dort Bücher verfügbar sind, und sie gehen zumindest einmal dorthin. 2. Sie müssen herausfinden, welche Bücher fehlen. 3. Die Bestände wachsen und die Bibliothek kann eine größere Auswahl anbieten.

Die Ukraine ist nicht der einzige Ort, an dem multiple Moralvorstellungen nebeneinander existieren oder an dem sich die Kluft zwischen staatlicher und individueller Moral so einfach erkennen lässt – vielleicht sollte man Moralvorstellungen sagen, denn verschiedene Individuen beziehen sich unter Umständen auf verschiedene moralische Prinzipien. So wird der Großteil der Angestellten wahrscheinlich in Situationen gewesen sein, in denen ihnen informell Geld oder Geschenke gegeben wurden. Unter diesen Personen wird es jedoch eine eigene Rangordnung geben, wobei zu denen aufgeschaut wird, die Geschenke oder Zahlungen nur in speziellen Fällen annehmen, und auf andere herabgeblickt wird, die sie als Teil ihrer täglichen Routine verlangen oder gar Situationen schaffen, in denen sich Studierende unter Druck gesetzt fühlen zu zahlen.

Auch an anderen Indikatoren wird die Moral von Kollegen bewertet. Findet die Gegenleistung für einen "Service" vor oder nach dem Service selbst statt? Denn müssen Studierende nach dem Service zahlen, steht es ihnen mehr oder weniger frei, nach der Prüfung zu verschwinden – ein Umstand, der zeigt, dass die Hauptmotivation der Lehrenden nicht das Geld war. Letztlich verdeutlicht die folgende Definition die Perspektive der Lehrenden aber immer noch am besten: "Wenn ich es bekomme, ist es ein Geschenk. Wenn ich es verlange, ist es Bestechung."

In einer Studie von 1959 über Fabrikarbeiter in den USA wurde festgestellt, dass manche Firmen gegenüber Arbeitern, die einige kleinere Gegenstände von ihrem Arbeitsplatz mit nach Hause nehmen, ein Auge zudrücken. Das wurde als Zugeständnis zur Kompensation ihres geringen Lohns angesehen oder als Zulage für das Arbeiten in einem Umfeld, das die Arbeiter nicht so entlohnt, wie sie es erwarten. An diesem Beispiel kann die Perversität der ukrainischen Situation erklärt werden: Die Lehrenden sind unterbezahlt, der Staat drückt dafür ein Auge zu, was die informellen Praktiken angeht. Kontrollen werden verstärkt, hauptsächlich jedoch für Institutionen, die im Rampenlicht stehen. Gleichzeitig werden mehr dezentrale Bildungsinstitute sich selbst überlassen und sind freier, Vergünstigungen zu verteilen. In größeren Städten gibt es entsprechend dieser Logik stärkere Kontrollen, was zu größeren Risiken sowie dazu führt, dass das Personal nur noch für höhere Beträge bereit ist, diese Risiken einzugehen. Beträge, die unser Taxifahrer nicht hat, so dass er seinen Sohn nach Cherson in die Provinz schicken muss.

Schlussfolgerungen

Und wie sieht nun das Schicksal des Sohns unseres Taxifahrers aus? Wie stehen die Chancen, dass er mit seinem Cherson-Abschluss bald eine ordentliche Arbeit findet? Da ein Universitätsabschluss ja eher eine formale oder kulturelle als eine fachliche Bedingung ist, lautet unsere Prognose, dass es früher oder später für ihn klappen wird, indem er es irgendwie schafft, einen Abschluss zu bekommen, und er dann über sein Netzwerk einen Job sucht. Die Funktion von höherer Bildung ist es vielleicht sogar eher, ein Netzwerk aufzubauen, als sich Wissen anzueignen. Wie ein anderer Informant berichtete: "Meine Tochter will einzig und allein heiraten, also habe ich sie an einer Uni eingeschrieben. Ziel ist es nicht, einen Abschluss zu machen. Meine Hoffnung ist vielmehr, dass sie durch ihr soziales Leben irgendwann jemanden trifft, den sie mag. Wenn ich eine gute Uni aussuche, auf die gebildete Leute gehen, wird sie hoffentlich jemand Gutes finden."

Für viele Ukrainer, aber auch ehemalige Sowjetbürger erfüllen höhere Bildungseinrichtungen die Funktion eines Übergangsritus, eines notwendigen Schritts im Leben, und sie stehen auf jeden Fall für eine Zeit, an die sie gute Erinnerungen haben werden. Sie sind, anders gesagt, eine Investition wert.

Die Frage ist allerdings, ob Universitäten der richtige Ort für diesen Ritus sind und ob so viel Zeit und Geld aufgewendet werden müssen, um diese Phase zu durchlaufen. Vielleicht könnten soziale oder Sportvereine, Berufsausbildungen oder andere nicht formale Wege des Lernens wie Pfadfinder- oder Pionierorganisationen die gleiche Funktion erfüllen.

Das Problem ist hierbei, dass informelle Strukturen, und besonders Bestechung und informelle Zahlungen, nicht nur ethische Implikationen mit sich bringen und die Professionalität sowie akademische Werte gefährden; sie verstärken auch die Skepsis gegenüber dem gesamten System, den herrschenden Eliten und dem Staat im Besonderen. Unsere Untersuchung hat das für die Ukraine deutlich gezeigt.

Ein disfunktionales Bildungswesen untergräbt die Legitimität des Staates und birgt das Risiko, den Staat von seinen Bürgern noch mehr zu entfremden. Nun, die Bürger werden irgendwie überleben und der Staat wird es auch. Man kann sich aber leicht vorstellen, dass eine glückliche Ehe besser funktionieren würde, als getrennt unter einem Dach zu leben. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Das Hauptproblem sind nicht die informellen Strukturen an sich, es sind vielmehr die Entfremdung und die fehlende Interaktion zwischen denen, die etwas zum Staat beitragen sollten, und dem Staat selbst. Sollten die politischen Eliten das nicht begreifen, werden es hoffentlich zumindest die Taxifahrer und ihre Kinder tun.

Übersetzung aus dem Englischen: Sophie Hellgardt

Fussnoten

Abel Polese ist Wissenschaftler und Entwicklungshelfer. Er verbringt seine Zeit abwechselnd in Europa, auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und in Südostasien und interessiert sich für Theorie und Praxis des Regierens und für Struktur- und Kompetenzentwicklung von Zivilgesellschaften und Forschungsorganisationen. Twitter: Externer Link: @Abiquitous

Tetiana Stepurko ist Leiterin des Masterprogramms und Hochschuldozentin an der Schule für öffentliche Gesundheit an der Nationalen Universität von Kiew – Mohyla Akademie (Ukraine) und Koordinatorin des ukrainischen Gesundheitsindex.