Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Analyse: Poroschenko und der "Tomos-Effekt" | Ukraine-Analysen | bpb.de

Ukraine Der Globale Süden und der Krieg (24.11.2023) Analyse: Der Blick aus dem Süden: Lateinamerikanische Perspektiven auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Krieg gegen die Ukraine und Afrika: Warum die Afrikanische Union zwar ambitioniert, aber gespalten ist Analyse: Eine Kritik der zivilisatorischen Kriegsdiplomatie der Ukraine im Globalen Süden Umfragen: Umfragedaten: Der Globale Süden und Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Abstimmungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Chronik: 16. bis 27. Oktober 2023 Zwischen Resilienz und Trauma: Mentale Gesundheit (02.11.2023) Analyse: Mentale Gesundheit in Zeiten des Krieges Karte: Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur der Ukraine Analyse: Den Herausforderungen für die psychische Gesundheit ukrainischer Veteran:innen begegnen Umfragen: Umfragen zur mentalen Gesundheit Statistik: Mentale Gesundheit: Die Ukraine im internationalen Vergleich Chronik: 1. bis 15. Oktober 2023 Ukraine-Krieg in deutschen Medien (05.10.2023) Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Analyse: Die Qualität der Medienberichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Aggression gegenüber der Ukraine in den deutschen Talkshows 2013–2023. Eine empirische Analyse der Studiogäste Chronik: 1. bis 30. September 2023 Ökologische Kriegsfolgen / Kachowka-Staudamm (19.09.2023) Analyse: Die ökologischen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Analyse: Ökozid: Die katastrophalen Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms Dokumentation: Auswahl kriegsbedingter Umweltschäden seit Beginn der großangelegten russischen Invasion bis zur Zerstörung des Kachowka-Staudamms Statistik: Statistiken zu Umweltschäden Zivilgesellschaft / Lokale Selbstverwaltung und Resilienz (14.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause – und eine Ankündigung Analyse: Die neuen Facetten der ukrainischen Zivilgesellschaft Statistik: Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft Analyse: Der Beitrag lokaler Selbstverwaltungsbehörden zur demokratischen Resilienz der Ukraine Wissenschaft im Krieg (27.06.2023) Kommentar: Zum Zustand der ukrainischen Wissenschaft in Zeiten des Krieges Kommentar: Ein Brief aus Charkiw: Ein ukrainisches Wissenschaftszentrum in Kriegszeiten Kommentar: Warum die "Russian Studies" im Westen versagt haben, Aufschluss über Russland und die Ukraine zu liefern Kommentar: Mehr Öffentlichkeit wagen. Ein Erfahrungsbericht Statistik: Auswirkungen des Krieges auf Forschung und Wissenschaft der Ukraine Innenpolitik / Eliten (26.05.2023) Analyse: Zwischen Kriegsrecht und Reformen. Die innenpolitische Entwicklung der Ukraine Analyse: Die politischen Eliten der Ukraine im Wandel Statistik: Wandel der politischen Elite in der Ukraine im Vergleich Chronik: 5. April bis 3. Mai 2023 Sprache in Zeiten des Krieges (10.05.2023) Analyse: Die Ukrainer sprechen jetzt hauptsächlich Ukrainisch – sagen sie Analyse: Was motiviert Ukrainer:innen, vermehrt Ukrainisch zu sprechen? Analyse: Surschyk in der Ukraine: zwischen Sprachideologie und Usus Chronik: 08. März bis 4. April 2023 Sozialpolitik (27.04.2023) Analyse: Das Sozialsystem in der Ukraine: Was ist nötig, damit es unter der schweren Last des Krieges besteht? Analyse: Die hohen Kosten des Krieges: Wie Russlands Krieg gegen die Ukraine die Armut verschärft Chronik: 22. Februar bis 7. März 2023 Besatzungsregime / Wiedereingliederung des Donbas (27.03.2023) Analyse: Etablierungsformen russischer Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine: Wege und Gesichter der Okkupation Karte: Besetzte Gebiete Dokumentation: Human Rights Watch: Torture, Disappearances in Occupied South. Apparent War Crimes by Russian Forces in Kherson, Zaporizhzhia Regions (Ausschnitt) Dokumentation: War and Annexation. The "People’s Republics" of eastern Ukraine in 2022. Annual Report (Ausschnitt) Dokumentation: Terror, disappearances and mass deportation Dokumentation: Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gegen Wladimir Putin wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland Analyse: Die Wiedereingliederung des Donbas nach dem Krieg: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung Chronik 11. bis 21. Februar 2023 Internationaler Frauentag, Feminismus und Krieg (13.03.2023) Analyse: 8. März, Feminismus und Krieg in der Ukraine: Neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten Umfragen: Umfragen zum Internationalen Frauentag Interview: "Der Wiederaufbau braucht einen geschlechtersensiblen Ansatz" Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Korruptionsbekämpfung (08.03.2023) Analyse: Der innere Kampf: Korruption und Korruptionsbekämpfung als Hürde und Gradmesser für den EU-Beitritt der Ukraine Dokumentation: Statistiken und Umfragen zu Korruption Analyse: Reformen, Korruption und gesellschaftliches Engagement Chronik: 1. bis 10. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Jahrestag der Invasion (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg hat die Profile der EU und der USA in der Ukraine gefestigt Kommentar: Wie der Krieg die ukrainische Gesellschaft stabilisiert hat Kommentar: Die existenzielle Frage "Sein oder Nichtsein?" hat die Ukraine klar beantwortet Kommentar: Wie und warum die Ukraine neu aufgebaut werden sollte Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Chronik: 17. bis 31. Januar 2023 Meinungsumfragen im Krieg (15.02.2023) Kommentar: Stimmen die Ergebnisse von Umfragen, die während des Krieges durchgeführt werden? Kommentar: Vier Fragen zu Umfragen während eines umfassenden Krieges am Beispiel von Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? Kommentar: Meinungsforschung während des Krieges: anstrengend, schwierig, gefährlich, aber interessant Kommentar: Quantitative Meinungsforschung in der Ukraine zu Kriegszeiten: Erfahrungen von Info Sapiens 2022 Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine unter Kriegsbedingungen Kommentar: Politisches Vertrauen als Faktor des Zusammenhalts im Krieg Kommentar: Welche Argumente überzeugen Deutsche und Dänen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen? Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: Chronik 9. bis 16. Januar 2023 Ländliche Gemeinden / Landnutzungsänderung (19.01.2023) Analyse: Ländliche Gemeinden und europäische Integration der Ukraine: Entwicklungspolitische Aspekte Analyse: Monitoring der Landnutzungsänderung in der Ukraine am Beispiel der Region Schytomyr Chronik: 26. September bis 8. Januar 2023 Weitere Angebote der bpb Redaktion

Analyse: Poroschenko und der "Tomos-Effekt"

Nikolay Mitrokhin

/ 9 Minuten zu lesen

Die Ergebnisse der vom Autor durchgeführten Feldforschung zeigen, dass die Reaktionen aus der Bevölkerung auf die neue Staatskirche verhaltener ausfallen als erhofft. Der Tomos als Wahlkampfstrategie wird Poroschenko nicht die Unterstützung aus der breiten Bevölkerung sichern.

Eine Anzeigetafel mit dem Abbild von Metropolit Epiphanius und Petro Poroschenko sowie dem Schriftzug "Tomos für die Ukraine" im Januar 2019 in Kiew. (© picture alliance/NurPhoto)

Zusammenfassung

Die Gründung und Anerkennung der Orthodoxen Kirche der Ukraine durch das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel ging nicht zuletzt auf den persönlichen Einsatz von Präsident Petro Poroschenko zurück. Poroschenko, der in der Wählergunst lange Zeit weit zurücklag, erhoffte sich durch den "Tomos-Effekt" seine Popularität im Wahlkampf steigern zu können – was nur zum Teil gelang. Der Wechsel zur neuen Kirche verläuft bisher schleppend und zum Teil unter Druck der lokalen Behörden, denn viele aktive Gläubige und ihr Klerus stehen der neugegründeten Orthodoxen Kirche der Ukraine skeptisch gegenüber.

Einleitung

Nachdem Präsident Petro Poroschenko im vergangenen Jahr in den Wählerumfragen stets weit zurücklag, konnte er sein Rating ab Dezember 2018 wieder deutlich verbessern. Mit einer Zustimmung von rund 16–18 Prozent liegt er aktuell in mehreren Umfragen auf Rang zwei und würde damit voraussichtlich den zweiten Wahlgang erreichen.

Zu den Hauptgründen für Poroschenkos Comeback zählt die Gründung der neuen Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) am 15. Dezember 2018, die Anfang Januar vom Patriarchen von Konstantinopel offiziell anerkannt wurde. Poroschenko und das geistliche Oberhaupt der neuen Kirche, Metropolit Epiphanius, tourten daraufhin durch das Land und präsentierten der Öffentlichkeit das Tomos – das Dokument, das die Anerkennung der OKU offiziell bestätigt. Anfang Februar wurde die Tour jedoch abrupt beendet, und die zuvor allgegenwärtigen Plakate mit Poroschenko und dem Tomos waren plötzlich wieder aus dem Straßenbild verschwunden.

Die Gründung der OKU hat Poroschenko zwar wieder mehr Zustimmung verschafft, ihn allerdings nicht wie erhofft an die Spitze im Präsidentschaftsrennen gebracht. Er liegt noch immer deutlich hinter dem beliebten Komiker Wolodymyr Selenskyj, der Poroschenkos neuen Patriotismus – die Schaffung einer geeinten ukrainischen Nation um die neue Kirche herum – verspottet.

Historische Entwicklung oder Wahlkampftrick?

Obwohl schon seit Anfang der 1990er Jahre über die Schaffung einer unabhängigen nationalen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche diskutiert wurde, kam es nie zur Gründung. Das lag vor allem am Widerstand der größten orthodoxen Kirche in der Ukraine – der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK-MP). Und zwei weitere orthodoxe Kirchen, die zu Beginn der 1990er entstanden, die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats (UOK-KP) und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (UOAK), waren zu schwach, um sich durchzusetzen.

Und selbst nachdem Priester des UOK-MP die russische Aggression im Donbas und in der Südukraine unterstützt hatten, waren Anfang 2018 nur etwa ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung für die Schaffung einer unabhängigen ukrainisch-orthodoxen Kirche.

Im April 2018 aber änderte sich die Situation, als Poroschenko seine Kampagne zur Gründung einer einigen nationalen Kirche startete – symbolisiert durch sein Vorhaben, den Tomos über die Autokephalie zu erhalten. Diese Kampagne, die fast alle ukrainischen Politiker hinter sich vereinte, schuf einen starken Propagandaeffekt, und Ende 2018 schienen viele Ukrainer von der Notwendigkeit einer "vereinten Landeskirche" überzeugt, auch wenn diese Überzeugung nur kurze Zeit anhielt.

Die Befürworter der neuen Kirche stützten sich auf Daten des Razumkow-Zentrums, das nach Ausbruch des russisch-ukrainischen Konflikts einen starken Anstieg der Anhängerzahlen der UOK-KP (29 Prozent der Befragten) im Vergleich zu den Anhängern der UOK-MP (13 Prozent) zeigte (siehe dazu die Grafiken und Tabellen in den Ukraine-Analysen 207, S. 6–8, Externer Link: http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen207.pdf).

Meine Feldforschung in der Ukraine während der letzten vier Jahre zeigt jedoch ein etwas anderes Bild – das eine Erklärung liefern kann, weshalb der Tomos-Effekt das Rating von Poroschenko nicht nachhaltig verbessern konnte.

Kirchgänger in der Ukraine

Meine Feldforschung in der Zentral- und Südukraine hat gezeigt, dass es nur sehr wenige aktive Kirchengänger im Land gibt. In weiten Teilen des Landes (außer in der Westukraine) machen aktive Kirchengänger nur etwa ein Prozent der Stadtbevölkerung und zwei Prozent der Bevölkerung in den ländlichen Gebieten aus.

Nach Angaben des Razumkow-Zentrums gaben 19,2 Prozent der Bevölkerung in der Zentralukraine an, an einem Sonntag im April 2018 eine Kirche besucht zu haben (der landesweite Durchschnitt lag bei 23 Prozent). Wie meine Untersuchungen belegen, besuchten in der Praxis im Juni 2018 jedoch nicht mehr als 0,5 – 0,7 Prozent der Kiewer Bevölkerung einen Gottesdienst. So nahmen im Kiewer Stadtteil Obolon, in dem mehr als 200.000 Einwohner leben, etwa 550 Personen an den Gottesdiensten der fünf Kirchen der UOK-MP teil und 50 Menschen am Gottesdienst der einzigen Kirche der UOK-KP in diesem Stadtteil. Die Zahl der Kirchengänger in den ländlichen Gebieten von Kiew und in der Region Winnyzja war etwas größer, machte aber auch da nur etwa ein Prozent der Bevölkerung aus.

In den meisten Regionen der Ukraine verfügen die orthodoxen Kirchen nicht über die Kapazitäten, um mehr als zwei Prozent der Bevölkerung gleichzeitig aufzunehmen. In der Westukraine, in der 22 Prozent der Bevölkerung leben, gibt es mehr Kapazitäten – dort können die orthodoxen Kirchen theoretisch etwa 10–15 Prozent der lokalen Bevölkerung aufnehmen –, was aber immer noch weniger wäre als die Zahl der Kirchgänger aus der Umfrage des Razumkow-Zentrums.

Die aktiven Kirchgänger (diejenigen, die mindestens zweimal im Monat an Gottesdiensten teilnehmen) sind entsprechend der in der Feldforschung erhobenen Daten zahlenmäßig eine kaum bedeutende Minderheit. In den Meinungsumfragen sind sie daher auch nur am Rande vertreten, was insofern eine Rolle spielt, als dass sich ihre Ansichten in der Regel von denen des Großteils der gelegentlichen Kirchenbesucher unterscheiden.

So sind die aktiven Kirchenbesucher mit den religiösen Ansichten und der Kirchenpraxis der UOK-MP zufrieden, einschließlich der besonderen Nähe zu Russland, und lassen sich weniger vom ukrainischen Nationalismus beeinflussen. Im Großen und Ganzen unterstützen sie daher Poroschenkos Initiative für eine neue Kirche nicht.

Wenn es aus der orthodoxen Glaubensgemeinschaft somit kaum Forderungen nach einer vereinigten nationalen Kirche gibt, ist es sehr wahrscheinlich, dass Poroschenkos Autokephalie-Kampagne Teil seiner Wahlkampfstrategie ist, deren Kernslogan lautet: "Armee. Sprache. Glaube".

Folgen der Autokephalie

Eine "Vereinigte Nationale Kirche", die die Mehrheit der orthodoxen Gläubigen in der Ukraine vereint, ist nicht gegründet worden. Weder die Mehrheit der aktiven orthodoxen Gläubigen noch ihr Klerus wollten eine neue Kirche. Persönlichen Interviews und Diskussionen in den sozialen Netzwerken zu Folge, ist die neue Kirche für viele orthodoxe Gläubige nicht attraktiv.

Die OKU entstand de facto als Zusammenschluss zweier kleinerer ukrainischer orthodoxer Kirchen, der UOK-KP und der UAOK. Die religiöse Hierarchie der neuen Kirche setzt sich aus Geistlichen dieser beiden Kirchen zusammen und das Oberhaupt der neuen Kirche, Metropolit Epiphanius, gilt als rechte Hand von Patriarch Filaret, dem Oberhaupt des Kiewer Patriarchats. Bisher weigern sich die anderen orthodoxen Kirchen – mit Ausnahme des Patriarchats von Konstantinopel – die OKU anzuerkennen.

Im Gründungsrat der neuen Kirche saßen nur zwei von 83 möglichen "Überläufern" aus der UOK-MP. Auch haben sich bisher nur wenige Gemeinden des OUK-MP der neuen Kirche angeschlossen: In der Hauptstadt Kiew etwa mit ihrer generell patriotischen Bevölkerung wechselten lediglich drei von 270 Gemeinden zur UOK über. Insgesamt sind (mit Stand vom 21. März 2019) 486 Gemeinden gewechselt. Eine sehr geringe Zahl angesichts der mehr als 12.500 Gemeinden, welche die UOK-MP in der Ukraine umfasst.

Der Eingemeindungsprozess – bei dem es nicht nur darum geht, dass Gemeindemitglieder wechseln, sondern auch darum, das Kircheneigentum der bestehenden Gemeinden zu überführen – birgt viel Konfliktpotenzial und führte zu einer offenen Konfrontation zwischen dem Staat und den lokalen Behörden einerseits und den aktiven Kirchengängern und Geistlichen andererseits. In ländlichen Gebieten werden Entscheidungen über die Überführung von Gemeinden der UOK-MP in die neue Kirchenstruktur oft auf Gemeindeversammlungen unter Federführung der lokalen Behörden getroffen. In vielen Fällen weigern sich Priester und zumindest Teile der Gemeindemitglieder, den Beschluss der Behörden zu akzeptieren. Im Ergebnis bestehen dann ihre Gemeinden zwar fort, aber ihnen wird ihr Kirchenbesitz entzogen bzw. ihre Ansprüche darauf.

Bis Mitte März 2019 waren etwa vier Prozent aller Gemeinden der UOK-MP offiziell in die neue Kirche übergewechselt. Es ist kein Zufall, dass die Mehrheit dieser Gemeinden in Regionen liegt, in denen Poroschenko und seine Partei die lokalen Verwaltungen kontrollieren: in Winnyzja, Wolhynien, Chmelnyzkyj und Tscherkassy. In der Ost- und Südukraine, im äußersten Westen (Transkarpatien) sowie in Kiew (inkl. Umland) gibt es hingegen nur wenige Wechsel.

Angespannte Situation in Chmelnyzkyj: Wechsel unter Druck

In der zentralukrainischen Oblast Chmelnyzkyj, wo ich im Februar 2019 eine Feldforschung durchgeführt habe, wechselten im Januar und Februar etwa 35 der 970 Gemeinden in die neue Kirche – fast alle aus denselben drei Bezirken. Allerdings bestätigten nur ein Dutzend Priester der betroffenen Gemeinden diesen Wechsel offiziell. Die meisten dieser "Übergänge" erfolgten offensichtlich auf Druck der lokalen Behörden. In einigen Fällen wurden die Treffen, bei denen über den Wechsel entschieden wurde, auf Druck und unter Beteiligung von Aktivisten der neonazistischen Jugendorganisation "Phoenix" und ihrem Leiter Wiktor Burlik durchgeführt, der auch als Abgeordneter im Stadtrat von Chmelnyzkyj sitzt.

Am 5. Februar war ich einer Gemeinde im Dorf Stawnyzja in der Region Chmelnyzkyj. Dies ist eine der drei Siedlungen, die zur Gemeinde Medschybisch gehören. In allen drei gibt es Kirchen der UOK-MP. In Medschybisch gibt es auch eine Kirche der UOK-KP. Dennoch beschloss der Leiter der Gemeinde, die Kirche in Stawnyzja in die Obhut der neuen Kirche zu übertragen. Auf der Versammlung, die diesen Entschluss fällte, waren unter den ca. 135 Teilnehmern auch Mitglieder von "Phoenix", die eigens für die Abstimmung angereist waren. Der Pfarrer der Kirche, unterstützt vom geistlichen Oberhaupt der Gemeinde und vom Dorfvorsteher, weigerte sich jedoch, den Schlüssel für die Kirche zu übereignen. Er und seine Mitstreiter wandten sich an die Polizei und schrieben einen Protestbrief, damit eine neue Abstimmung durchgeführt wird. Dennoch wurde die Gemeinde sofort in die Gemeinde-Liste der OKU aufgenommen. Als ich noch vor Ort war, stand die Kirche de facto noch unter Kontrolle der UOK-MP. Eine Woche später wurde sie von der Polizei versiegelt und, wenn die Berichte der beiden Konfliktparteien zutreffen, schließlich doch an die OKU überführt.

Jedoch erfolgen längst nicht alle Zugehörigkeitswechsel unter Druck. Die Priester in der Region Chmelnyzkyj erklären, dass sich auch aktive Gemeindemitglieder für den Wechsel aussprechen. Und es gebe auch Priester, die von sich aus die Initiative ergreifen und mit ihren Gemeinden zur neuen Kirche wechseln.

So z. B. auch in Chmelnyzkyjs Nachbarregion Riwne. Nach Angaben des Bischofs und der Nonnen mehrerer Klöster, die ich befragt habe, gab es dort keinen Druck von Gemeindemitgliedern. In einem der Bezirke der Oblast handelte der Bezirksvorsteher jedoch gegen die UOK-MP und unterstellte mehrere Gemeinden der OKU. Aus der Region Riwne ist zudem bekannt, dass die lokale Abteilung des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU) mehrfach Priester zur Befragung einberief und Durchsuchungen durchgeführte, vermutlich um Druck auszuüben.

Fazit

Die Ukraine hat durch den Tomos nicht so sehr eine unabhängige ukrainische Kirche erhalten, sondern eher eine offizielle Staatskirche. Die Behörden führten einen "religiösen Nationalismus" ein, der im Widerspruch zum Pluralismus und zur Wahrung der Religionsfreiheit steht, die in der ukrainischen Verfassung verankert sind. Da die OKU bisher nicht in der Lage war, die Mehrheit der orthodoxen Gläubigen unter ihrer Schirmherrschaft zu versammeln, erhielt sie vom Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel nicht den Status eines "Patriarchats" und wird bisher nur in den Augen Konstantinopels als legitim (kanonisch) anerkannt, nicht jedoch von den anderen orthodoxen Kirchen.

Während die UOK-KP in der Vergangenheit eigenständig agieren konnte – wie z. B. während des Maidans, als sie die Oppositionsbewegung gegen Janukowytsch unterstützte –, ist die OKU weitgehend vom Staat abhängig, der eine Schlüsselrolle bei ihrer Schaffung spielte: Erstens sorgte Präsident Poroschenko für den erfolgreichen Abschluss der Gespräche mit Konstantinopel. Zweitens geht vom Staat eine systematische Unterdrückung der UOK-MP aus, und zwar sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene. Es sind politische Verbündete von Poroschenko, die die Wechsel der Gemeinden vorantreiben. Der SBU, der dem Präsidenten direkt untersteht, übt gezielt Druck auf Kritiker der Zugehörigkeitswechsel aus. Gleichzeitig bleiben die Befürworter der OKU, die aktiv und in großem Umfang zum Hass auf die "Moskauer Geistlichen" aufrufen, ungestraft.

Anstatt die Nation zu einen, führte Poroschenkos Vorgehen zu einer neuen Konfrontation, von der vor allem die ländlichen Gemeinden betroffen sind. Während die Erlangung des Tomos vielleicht kurzzeitig patriotische Wähler zu Gunsten Poroschenkos mobilisiert hat, reicht die Errichtung der neuen Staatskirche nicht aus, um sich die Unterstützung der breiten Bevölkerung zu sichern. Denn die meisten Bürger sind nicht religiös und interessieren sich mehr für akute Fragen des täglichen Lebens, die von Poroschenkos Herausforderer Selenskyj angesprochen werden. Und selbst, wenn sie aktive orthodoxe Gläubige sind, neigen sie eher dazu, sich gegen Poroschenkos neue Kirche zu stellen.

Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Eduard Klein

Bibliographie:





Fussnoten

Dr. Nikolay Mitrokhin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und forscht unter anderem zur Russisch-Orthodoxen Kirche und zu gesellschaftlichen Bewegungen in der späten Sowjetunion. Sein aktuelles Forschungsprojekt untersucht ideologische Gruppen der Russisch-Orthodoxen Kirche in Russland und der Ukraine.