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Analyse: 100 Tage Selenskyj: Eine erste Bilanz | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: 100 Tage Selenskyj: Eine erste Bilanz

Mattia Nelles Berlin) Von Mattia Nelles (Zentrum Liberale Moderne

/ 10 Minuten zu lesen

Seit der Präsidentschaft Selenskyjs ist in der Politiklandschaft der Ukraine einiges passiert. Der Präsident sticht durch eine Abwendung von klassischen Medien, umstrittene Personalentscheidungen und Bemühungen zur Beilegung des Donbass-Krieges hervor. Ob dieser Politikstil zur Umsetzung der angekündigten Reformen führt, bleibt abzuwarten.

Der neue Premierminister der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, spricht zur Presse. (© picture alliance/APA/picturedesk.com)

Zusammenfassung

Präsident Selenskyj und seine neue Regierung haben ein historisches Mandat erhalten, dringend notwendige Reformen umzusetzen. Die Pläne der Regierung sind ebenso ambitioniert wie umfassend. Energische politische Führung und eine Personalpolitik, die alleine auf neue Gesichter setzt, reichen aber nicht aus, um die zahlreichen Reformen zu entwerfen und deren Umsetzung in der Fläche zu gewährleisten.

Einleitung

Als Ende letzten Jahres mögliche Kandidaten für die ukrainische Präsidentschaft diskutiert wurden, hatte kaum jemand Wolodymyr Selenskyj auf dem Schirm. Nach der Ankündigung seiner Kandidatur am Neujahrsabend begann der kometenhafte Aufstieg des erfolgreichen Medienmanagers, Schauspielers und Comedian. Knapp vier Monate später wurde der 41-jährige in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen mit einem historischen Ergebnis von 73 Prozent ins Amt gewählt. Hinter ihm lag ein extrem erfolgreicher Wahlkampf, in dem er einerseits auf die volle Unterstützung des vom umstrittenen Oligarchen Ihor Kolomojskyj kontrollierten Fernsehsenders 1+1 zurückgreifen konnte, als auch auf die Auftritte seiner populären Satiriker-Truppe Kwartal95. Zudem verstand sein junges Wahlkampfteam es besser als alle anderen, ihren Kandidaten mithilfe von Social Media in Szene zu setzen, Selenskyjs Follower in die Kampagne einzubinden und mit ihrer Hilfe die Wähler zu mobilisieren.

Selenskyj als erfolgreicher Wahlkämpfer

Am Tag seiner Amtseinführung löste Wolodymyr Selenskyj in einer fulminanten Rede das Parlament auf und ordnete vorgezogene Neuwahlen für den 21. Juli an. Den Großteil seiner ersten 100 Tage im Amt verbrachte der neugewählte Präsident dementsprechend im Wahlkampfmodus. Er tourte durch die Regionen, legte sich mit lokalen Offiziellen an, geißelte diese teils als "ineffizient" oder "korrupt" und feuerte in einem Fall einen Beamten medienwirksam vor laufender Kamera. Das ruppige Auftreten Selenskyjs erinnerte Kritiker an seine Rolle als Film-Präsident in der erfolgreichen Fernsehserie "Diener des Volkes", kam aber in der Bevölkerung gut an.

Selenskyj hatte es eilig, auch innenpolitisch schnell Akzente zu setzen und verabschiedete – unter Umgehung des Parlaments – eine Reihe von präsidentiellen Dekreten. Denn das kurz nach der Revolution der Würde gewählte Parlament lehnte alle von Selenskyj ins Parlament eingebrachte Gesetzesinitiativen ab. Diese Tatsache wusste das "Team Ze", wie sich das Wahlkampfteam von Selenskyj nannte, bestens zu inszenieren.

Letztendlich zahlte sich Selenskyjs konfrontative Taktik gegen das alte Parlament voll aus. Bei den Parlamentswahlen im Juli gewann seine hastig auf die Beine gestellte und nach seiner Fernsehserie benannte Partei Diener des Volkes (Sluha Narodu) 254 Mandate. Die überwiegende Mehrheit der Parlamentarier Selenskyjs sind selbst den erfahrensten Politik-Experten der Ukraine gänzlich unbekannt – auch weil Selenskyjs Partei konsequent auf Neueinsteiger setzte, die nach eigenen Aussagen aus mehr als 3.000 Online-Bewerbern ausgewählt wurden.

Insgesamt fand ein nie zuvor dagewesener Personenwechsel im Parlament statt. Fast 80 Prozent der Mandatsträger aller Fraktionen saßen vorher nicht im Parlament. Zudem fand eine deutliche Verjüngung statt. Das Durchschnittsalter beträgt nun 41 statt vorher 47 Jahre. Ob die neuen Gesichter im Parlament weniger anfällig sind für Korruption als die alten Parlamentarier, und ob sie tatsächlich bessere Politik machen, müssen sie nun beweisen.

Misstrauen in Institutionen als Schlüssel des Wahlerfolgs

Die Parlamentswahlen fanden, genau wie die Präsidentschaftswahlen, in einem Klima des gesellschaftlichen Misstrauens in die etablierte politische Klasse der Ukraine statt. Externer Link: Laut Umfragen des Razumkov-Zentrums von Ende März 2019 gehört das Parlament zu den Institutionen, die das geringste Vertrauen im Land genießen: Knapp 70 Prozent der ukrainischen Bürgerinnen und Bürger vertrauen ihren Volksvertretern kaum oder gar nicht.

Selenskyj wusste die Anti-Establishment Stimmung und das tiefe Misstrauen der Bevölkerung zu nutzen. Das Misstrauen in die politischen Institutionen im Land geht zurück auf die prekären Lebensverhältnisse vieler Bürger, die große Distanz der politischen Klasse zu den Wählern und das hohe Ausmaß der Korruption. Selenskyj wusste sich hier als Kümmerer und unverbrauchte Kraft zu inszenieren.

Misstrauen in Institutionen als Problem

Selenskyj machte in seiner bisherigen Amtszeit keinen Hehl aus seiner Geringschätzung verschiedener Institutionen. Das drückt sich vor allem in dem gestörten Verhältnis des Präsidenten und seiner Entourage zu kritischen Medien aus. Als Präsidentschaftskandidat vermied Selenskyj Interviews weitgehend und auch nach seinem Amtsantritt gab er ukrainischen Medien kein einziges richtiges Interview. Ein Interview mit der deutschen "Bild" im Rahmen seines Berlin-Besuchs war eine der Ausnahmen. Auch die groß angekündigte Pressekonferenz nach 100 Tagen Amtszeit wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.

Besonders viel Kritik verursachte eine Äußerung Andrij Bohdans, des umstrittenen Chefs des Büros des Präsidenten – früher Präsidialadministration –, der ukrainischen Medien gegenüber sagte, dass Medien nicht die Stimme des Volkes seien und dass Selenskyj und sein Team auch "ohne Intermediäre" direkt mit der Öffentlichkeit kommunizieren können.

Tatsächlich setzt Selenskyj stark auf PR statt auf klassische Medien. Immer wieder veröffentlicht er kurze Videos, die er seinen Millionen Followern bei Instagram, Facebook und Youtube kredenzt. In einem seiner wenigen längeren Videos fährt Selenskyj in einem Tesla durch Kyjiw und beantwortet Fragen seiner Nutzer. Ähnlich kuschelig ging es bei einem Ende August bei 1+1 ausgestrahlten Interview zu, das ausgerechnet der Schauspieler Stanislaw Boklan führte, der in der Fernsehserie Diener des Volkes den korrupten Premierminister an Selenskyjs Seite spielt. Trotz einer großen Bandbreite an Themen wurde das Interview von ukrainischen Medien scharf kritisiert, da es sich bei Boklan um einen Schauspieler und Vertrauten des Präsidenten handelt und nicht um einen professionellen Journalisten.

Das Ende des semi-präsidentiellen Systems?

Im politischen System der Ukraine nahm das viel gescholtene Parlament historisch eine wichtige Rolle als Gegengewicht zum Präsidenten ein. Am deutlichsten wurde das zuletzt Ende letzten Jahres, als Petro Poroschenko nach dem Beschuss ukrainischer Marineboote und der Festsetzung 24 ukrainischer Matrosen durch Russland vor der Straße von Kertsch das Kriegsrecht im ganzen Land verhängen wollte. Sein Vorhaben wurde vom Parlament ausgebremst und das Kriegsrecht nur eingeschränkt in Teilen der Ukraine ausgerufen.

Seit 1991 verfügte kein Präsident über so viel formelle Macht und die Möglichkeit, die Exekutive und Legislative zu dominieren. Zum Ausdruck kommt das auch in der neuen Sitzverteilung des Parlaments, die weltweit unter etablierten Demokratien seines Gleichen sucht. Selenskyjs 254 Abgeordneten beschlossen, künftig im Halbkreis um das Rednerpult des Parlaments zu sitzen. Die Opposition, verteilt auf fünf Fraktionen, nimmt dahinter Platz.

Bereits am ersten Sitzungstag des neuen Parlaments wurde klar, dass in den nächsten Wochen eine ganze Flut von Gesetzestexten verabschiedet wird. In der ersten, sich über 16 Stunden erstreckenden Sitzung, verabschiedete das Parlament mehr als 70 Gesetzestexte in erster Lesung – darunter die Abschaffung der allumfassenden Immunität für Abgeordnete, die am 3. September in zweiter Lesung verabschiedet wurde. Für eine ernsthafte Auseinandersetzung um die genauen Inhalte im Gesetzestext blieb keine Zeit.

Jetzt bleibt offen, welche Rolle das Parlament, die Regierungsfraktion sowie die kleine Opposition künftig einnehmen werden. Viel deutet auf eine Verschiebung der Macht weg von der Werchowna Rada hin zum Büro des Präsidenten hin. Inwiefern die neue Machtverteilung dem Reformschub nutzt, und welche langfristigen Auswirkungen sie auf die ukrainische Demokratie haben wird, bleibt abzuwarten.

Selenskyjs Personalpolitik

Selenskyjs bisherige Personalentscheidungen gelten als zentrale Gradmesser seiner künftigen Politik. Seit dem ersten Sitzungstag des Parlaments am 29. August verfügt die Ukraine über einen neuen Premierminister und eine neue Regierung.

Der neue Premierminister Olexij Hontscharuk, zuvor stellvertretender Chef des Präsidialbüros, ist mit 35 Jahren der jüngste Premierminister in der Geschichte der Ukraine. Der promovierte Jurist und Immobilienfachmann kandidierte 2014 erfolglos für die liberale Syla Ljudej (Kraft der Menschen) fürs Parlament und wurde 2015 zum Leiter einer neuen Agentur, die die neue Regierung in Sachen Bürokratieabbau und Digitalisierung beriet. Seine Ernennung wurde von der ukrainischen Zivilgesellschaft überwiegend begrüßt. Jetzt muss der junge und politisch unerfahrene Premierminister beweisen, dass er dem Amt gewachsen ist.

Auch das neue Kabinett ist das jüngste in der ukrainischen Geschichte. Das Durchschnittsalter der elf Männer und sechs Frauen liegt bei 39 Jahren. Das jüngste Mitglied im Kabinett ist Vize-Premierminister und Digitalminister Mychajlo Fedorow mit gerade erst 28 Jahren. Gemeinsames Merkmal der 17 Minister ist die geringe politische Erfahrung. Aus dem Kabinett Hrojsman verbleiben lediglich zwei Minister: die im Westen angesehene Ökonomin Oxana Markarowa als Finanzministerin und Innenminister Arsen Awakow. Warum Selenskyj, der so konsequent in fast allen Personalentscheidungen auf neue Gesichter oder enge Vertraute setzt, ausgerechnet an dem in der Ukraine hochumstrittenen Innenminister festhält, ist vielen Beobachtern unklar.

Andere grundsätzlich positive Ernennungen umfassen Olexandr Danyljuk zum Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates und Aivaras Abromavičius zum CEO von Ukroboronprom, des von Skandalen geplagten staatlichen Rüstungskonglomerats. Beide sind in den post-Maidan-Regierungen als Reformer in Erscheinung getreten, müssen aber nun ihr Handlungsgeschick in sensiblen sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen unter Beweis stellen. Auch die Ernennung von Ruslan Rjaboschapka zum Generalstaatsanwaltschaft wurde von vielen als positives Zeichen begrüßt. Rjaboschapka gilt als erfahrener Reformer mit tiefen Kenntnissen in Justiz- und Antikorruptionsreformen und als jemand, der um die Probleme seiner neuen Behörde bestens Bescheid weiß. Es wird interessant zu beobachten sein, wie viel Gestaltungsspielraum und Unterstützung die Reformer unter Selenskyj erhalten werden.

Bohdan als umstrittenste Personalentscheidung

Die mit Abstand umstrittenste Personalentscheidung des neuen Präsidenten war die Ernennung von Andrij Bohdan zum mächtigen Chef des Büros des Präsidenten. Der ausgebildete Jurist ist einer der wenigen in Selenskyjs innerem Team mit nennenswerter Politikerfahrung, die er ausgerechnet in der korrupten Regierung von Janukowytsch sammelte – und zwar als Berater für Korruptionsbekämpfung. Dementsprechend fällt er eigentlich unter das Lustrationsgesetz, was Selenskyj jedoch nicht davon abhielt, ihn als seinen wichtigsten Mitarbeiter einzustellen. Zudem war Bohdan zuvor für den Oligarchen Ihor Kolomojskyj als Jurist und Berater tätig. Das Magazin Nowoe Wremja bezeichnete Bohdan jüngst als "Schattenpräsidenten". Viele der bisherigen Schlüsselinitiativen des Präsidenten tragen seine Handschrift. Es gilt jetzt genauestens zu beobachten, ob er seine Machtfülle und sein Talent ausschließlich im positiven Sinne für das Durchsetzen wichtiger Reformen nutzt.

Außenpolitik

Bei seinen bisherigen Auslandsbesuchen in Brüssel, Paris, Berlin und Toronto sowie jüngst in Warschau versicherte Selenskyj den internationalen Partnern, dass er den Reformkurs des Landes beschleunigen will und dass er am "Weg Richtung Europa" festhalte. Ernennungen erfahrener Diplomaten, wie Wadym Prystajko zum Außenminister und Dmytro Kuleba zum Vizepremierminister für europäische und euro-atlantische Integration, sowie den in der Ukraine unter Experten angesehenen Verteidigungsminister Andrij Sahorodnjuk, sprechen tatsächlich für eine außen- und sicherheitspolitische Kontinuität der neuen Administration.

Bewegung in der Beilegung des Donbas-Krieges?

Selenskyj erklärte im Wahlkampf die Beendigung des Donbas-Krieges zu einem seiner zentralen Anliegen. Tatsächlich kam nach seinem Amtsantritt Bewegung in die Verhandlungen. Der Fokus der ukrainischen Politik ist zweigleisig: Zum einen setzt Selenskyj auf eine neue diplomatische Initiative und zum anderen auf eine Politik der kleinen Schritte entlang der Front.

Selenskyj führte zwei Telefonate mit Wladimir Putin und verzichtete auf direkte Gespräche mit den Separatisten. Ende August bahnte sich ein großer ukrainisch-russischer Gefangenenaustausch an. Anfang September fand das letzte Beratertreffen in Vorbereitung auf ein anstehendes Gipfeltreffen im Normandie-Format statt, das Präsident Macron für September ankündigte. Völlig unklar bleibt, zu welchen Zugeständnissen Russland bereit ist. Die jüngste Pass-Offensive, die es Bürgen in den besetzten Gebieten im Donbas einfacher macht, die russische Staatsbürgerschaft zu erlangen, belasten die Gespräche. Bis Mitte August erhielten nach Angaben des russischen Innenministeriums 25.000 Menschen russische Pässe. Weitere 60.000 bewarben sich für solche.

Selenskyj setzt sich für die Verbesserung der Bedingungen der Übergänge entlang der Frontlinie ein und kündigte eine Reihe von Maßnahmen, wie die Gründung eines russisch-sprachigen Fernsehsenders, an. Tatsächlich gelang es, am einzigen Übergang in der Luhansker Oblast, einen lokalen Waffenstillstand und ein Entflechtungsabkommen durchzusetzen, was zum Abzug schwerer Waffen und einem Minenräumungsprogramm um den Übergang führte. Als nächstes stehen Verbesserungen der Infrastruktur bevor, um den beschwerlichen Übergang zu erleichtern.

Anfang August spazierten überraschend Wladislaw Deinego, der selbsterklärte "Außenminister" der sogenannten "Luhansker Volksrepublik" (LNR), zusammen mit Olga Kopzewa, der "Ombudsfrau" der "LNR", über die Kontaktlinie nach Stanyzja Luhanska, um sich dort mit Vertretern der Vereinten Nationen auszutauschen.

Am 21. Juli einigte man sich dann auf eine Ausweitung des Waffenstillstandes auf den gesamten Frontverlauf. Trotz mehrfachen Bruches bezeichnete der Sonderbeauftragte der OSZE Martin Sajdik den Waffenstillstand als "den bis dato effektivsten". Tatsächlich gingen die Opferzahlen im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Jahr 2018 zurück. Offen ist nun, welche Frontabschnitte als nächstes entflechtet werden, wie die Politik der kleinen Schritte weitergeht und wo sie an ihre Grenzen stößt.

Innenpolitik

In einem Interview mit sechs ukrainischen Medien am 30. August kündigte Premierminister Hontscharuk an, dass das Wirtschaftswachstum oberste Priorität für die neue Administration habe. Durch ein verbessertes Geschäftsklima für nationale und internationale Unternehmen sollen Anreize für Investitionen geschaffen werden, die dann unmittelbar verbesserte Lebensverhältnisse herbeiführen. Weitere Kernanliegen der neuen Regierung sind der Neustart der Justiz- und Antikorruptionsreform sowie eine großflächige Privatisierung von Staatsbetrieben und eine Agrarlandreform.

Bei einem gemeinsamen Treffen am 2. September mit dem Kabinett machte Selenskyj kräftig Druck und setzte konkrete Deadlines für die Umsetzung zahlreicher Kernanliegen. So soll das Ende des Landmoratoriums, dass seit rund zwei Dekaden den Verkauf von Agrarland verbietet, bis Ende September vorbereitet werden. Der erste Erfolg der Selenskyj-Administration war die eilig verabschiedete Abschaffung der Abgeordnetenimmunität, die zu Beginn des neuen Jahres in Kraft tritt. Ein Schritt, der in der Ukraine seit Langem gefordert wurde, da viele Abgeordnete die umfassende Immunität missbrauchten. Allerdings berge die Abschaffung der strafrechtlichen Immunität, wie die Venedig-Kommission 2015 warnte, in einem Staat wie der Ukraine – mit schwachem Rechtsstaat und politisierter Justiz – Gefahren eines möglichen Missbrauches.

Die enorme Geschwindigkeit bei zentralen Reformanliegen ist einerseits begrüßenswert. Andererseits ergeben sich daraus auch Probleme, denn bei vielen Reformanliegen steckt der Teufel häufig im Detail. Wenn die Gesetzesentwürfe im Eilverfahren vom Parlament schlicht durchgewunken werden, ist unklar, inwiefern noch genügend Zeit bleibt, um Gesetze im Parlament und mit wichtigen Stakeholdern zu diskutieren.

Ausblick

Der Präsident und seine Regierung haben ein historisches Mandat erhalten, dringend notwendige Reformen durchzusetzen. Eine der zentralen Fragen nach den zwei erdrutschartigen Wahlsiegen ist, ob es Selenskyj gelingt, das allumfassende Misstrauen in fast alle staatlichen Institutionen des Landes wieder zu stärken. Dysfunktionale Institutionen müssen nachhaltig umorganisiert, umgebaut oder gar neu geschaffen werden – die Zollreform wird in dieser Hinsicht ein wichtiger Gradmesser sein. Und funktionierenden Institutionen, wie der Zentralbank der Ukraine oder dem Nationalen Antikorruptionsbüro, müssen notwendige Handlungsspielräume erhalten bleiben. Sollte der Präsident seine umfassende Reformagenda tatsächlich umsetzen, werden zahlreiche windige Geschäftsleute und Oligarchen als Günstlinge der bisherigen wirtschaftlichen Strukturen, wie im Energiemarkt, von ihren lukrativen Futtertrögen verdrängt. Spätestens dann braucht das Land entpolitisierte, funktionsfähige Institutionen.

Energische politische Führung und eine Personalpolitik, die alleine auf neue Gesichter setzt, reichen nicht aus, um die zahlreichen anstehenden Reformen zu entwerfen und deren Umsetzung in der Fläche zu gewährleisten.

Fussnoten

Mattia Nelles ist Referent für Außenpolitik beim Zentrum Liberale Moderne in Berlin, wo er das Online-Portal "Ukraine verstehen" als Redakteur betreut.