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Analyse: Sozialpolitik in der Ukraine: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Sozialpolitik in der Ukraine: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Oleksandra Betliy Kiew) Von Oleksandra Betliy (Institute for Economic Research and Policy Consulting

/ 9 Minuten zu lesen

Durch die Erhöhung des Mindestlohns, Nebenkostenzuschüsse und Veränderungen in der Rentenpolitik wurde in den vergangenen Jahren versucht, das ukrainische Sozialhilfesystem auszubauen. Mit Blick auf die Zukunft scheint die Förderung des Wirtschaftswachstums auch zur sozialen Sicherheit der Bevölkerung beizutragen.

Ein älterer Mann mit Nordic Walking Stöcken in einem Park in Kiew. Die soziale Sicherheit der Bevölkerung bleibt ein wichtiger Punkt auf der Agenda der ukrainischen Politik. (© picture alliance/NurPhoto)

Zusammenfassung

Aufgrund des Kriegs in der Ostukraine, der Besetzung eines Teils der Industriegebiete im Donbas durch von Russland unterstützte Separatisten und aufgrund der Annexion der Krim durch Russland kam es in der Ukraine in den Jahren 2014 und 2015 zu einem Wirtschaftsabschwung. Der daraus resultierende Wertverlust der Hrywnja und die Notwendigkeit, die Gebühren für öffentliche Versorgungsleistungen zu erhöhen, gingen mit einer hohen Inflation einher. So ging die Kaufkraft der Haushalte stark zurück, während die Regierung den Weg der Haushaltskonsolidierung einschlagen musste. Der fehlende finanzielle Spielraum erlaubte es der Regierung zunächst nicht, das soziale Sicherungsnetz maßgeblich zu verbessern, abgesehen von Zuschüssen zu den Nebenkosten. Die in den letzten Jahren durchgeführten Strukturreformen und die umsichtige Finanzpolitik sicherten das Wirtschaftswachstum in der Ukraine, was den finanziellen Spielraum für eine stärkere Hinwendung zur Sozialpolitik schuf. Auch die Weiterentwicklung des Humankapitals wurde – angesichts des Missverhältnisses zwischen vorhandenen und verlangten Qualifikationen, der geringen Arbeitsproduktivität und der vergleichsweise starken Abwanderung von Arbeitsmigranten – zu einer der Prioritäten der Regierung. So hat sie mit der Durchführung einer Gesundheits- und Bildungsreform begonnen, eine Rentenreform umgesetzt und die soziale Absicherung von Familien mit Kindern verbessert.

Sozialpolitik auf der politischen Agenda

Die Ukraine hatte in den letzten Jahren viele Herausforderungen zu bewältigen: den Krieg und den Verlust eines Teils des Staatsgebiets im Osten der Ukraine, die Annexion der Krim durch Russland, den daraus resultierenden Wirtschaftsabschwung in den Jahren 2014 und 2015 sowie die Notwendigkeit, eine Reihe von Strukturreformen durchzuführen. Die Kampfhandlungen im Osten der Ukraine und die Annexion der Krim durch Russland führten zudem zu einem starken Anstieg der Zahl der Binnenflüchtlinge. Der wirtschaftliche Abschwung, die hohe Inflation und der Wertverlust der Hrywnja gingen mit einem Rückgang der Kaufkraft der Ukrainer einher. Gleichzeitig waren die politischen Reaktionsmöglichkeiten auf diese Herausforderungen durch den eingeschränkten finanziellen Spielraum häufig begrenzt, da die Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit erhöht werden mussten (bis auf 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts).

Soziale Sicherheit wird in den Strategiepapieren der Ukraine als eine der Prioritäten bezeichnet. In der im Jahr 2015 vom Präsidenten verabschiedeten Strategie "Ukraine 2020" wurde die Reform des sozialen Sicherungssystems als eine von 62 notwendigen Reformen genannt, allerdings nicht in die Top Ten aufgenommen. In der Einleitung des Strategiepapiers steht jedoch, dass ohne eine angemessene soziale Absicherung der von Armut bedrohten Bevölkerung auch Sicherheit nicht erreicht werden könne.

Im Jahr 2017 verabschiedete die Regierung einen mittelfristigen Aktionsplan bis 2020 und definierte den sozialen Schutz der Bevölkerung in Ziel Nummer 3 ("Entwicklung des Humankapitals") als Priorität (vgl. Externer Link: https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/275-2017-%D1%80). Besonders ein effizientes und wirksames Sozialhilfesystem soll soziale Inklusion und eine Verringerung der Armut gewährleisten. Die Rentenreform wurde als wesentliche Maßnahme zur Steigerung des Wohlergehens der Rentner definiert.

Der Bereich Sozialpolitik kommt auch im Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union vor, insbesondere im Kapitel "Cooperation on employment, social policy and equal opportunities" (Titel V, Kapitel 21). Die Ukraine und die EU vereinbarten, den Dialog und die Zusammenarbeit besonders in den Bereichen soziale Sicherheit und Beschäftigung zu intensivieren, um soziale Inklusion, menschenwürdige Arbeit, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen und Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen.

Der soziale Schutz der Bevölkerung gehörte zu den von Politikern und politischen Entscheidungsträgern stets heiß diskutierten Themen. Die Maßnahmen in dem Bereich mussten mit der internationalen Gebergemeinschaft abgestimmt werden, vor allem mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der die Regierung de facto aufforderte, den Weg der Haushaltskonsolidierung zu beschreiten. Insbesondere enthielt das IWF-Programm die Auflage, allgemeine Subventionen für den Energiesektor, die sich in ermäßigten Preisen für die Bevölkerung niederschlugen, abzubauen bzw. die Energiepreise für die Bevölkerung zu erhöhen. Diese Maßnahme hatte zum Ziel, die finanzielle Förderung von Naftohaz zu reduzieren und die Korruptionsmöglichkeiten einzuschränken. Im Gegenzug enthielten die Mikrofinanzhilfeprogramme der EU zwischen 2014 und 2016 die Auflage, ein soziales Sicherungsnetz zu schaffen, um Familien mit geringem Einkommen vor den höheren Energiepreisen zu schützen.

Soziale Standards und Mindestlohn

Die Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung und der begrenzte finanzielle Spielraum erlaubten es der Regierung im Jahr 2014 nicht, den Mindestlohn und das Existenzminimum zu erhöhen. Erst im September 2015 wurden Mindestlohn und Existenzminimum angehoben (Anm. d. Redaktion: Dies ist in den Grafiken am Ende des Textes nicht erkennbar, da gleichzeitig die Hrywnja gegenüber dem Euro an Wert verlor). Im Jahr 2017 dann wurde der Mindestlohn verdoppelt, um die Kaufkraft von Arbeitnehmern mit geringem Einkommen, die besonders von der hohen Inflation der Jahre 2014 und 2015 betroffen waren (der Verbraucherpreisindex stieg im Jahr 2014 um 12,1 Prozent und im Jahr 2015 um 48,7 Prozent), zu erhöhen.

Das Niveau des Existenzminimums sank aufgrund des begrenzten finanziellen Spielraums zwischen 2014 und 2019 real, auch wenn in den letzten Jahren ein langsamer Aufholprozess zu verzeichnen ist (siehe Grafik 1 am Ende des Textes). Auch die Unterstützung für Familien mit geringem Einkommen wurde erhöht.

Die Verbesserung der Sozialhilfe ist weiter auf der politischen Agenda, sie wird voraussichtlich in naher Zukunft umgesetzt.

Soziale Absicherung durch Nebenkostenzuschüsse

In den Jahren 2014 und 2015 baute die Regierung das Programm für Nebenkostenzuschüsse (inklusive für Wasser und Strom) massiv aus. Es wurde zum größten sozialen Hilfsprogramm mit dem Ziel, gefährdete Haushalte für den Anstieg der Nebenkostenpreise, insbesondere der Gaspreise, zu entschädigen. Die Erhöhung der Energiepreise seit 2014 wurde im Einklang mit dem IWF-Programm beschlossen, um die Haushaltsausgaben für allgemeine Energiesubventionen – entstanden durch das Defizit des staatlichen Unternehmens Naftohaz – zu senken und um die Korruptionsmöglichkeiten im Energiesektor zu verringern.

Zunächst führte die Regierung eine spezielle Ausgleichszahlung für Haushalte mit einem Einkommen unterhalb des Existenzminimums ein. Die Zahlung glich die Differenz in der Nebenkostenabrechnung der Haushalte nach der Erhöhung der Gas-, Strom- und Heizpreise aus; die Preiserhöhung wurde vollständig kompensiert. Diese Ausgleichszahlung ergänzte die bereits vorhandenen Nebenkostenzuschüsse. Sie war für die Heizsaison 2014/2015 vorgesehen, für die Zeit danach war eine Reihe weiterer Veränderungen in Bezug auf die Nebenkostenzuschüsse geplant.

Im Oktober 2014 veränderte die Regierung das Konzept durch die Einführung neuer Obergrenzen für Sozialwohnungen und Versorgungsleistungen: Die neuen Obergrenzen wurden durch die Größe der Haushalte bestimmt und die Ausgleichszahlungen auf einen bestimmten Verbrauchswert für Gas, Wasser und Strom beschränkt.

Außerdem veränderte die Regierung die Formel für die Berechnung des Anteils der Nebenkosten, für den die Haushalte einen Anspruch auf Förderung hatten. Zuvor erhielt ein Haushalt dann Nebenkostenzuschüsse, wenn die Nebenkosten über 15 Prozent des Einkommens eines Haushalts (bzw. bei Haushalten mit ausschließlich nicht erwerbsfähigen Mitgliedern über 10 Prozent des Einkommens des Haushalts) betrugen. Der darüber hinausgehende Betrag wurde übernommen. Seit 2014 wird für die Berechnung des vom Staat zu übernehmenden Kostenanteils die Höhe des Einkommens eines Haushalts im Verhältnis zum Existenzminimum berücksichtigt. Haushalte mit einem Pro-Kopf-Einkommen in Höhe des Existenzminimums, die Nebenkostenzuschüsse erhalten, geben nun nicht mehr als 7,5 Prozent ihres Einkommens für die Nebenkosten aus. Haushalte, deren Einkommen das Existenzminimum um ein Vierfaches übersteigt, müssen mehr als 30 Prozent des Einkommens für Nebenkosten ausgeben, um einen Zuschuss zu erhalten. Durch die neue Berechnungsformel wurden armen Haushalten mehr Zuschüsse gewährt, die Zahlungen an reiche Haushalte dagegen wurden reduziert.

Durch die neuen Kriterien stieg die Anzahl der Haushalte, die Anspruch auf Nebenkostenzuschüsse haben, dramatisch an: von 1,6 Millionen Haushalten im Jahr 2014 auf fast 7 Millionen Ende 2016. Insgesamt führte der hohe Prozentsatz der bezuschussten Haushalte – im Jahr 2017 waren es 43 Prozent – zu Bemühungen der Regierung, die Kriterien für die Zuschüsse in den Jahren 2017 und 2018 zu optimieren. Dies betraf die neuen Obergrenzen für Sozialwohnungen und Versorgungsleistungen, die Festlegung angemessener Wohnungs- und Hausgrößen für den Bezug von Zuschüssen, die Verpflichtung, Arbeitslosigkeit durch Registrierung nachzuweisen, die Erhöhung des an Auflagen geknüpften Arbeitslosengelds und das Mindestlohnniveau.

Seit Oktober 2018 berücksichtigen die Sozialbehörden das Einkommen eines Haushalts in der ersten Jahreshälfte statt des Einkommens der letzten vier Quartale. Da in den ersten beiden Quartalen des Jahrs der Lohn durch die Erhöhung des Mindestlohns und die angespannte Situation auf dem Arbeitsmarkt deutlich anstieg, während die Verbrauchspreise nicht bedeutend erhöht wurden, ging die Zahlung der Nebenkostenzuschüsse zurück.

2019 wechselte die Regierung von der bargeldlosen Auszahlung der Zuschüsse zur Barauszahlung, was die Energieeffizienz der Haushalte erhöhen dürfte.

Veränderungen in der Rentenpolitik – Rentenreform von 2017 und aktuelle Entwicklungen

Gemäß dem mittelfristigen Aktionsplan der Regierung stimmte das Parlament im Jahr 2017 einer Rentenreform zu, welche darauf abzielte ein einheitliches Konzept für die Rentenberechnung einzuführen, ein höheres Rentenniveau sicherzustellen und die Tragfähigkeit der Rentenversicherung zu erhöhen (siehe dazu auch die Ukraine-Analysen Nr. 200 vom 27.04.2018, Externer Link: http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen200.pdf). Der im Oktober 2017 verabschiedete Gesetzentwurf stellte einen Kompromiss zwischen der Gesetzesvorlage der Regierung und Hunderten Änderungen der Abgeordneten dar.

Dementsprechend wurden die Renten der derzeitigen Rentner ab Oktober 2017 angepasst, und zwar durch die Anhebung des bei der Berechnung der Rentenhöhe angesetzten Durchschnittslohns. Rentner, die vor längerer Zeit in den Ruhestand getreten waren, erhielten eine stärkere Rentenerhöhung. Gleichzeitig wurde einigen Rentnern keine oder nur eine sehr geringe Rentenerhöhung gewährt. Dies betraf jene Menschen, die vor Kurzem in Rente gegangen waren, und Rentner, bei denen die neuberechnete Rente geringer als der gesetzlich definierte Mindestwert war oder diesem Mindestwert in etwa entsprach.

Die Mindestversicherungszeit für einen Anspruch auf Altersrente wird von 25 Jahren im Jahr 2018 stufenweise auf 35 Jahre im Jahr 2028 erhöht. Das reguläre Renteneintrittsalter für Personen mit kompletter Versicherungszeit bleibt bei 60 Jahren. Gleichzeitig können Personen mit einer unvollständigen Versicherungszeit, die aber länger ist als 15 Jahre, mit 63 Jahren in Rente gehen. Wer nicht 15 Jahre lang versichert war, kann mit 65 Jahren in Rente gehen und eine Sozialrente in Höhe des Existenzminimums beziehen, die auch Menschen, die ihre Erwerbsfähigkeit verloren haben, bekommen. Wer nicht über die erforderlichen Rentenversicherungszeiten verfügt, kann einen Pauschalversicherungsbeitrag entrichten, um Anspruch zu erlangen.

Gleichzeitig werden neue Rentner, wenn sie in den Ruhestand treten, geringere Renten erhalten – vergleicht man diese Renten mit den alten Regelungen. Jedes Versicherungsjahr bringt nun eine Rente in Höhe von 1 Prozent des Jahreslohns ein (indexiert durch den wachsenden Durchschnittslohn) – im Gegensatz zu vorher 1,35 Prozent. Die Regierung führte eine automatische Indexierung der Renten an den Mittelwert von Verbraucherinflation und Lohnwachstum ein, was Rentner in Zeiten makroökonomischer Instabilität vor einem starken Rückgang der Kaufkraft schützt.

Seit 2019 beträgt die Mindestaltersrente – für Personen, die die Mindestversicherungszeit nachweisen können – 40 Prozent des Mindestlohns. Außerdem wurde im März 2019 eine neue Indexierung der Renten eingeführt. Laut Rentenkasse führte diese Indexierung zu einer Erhöhung der durchschnittlichen Rente von umgerechnet etwa 81 Euro Anfang 2019 auf etwa 99 Euro im März 2019.

Gleichzeitig erhielten Rentner, denen die neue Indexierung keine bedeutende Rentenerhöhung einbrachte (da ihre Löhne viel geringer als der Durchschnittslohn gewesen waren), eine Einmalzahlung in Höhe von umgerechnet etwa 79 Euro, die in zwei Tranchen (März und April 2019) ausgezahlt wurde. Diese Zahlung war möglich, weil die Regierung der Rentenkasse die Erträge eines besonderen Zollverfahrens für Autos mit internationaler Zulassung übertragen hatte.

Die Einführung einer zweiten (kapitalgedeckten) Säule des Rentensystems – der "Säule der Akkumulation" – ist weiter auf der politischen Agenda. Allerdings gibt es noch immer keinen politischen Konsens über die Ausgestaltung des Systems.

Faire Unterstützung von Familien mit Kindern

Die Daten des Staatlichen Statistikamts der Ukraine "Ukr­stat" zeigen, dass Familien mit Kindern ein höheres Armutsrisiko haben. Gleichzeitig bleibt die Geburtenrate gering, was zu einem Geburtendefizit führt. Daher sinkt die Bevölkerungszahl. Um Familien mit Kindern zu unterstützen und wohl auch, um die Geburtenrate zu steigern, hat die Regierung vor Kurzem mehrere Maßnahmen eingeleitet.

Im September 2018 führte die Regierung ein "Paket für Neugeborene" ein, das die wichtigsten Güter für ein Neugeborenes enthält. Davon abgesehen haben Familien seit Januar 2019 die Möglichkeit, eine Ausgleichszahlung von umgerechnet etwa 54 Euro zu erhalten, wenn sie einen Babysitter einstellen.

Da die Zahl der Geburten in 2018 und Anfang 2019 langsamer anstieg als erwartet, was zu Einsparungen bei den Haushaltsmitteln für Geburtenbeihilfe (größerer Pauschalbetrag nach der Geburt und danach monatliche Zahlungen bis zum Alter von drei Jahren) führte, hat die Regierung die Entscheidung getroffen, die soziale Unterstützung von Familien mit Kindern zu verbessern. Seit dem 1. April 2019 erhält jede Familie mit mindestens drei Kindern ein Kindergeld in Höhe von umgerechnet etwa 57 Euro für das dritte und für jedes weitere Kind bis zum Alter von sechs Jahren.

Fazit

Wirtschaftswachstum hat sich als das beste Instrument zur Erhöhung des Wohlergehens der Bevölkerung erwiesen. Daher bedarf es einer Regierungspolitik, die das Wirtschaftswachstum fördert.

Um schnell zu den mittel- und osteuropäischen Staaten aufzuschließen, führt die ukrainische Regierung Reformen durch, die auf die Steigerung der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit des Humankapitals abzielen. Diese Reformen befassen sich mit allen für die Stärkung des Humankapitals wichtigen Bereichen: Bildung, Gesundheitswesen und soziale Sicherheit. Die Reformen müssen zu besseren öffentlichen Dienstleistungen führen, vor allem im Bildungs- und Gesundheitswesen. Dies würde in der Ukraine den Anreiz für Arbeitsmigration ins Ausland verringern.

Übersetzung aus dem Englischen: Katharina Hinz

Fussnoten

Oleksandra Betliy ist seit 2002 Leading research fellow am Institute for Economic Research and Policy Consulting in Kiew. Sie war an internationalen Forschungsprojekten (unter anderem folgender Institutionen: Europäische Stiftung für Berufsbildung (ETF), Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) und Weltbank) beteiligt. Ihre Forschungsinteressen sind Finanzpolitik und Steuerprognosen sowie soziale Fragen, einschließlich der Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik. Betliy ist außerdem Länderexpertin beim SFB 1342 "Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik" an der Universität Bremen, wo sie vor allem mit dem Teilprojekt B06 "Externe Reformmodelle und interne Debatten bei der Neukonzipierung von Sozialpolitik in der post-sowjetischen Region" kooperiert.