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Analyse: Ukraine vs. Russland vor dem Internationalen Gerichtshof: Juristische Argumente und politische Erwartungen | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Ukraine vs. Russland vor dem Internationalen Gerichtshof: Juristische Argumente und politische Erwartungen

Dr. Dmytro Koval

/ 14 Minuten zu lesen

Vor dem Internationalen Gerichtshof stehen sich die Ukraine und Russland gegenüber. Der Streitpunkt: die mutmaßliche Verletzung von zwei UN-Konventionen. Diese Analyse gibt einen Überblick über die Argumente der Parteien sowie die damit verbundenen politischen Erwartungen.

Der internationale Gerichtshof hält eine öffentliche Anhörung im Fall der Ukraine vs. Russland am 06. März 2017 in Den Haag. (© picture alliance / ANP)

Zusammenfassung

Im Fall Ukraine gegen Russland, der derzeit am Internationalen Gerichtshof (IGH) anhängig ist, geht es um mutmaßliche Verletzungen zweier UN-Konventionen – der Konvention zur Beseitigung von Rassendiskriminierung und der Konvention gegen die Finanzierung des Terrorismus. Beide Konventionen besagen, dass Streitigkeiten darüber vor dem höchsten UN-Gericht ausgetragen werden können, wenn politische Verhandlungen im Vorfeld gescheitert sind. Bei den öffentlichen Anhörungen zur Anordnung sogenannter einstweiliger Maßnahmen legten beide Parteien ihre Argumente dar, die voraussichtlich auch die Grundlage ihrer Argumentationslinien im Hauptverfahren sein werden. Bisher unterstützte der IGH teilweise die Forderung der Ukraine, einstweilige Maßnahmen gegen Rassendiskriminierung auf der Halbinsel Krim zu ergreifen, wies jedoch die Forderungen in Bezug auf die Konvention gegen die Finanzierung des Terrorismus zurück.

Einleitung

Seit dem Beginn der ukrainisch-russischen Auseinandersetzungen um die Krim und den Donbass hat die Ukraine eine Reihe von Versuchen unternommen, diese Konflikte auf eine juristische Ebene zu rücken. Bereits 2014 reichte die Ukraine beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Beschwerde gegen Russland wegen mutmaßlichen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention ein. Später wurden weitere internationale juristische Gremien eingeschaltet. Darunter der Internationale Gerichtshof (IGH) und das Ad-hoc-Schiedsgericht für Seerecht, das nach Anlage VII der UN-Seerechtskonvention (UNCLOS) einberufen wurde. Zudem wurden Schiedsgerichtsverfahren im Investitionsschutzrecht zur Anhörung von Klagen öffentlicher und privater Unternehmen der Ukraine gegen die Russische Föderation initiiert.

Solche juristischen Schritte sind eine übliche Reaktion auf staatliches Vorgehen, das von der klagenden Partei als Völkerrechtsverstoß angesehen wird. Die Klagen vor internationalen Gerichten sind Ausdruck juristischer "Interpretationskonflikte" um die Auslegung von Regeln und Prinzipien des Völkerrechts, auch "Lawfare" genannt. Obwohl die von der Ukraine an unterschiedlichen Gerichten eingereichten Klagen den Status der Halbinsel Krim und der okkupierten Territorien in den ukrainischen Gebieten Donezk und Luhansk nicht betreffen, hoffen sowohl die Ukraine als auch Russland, die internationale Rechtsprechung für die Stärkung ihrer eigenen Rechtspositionen nutzen zu können.

Im Falle der anhängigen Klage der Ukraine gegen Russland vor dem IGH, die im Januar 2017 eingereicht wurde, geht es um die mutmaßlichen Verstöße gegen zwei internationale Konventionen. Beide Konventionen, auf die sich die Ukraine beruft, lassen zu, dass Klagen ohne vorherige Zustimmung Russlands vor dem Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen verhandelt werden können: das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD) sowie das Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus (ICSFT). Erstgenannte wurde durch die UdSSR ohne einen Vorbehalt gegen Streitbeilegungsverfahren vor dem IGH ratifiziert (interessanterweise hatte gerade die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik einen solchen Vorbehalt vorgebracht). Im Falle der zweitgenannten Konvention verzichtete Russland auf die Erklärung eines Vorbehalts, die die Gerichtbarkeit des IGH ausgeschlossen hätte.

Mit der Klage gegen Russland vor dem IGH will die Ukraine erreichen, dass den auf der Krim lebenden Tataren und Ukrainern Zugang zu Bildung in ihren Muttersprachen sowie Versammlungs- und Vereinigungsfreiheiten garantiert werden. Sie sollen außerdem vor unrechtmäßigen Entführungen und Verhaftungen geschützt werden. Zudem möchte die Ukraine verhindern, dass Russland in den besetzten Gebieten Donezk und Luhansk bewaffnete Rebellen finanziert, die sie als terroristisch einstuft.

Eine Entscheidung des IGH, die den Forderungen der Ukraine (zumindest teilweise) nachkommt, so die Annahme, könnte die ukrainische Position bei den Verhandlungen mit westlichen Partnern über weitere Russlandsanktionen stärken. Außerdem könnte sie auch als Grundlage für künftige politische Verhandlungen mit der Russischen Föderation über die Konfliktbeilegung und den Rückzug Russlands aus ukrainischen Territorien dienen.

Auch Russland hofft, Vorteile aus dem Gerichtsverfahren ziehen zu können – obwohl der Prozess gegen russischen Willen initiiert wurde. So würde ein Gerichtsurteil zugunsten Russlands den Status quo der russischen Krim- und Donbasspolitik festigen. Außerdem könnte es den Weg für die Aufhebung westlicher Sanktionen ebnen. Innenpolitisch könnte die russische Regierung eine solche Entscheidung als Beweis dafür nutzen, dass die internationale Gemeinschaft die russische Sichtweise auf die Krim- und Donbass-Situation teilt – was das Ansehen der russischen Führung positiv beeinflussen würde.

Es ist wichtig an dieser Stelle festzuhalten, dass eine Abweisung der Klage durch den IGH im Hauptverfahren aufgrund unzureichender Zuständigkeit oder einer engen Auslegung der Kernbegriffe der beiden Konventionen für Russland ebenfalls vorteilhaft wäre. Die Abweisung der Klage oder die Entscheidung über die Nichtanwendbarkeit einer der beiden Konventionen wäre für Russland gleichbedeutend mit einem Sieg und würde die internationale und mediale Position der russischen Regierung stärken. Ähnlich verlief es bereits 2008, als nach dem russisch-georgischen Krieg eine Klage Georgiens gegen Russland abgewiesen wurde. Damals hielt der IGH die Voraussetzungen für ein Gerichtsverfahren für nicht gegeben, weil Georgien den von der Rassendiskriminierungskonvention vorgeschriebenen Verhandlungsweg im Vorfeld der Klage nicht eingehalten und ausgeschöpft habe. Diese Entscheidung wurde von Russland als eindeutiger Sieg interpretiert.

In ihrer Klageschrift an den IGH (vom 16. Januar 2017) forderte die Ukraine zunächst die Anordnung einstweiliger Maßnahmen gegen Russland. Der IGH entscheidet über eine solche Anordnung während des Gerichtsverfahrens und vor dem endgültigen Rechtsspruch. Ziel von einstweiligen Maßnahmen ist es, einer Schädigung der Interessen einer der beiden Streitparteien während des Prozesses vorzubeugen. Die Anordnung einstweiliger Maßnahmen könnte aus ukrainischer Perspektive schnell politische Dividenden bringen: Anstatt des jahrelangen Wartens auf ein endgültiges Urteil des IGH, könnte die Ukraine kurzfristig verhängte Maßnahmen für innenpolitische Zwecke nutzen.

Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD)

Die Klage der Ukraine auf Grundlage des Abkommens gegen Rassendiskriminierung stützt sich im Wesentlichen auf die folgenden Argumente:

  • Nach der Durchführung des international nicht anerkannten Referendums auf der Halbinsel Krim am 16. März 2014 habe Russland zur Entstehung einer Atmosphäre der Einschüchterung und Intoleranz beigetragen, die primär gegen die ukrainische und tatarische Bevölkerung gerichtet sei.

  • In dieser Atmosphäre fänden politisch und kulturell motivierte Verfolgungen statt; wichtige kulturelle Veranstaltungen würden verboten, Angehörige ethnischer Minderheiten verschwänden spurlos oder würden ermordet, es gebe illegale Durchsuchungen und Festnahmen und die Arbeit ukrainisch- und tatarischsprachiger Medien und Schulen würde verhindert.

  • Illustriert werden diese Vorwürfe anhand folgender Beispiele: 2016 sei der Medschlis des krimtatarischen Volkes [das repräsentative Organ der Krimtataren – Anm. d. Red.] unter dem Vorwurf des Extremismus verboten worden, seinen Anführern werde die Einreise auf die Halbinsel verwehrt. Schulunterricht auf Ukrainisch und Krimtatarisch werde massiv eingeschränkt: Während im Jahr 2013 noch 12.500 Schülerinnen und Schüler Ukrainisch gelernt hätten, seien es 2016 nur noch 1.000 gewesen. Zudem seien vom ukrainischen Bildungsministerium approbierte Lehrbücher in der krimtatarischen Sprache verboten worden – alternative Lehrmaterialien würden nicht angeboten. An tatarischen religiösen Schulen fänden Durchsuchungen statt – um angeblich extremistische Literatur sicherzustellen. Viele Ukrainer und Krimtataren, darunter wichtige Figuren des öffentlichen Lebens, seien entführt oder festgenommen worden; für die ukrainische und tatarische Kommunen bedeutsame Medien (z. B. die Zeitschrift "Krymska switlyzja", das "Zentrum für journalistische Recherchen" und der Fernsehkanal "ATR") würden bei ihrer Arbeit behindert. Kundgebungen an ukrainischen und krimtatarischen Festtagen seien verboten worden – wie am 201. Geburtstag des ukrainischen Schriftstellers Taras Schewtschenko, dem 70. Jahrestag der Deportation der Krimtataren ("Sürgün") und dem Internationalen Tag der Menschenrechte. Viele Ukrainer und Krimtataren seien gezwungen worden, von der Krim auf das ukrainische Festland zu fliehen: Während im Jahr 2011 noch 243.400 Tataren auf der Halbinsel gelebt hätten, wären es laut dem russischen Zensus 2014 nur noch 42.254.

  • Die Berichte und Resolutionen regionaler und internationaler Organisationen sollen die Objektivität der ukrainischen Vorwürfe untermauern. Diese Berichte dokumentieren die Vorkommnisse, auf die die Ukraine in ihrer Klageschrift verweist.

  • Die Ukraine sieht in den Einschränkungen der Rechte von Ukrainern und Krimtataren einen Verstoß gegen Artikel 2 bis 5 der Konvention gegen Rassendiskriminierung. Diese Artikel verpflichten Staaten dazu, Rassendiskriminierung zu verurteilen und zu verhindern, öffentliche Aufrufe zu Rassendiskriminierung zu verbieten und grundlegende Menschenrechte zu garantieren.

In Reaktion auf die von der ukrainischen Seite vorgelegte Klageschrift formulierte die Russische Föderation ihre Rechtsposition. In seiner Replik versuchte Russland zu demonstrieren, dass sich die Situation auf der Halbinsel seit dem von der Ukraine als "Beginn der Okkupation" bezeichneten Zeitpunkt nicht verändert habe und es keine Diskriminierung gegen Ukrainer und Tataren gebe. Zudem wollte Russland die Anhörung vor dem IGH verhindern, indem es auf prozedurale Fehler verwies, die der Ukraine bei der Initiierung des Prozesses angeblich unterlaufen seien. Im Vordergrund der russischen Argumentation steht der Vorwurf, die Ukraine wolle durch die IGH-Klage Russlands Souveränität über die Krim in Frage stellen – und nicht Russland für Verstöße gegen die Konventionen zur Verantwortung ziehen. Ohne das beidseitige Einverständnis Russlands und der Ukraine kann der IGH nicht über die Souveränität über die Krim entscheiden. Deswegen zielte Russland darauf ab, bzgl. der ukrainischen juristischen Position und politischen Motivation Skepsis zu sähen. Das internationale Team von Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtlern, das Russland vertritt, wollte dieses Ziel mithilfe folgender Argumente erreichen:

  • Vor 2014 hätte die Ukraine jahrzehntelang die krimtatarische Bevölkerung auf der Krim diskriminiert. Heute würden noch – entgegen den Aussagen der Ukraine – 277.336 Tataren, inklusive Krimtataren, und 344.515 Ukrainer auf der Halbinsel leben. Dass sich die Zahlen so deutlich von denen der Ukraine unterscheiden, liege daran, dass die Ukraine die Daten aus dem russischen Zensus falsch zitiert hätte: Während Russland sich auf die Gesamtzahl der Tataren, Krimtataren miteingerechnet, beziehe, habe die Ukraine nur die Anzahl derer Tataren, deren Muttersprache nicht Krimtatarisch war, genannt [Die offiziellen Daten sind abrufbar unter: Externer Link: http://crimea.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_ts/crimea/resources/1f72198049859f4b9205f22d12c3261e/pub-04-01.pdf – Anm. d. Red.].

  • Die Resolutionen und Berichte internationaler Organisationen könnten nicht als objektive Beweise dienen, da diese Organisationen die Krim nicht als Teil von Russland anerkennen würden.

  • Der Medschlis des krimtatarischen Volkes sei nicht das einzige repräsentative Organ der Krimtataren. Es gebe auch andere, und zwar solche, die die "Änderung des Status’ der Krim" anerkennen und unterstützen würden – etwa das Taurische Muftiat. Der Medschlis hingegen sei eine nicht registrierte, reaktionäre und gefährliche Vereinigung.

  • Trotz der ukrainischen Behauptung, ihre Bürgerinnen und Bürger auf der Krim schützen zu wollen, hätte sich die Ukraine nach dem dritten bilateralen Treffen geweigert, an weiteren Verhandlungen in Bezug auf die Klage teilzunehmen. Für die Verhandlungen selbst hätte die Ukraine nur einige Stunden statt Tage Zeit eingeräumt. Dass die Ukraine sich nicht an den UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung gewandt hätte, könnte als Beweis dafür interpretiert werden, dass die Ukraine den Streit nicht auf dem Verhandlungsweg beilegen möchte.

  • Ein Diskriminierungsmotiv, welches für die Feststellung von Rassendiskriminierung notwendig ist, sei nicht vorhanden. Die ukrainische und die tatarische Bevölkerung würde auf der Krim nicht anders behandelt als russische Bürger.

Das Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus (ICSFT)

Aus juristischer Sicht wiesen die Positionen bezüglich der Rassendiskriminierungskonvention nur geringe Unterschiede auf. Grundsätzlich ging es um divergierende Interpretationen der Faktenlage und der Situation auf der Krim. Es überrascht deshalb kaum, dass die Debatten über die Rassendiskriminierungskonvention schneller verliefen als die über die Konvention gegen Finanzierung des Terrorismus. Hier lagen nicht nur die Interpretationen der Faktenlage weit auseinander, sondern auch die Auslegungen der Konventionsnormen, die für die Bewertung der Ereignisse in der Ostukraine von unmittelbarer Bedeutung sind.

Die Kernargumente der ukrainischen Seite lauteten wie folgt:

  • Wenigstens einzelne Taten der bewaffneten Rebellen im Osten der Ukraine könnten als Terrorakte bezeichnet werden. Dazu zählten unter anderem: der Abschuss des MH-17-Passagierflugzeugs, der Beschuss von Wohngebieten in der Stadt Mariupol, der Beschuss eines Busses voller Zivilisten in der Nähe der Stadt Wolnowacha sowie Bombenanschläge in außerhalb der Konfliktzone liegenden Städten (Charkiw, Odessa und andere).

  • Die Russische Föderation unterstütze die Rebellen mit Waffen und Munition sowie finanziell. Das sei mit Terrorismusfinanzierung gleichzusetzen. Das ICSFT fordere Staaten zwar dazu auf, gegen Terrorismusfinanzierung vorzugehen, sehe aber keine Strafe für die unmittelbare Finanzierung von Terrorgruppen durch die Staaten selbst vor. Eine solche Sichtweise sei paradox – dabei stützt sich die Ukraine auf das IGH-Urteil zum Völkermord in Bosnien von 2007 (Fall Bosnien und Herzegowina gegen das damalige Jugoslawien). Russland solle nicht nur zur Rechenschaft gezogen werden für Verstöße gegen seine Verpflichtung, Terrorismusfinanzierung zu bekämpfen, sondern auch für die Finanzierung des Terrorismus.

  • Dass internationale Akteure die Kampfhandlungen in der Ostukraine als bewaffneten Konflikt einstufen, schließe die Anwendung der Terrorismusfinanzierungkonvention nicht aus, denn es könnten zwei Rechtsregime parallel angewandt werden: das Humanitäre Völkerrecht (Kriegsrecht) sowie die Normen der Konvention zur Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung. Davon sei auch explizit in Artikel 2 Abs. 1 der Konvention die Rede, der Terrorismus u. a. als eine Handlung definiert, "die den Tod oder eine schwere Körperverletzung einer Zivilperson oder einer anderen Person, die in einem bewaffneten Konflikt nicht aktiv an den Feindseligkeiten teilnimmt, herbeiführen soll". Damit sei die Anwendung der Konvention in bello ("im Kriege") vorgesehen.

  • Die Ukraine verwendet einen weiten Terrorismusbegriff: Der Vorsatz für einen terroristischen Akt müsse nicht direkt vorhanden sein, um einen Terrorakt als solchen einzustufen. So würde im Fall des Abschusses von MH-17 die Tatsache genügen, dass mit schweren Waffen in einer Zone ziviler Luftfahrt geschossen worden sei, um unter die Terrorismusdefinition des Montreal-Abkommens zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt zu fallen. Der im Montreal-Abkommen verwendete Terrorismusbegriff sei Teil der ICSFT-Terrorismusdefinition.

Die Russische Föderation widerspricht den Punkten der Ukraine und argumentiert:

  • Im Osten der Ukraine finde ein bewaffneter Konflikt statt – dies hätten internationale Organisationen mehrfach betont. Wenn man sich daran orientiere, müssten die Genfer Konventionen angewandt werden – nicht die Terrorismusfinanzierungkonvention. Die Verwendung der Begriffe "Terrorismus" und "Terroristen" durch die Ukraine seien der Versuch, die bewaffneten Rebellen zu stigmatisieren. Zudem resultierten laut Berichten von internationalen Organisationen die meisten zivilen Opfer aus wahllosem Artilleriebeschuss, der zuvor noch nie als Terrorakt qualifiziert worden sei.

  • Die Terrorismusfinanzierungkonvention enthalte lediglich die Forderung, gegen die Finanzierung von Terrorismus durch Privat- und Rechtspersonen vorzugehen. Hier verweist Russland ebenfalls auf das IGH-Urteil im Fall Bosnien und Herzegowina gegen Jugoslawien, präsentiert aber eine andere Interpretation bzgl. des Rechtsspruchs und dessen (Nicht-)Anwendbarkeit auf den ukrainisch-russischen Rechtsstreit.

  • Für die Qualifizierung einer Handlung als "terroristisch" müsse ein direkter Vorsatz vorliegen. Dafür müsste nachgewiesen werden, dass die Handlungen mit dem Vorsatz durchgeführt würden, den Tod oder schwere Körperverletzungen von Zivilpersonen herbeizuführen, eine Bevölkerungsgruppe einzuschüchtern oder eine Regierung beziehungsweise eine internationale Organisation zum Handeln zu nötigen. Die Ukraine habe die Existenz solcher Motive nicht beweisen können.

  • Die Finanzierung von Terrorismus bestünde laut Artikel 2 Abs. 1 in der Bereitstellung von finanziellen Mitteln in der Absicht oder im Wissen, dass diese zur Begehung von den in der Konvention gelisteten Taten verwendet werden sollen. Das bedeutet, dass auch hier ein Vorsatz derjenigen, die solche Mittel zur Verfügung stellten, nachgewiesen werden müsse. Auch das sei der Ukraine nicht gelungen.

  • Nichtsdestotrotz sei Russland bereit, mit der ukrainischen Seite zusammenzuarbeiten und antworte regelmäßig auf Kooperationsanfragen bei Untersuchungen von Straftaten. Im Gegensatz dazu habe die Ukraine während der vorausgegangenen Verhandlungen keine Kooperationsbereitschaft gezeigt. Das könne als Unwillen interpretiert werden, die Streitigkeiten über den Verhandlungsweg bona fide (in gutem Glauben) beizulegen. Darüber hinaus könnten laut Artikel 24 die Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Konvention auf Verlangen einer der Streitparteien an ein Schiedsgericht überwiesen werden. Dass die Ukraine in Bezug auf das Schiedsverfahren keinen Willen zur Kooperation gezeigt habe, könne als Beweis dafür dienen, dass sie an der Beilegung des Streits auf dem Verhandlungsweg kein ernsthaftes Interesse gehabt habe.

Die Anordnung des IGH: Wessen Argumente waren überzeugender?

In seiner Anordnung einstweiliger Maßnahmen vom April 2017 stellte der IGH prima facie (bis auf Widerruf) seine Zuständigkeit in Bezug auf beide Konventionen fest. Das Gericht bestätigte einstweilen, dass die Antidiskriminierungskonvention und die Terrorismusfinanzierungkonvention im ukrainisch-russischen Fall anwendbar seien. Zudem sah der IGH keine prozeduralen Hindernisse zur Anhörung des Falls. Die Abwesenheit einer Klage im UN-Antidiskriminierungsausschuss, langwieriger Verhandlungen oder eines Schiedsverfahrens würde ein Gerichtsverfahren im IGH nicht ausschließen.

Der IGH unterstützte im Großen und Ganzen die Argumentation der Ukraine in Bezug auf die Rassendiskriminierungskonvention und ordnete einstweilige Maßnahmen an: Russland soll Verstöße gegen die Versammlungsfreiheit der Krimtaren, einschließlich des Medschlis’, einstellen und das Recht auf Unterricht in ukrainischer Sprache garantieren. Im Falle eines Verstoßes gegen die Anordnung einstweiliger Maßnahmen stünde der Ukraine ein Recht auf Reparationen zu. Zudem würde in der finalen Entscheidung, wie sie auch ausfallen würde, auf Verstöße Russlands gegen die Anordnung einstweiliger Maßnahmen hingewiesen. Weder der IGH noch die Ukraine verfügen jedoch über harte Druckmittel, um Russland zur Erfüllung der angeordneten Maßnahmen zu zwingen.

Gleichzeitig wies der IGH die ukrainische Forderung nach einstweiligen Maßnahmen in Bezug auf die Konvention gegen Terrorismusfinanzierung zurück. Das Gericht merkte an, dass es der Ukraine nicht gelungen sei, den Vorsatz oder die Kenntnis darüber nachzuweisen, dass die den bewaffneten Kämpfern zur Verfügung gestellten Mittel zur Durchführung von Terroranschlägen verwendet werden sollten. Es seien auch nur unzureichende Beweise vorgelegt worden, um die Angriffe auf Zivilisten als Einschüchterung der Bevölkerung oder Nötigung einer Regierung oder internationalen Organisation zu einem Handeln oder Unterlassen einzuordnen.

Der ukrainischen Regierung sowie internationalen Organisationen zufolge, habe sich Russland nicht an die vom IGH angeordneten einstweiligen Maßnahmen gehalten. Im Juni 2018 reichte die Ukraine ihre Hauptklage ein; am 12. September 2018 stellte Russland jedoch die Zuständigkeit des IGH und die Zulässigkeit des Verfahrens an sich in Frage. Nun kann die Ukraine bis zum 14. Januar 2019 Einspruch einlegen. Über den Fortgang des Verfahrens wird danach entschieden.

Mit Sicherheit lässt sich derzeit nur sagen, dass der Prozess wohl voraussichtlich Jahre dauern wird. In Bezug auf die Positionen der Streitparteien lässt sich anmerken, dass in der Frage der Rassendiskriminierung die Argumente der Ukraine stärker erscheinen, wobei in Bezug auf die Konvention gegen Terrorismusfinanzierung Russlands Argumentation überzeugender wirkt. Ein solches "Kräfteverhältnis" impliziert, dass beide Seiten zumindest schon jetzt teilweise die politischen Ziele erreichen konnten, die sie sich vor Beginn des Prozesses gesetzt hatten.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Evgeniya Bakalova

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Fussnoten

Dr. Dmytro Koval ist Dozent am Lehrstuhl für Völker- und Europarecht der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie. 2014 promovierte er im Fach Rechtswissenschaften an der Nationalen Juristischen Akademie Odessa. Seit 2018 ist er als Programmkoordinator und Rechtsberater für Democracy Reporting International tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Humanitäres Völkerrecht, Internationales Strafrecht und Menschenrechte