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Analyse: Das ukrainische Verfassungsgericht kippt Teile der Antikorruptionsreform in der Ukraine

Andrii Nekoliak Von Andrii Nekoliak (Universität Tartu)

/ 11 Minuten zu lesen

Das Urteil des Verfassungsgerichts, das zentrale Elemente der Gesetzgebung zur Korruptionsbekämpfung für nicht verfassungskonform einstufte, sorgte beim Präsidenten und den Bürgerinnen und Bürgern für heftige Gegenreaktionen. Wie kann die Verfassungskrise gelöst werden, ohne das Ansehen der Justiz zu beschädigen?

Protest gegen die Entscheidung der Verfassungsrichter zur Antikorruptionsreform vor dem Verfassungsgericht in Kiew am 30.10.2020 (© picture-alliance/dpa, TASS | Anna Marchenko)

Zusammenfassung

Am 27. Oktober 2020 verkündete das ukrainische Verfassungsgericht ein Urteil, das Teile der Antikorruptionsreform in der Ukraine außer Kraft setzt. Das Gericht befand zentrale Elemente der ukrainischen Gesetzgebung zur Korruptionsbekämpfung für nicht verfassungskonform, vor allem die strafrechtliche Verfolgbarkeit falscher Angaben durch Staatsbedienstete in den jährlich fälligen Vermögensdeklarationen. Das Urteil rief heftige Gegenreaktionen beim Präsidenten und der Zivilgesellschaft hervor, die auf eine sich entfaltende Verfassungskrise in der Ukraine hindeuten. Während die krisenhaften Ereignisse sich noch entwirren, ist bereits klar, dass in ihrem Verlauf weder das System zur Bekämpfung der Korruption noch die Integrität des Justizsystems kompromittiert werden dürfen.

Einleitung

Seit dem gesellschaftlichen Wandel nach dem Euromaidan 2014 fordern die politischen Eliten in der Ukraine die Bekämpfung der Korruption, einem großen Problem im öffentlichen Leben der Ukraine. Diese Bekämpfung erfolgte zweigleisig: Zum einen durch die Schaffung einer institutionellen Infrastruktur, und zum anderen durch einen entsprechenden rechtlichen Rahmen, zu dem unter anderem elektronische Vermögensdeklarationen zur Erfassung illegaler Vermögensanteile durch Staatsbedienstete zählen. Im Rahmen der institutionellen Entwicklung wurden neue Behörden der Exekutive und des Strafverfolgungssystems geschaffen: die Nationale Behörde zur Korruptionsprävention (NAPC), das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (SAPO). Die Gründung des Hohen Antikorruptionsgerichts (HACC), das für Strafverfahren und Berufungen im Bereich Korruptionsvorwürfe zuständig ist, markierte 2018 den Höhepunkt der Reform des institutionellen Rahmens zur Korruptionsbekämpfung. Außerdem wurde mit der Gründung dieses Gerichts die Aufgabenteilung der Bereiche Ermittlung (NABU, NAPC), Verfolgung (SAPO) und Verurteilung (HACC) von Korruption komplettiert. Was den rechtlichen Rahmen anbelangt, so wurde Ende 2014 von der Werchowna Rada das Gesetz zur Korruptionsprävention verabschiedet, das die europäischen Ambitionen der Ukraine bekräftigte. Mit dem jüngst gefällten Urteil des Verfassungsgerichts wurden zentrale Teile dieser Infrastruktur nun gekippt.

Die umstrittene Entscheidung des Verfassungsgerichts

Das Urteil geht auf die Klage einer Gruppe von Parlamentsabgeordneten der prorussischen Oppositionsplattform Für die Zukunft im August 2020 zurück (welche als Interessenvertretung des Oligarchen Ihor Kolomojskyj in der Rada gilt). Diese Gruppe rief wegen des Vorwurfs der Verfassungswidrigkeit der Antikorruptionsreform von 2014 das Gericht an. Die prorussischen politischen Kräfte versuchen immer wieder, gerichtlich gegen den proeuropäischen Kurs der ukrainischen Regierung vorzugehen und so Errungenschaften des Maidans rückgängig zu machen (beispielsweise ist vor dem Gerichtshof auch noch ein separates Verfahren wegen Verfassungsmäßigkeit des Lustrationsgesetzes von 2014 anhängig).

Die Klage der Abgeordnetengruppe vom August hatte gute Aussichten, durch das Gericht bestätigt zu werden. Tatsächlich veranlasste die Gruppe das Gericht nicht zum ersten Mal, ein Urteil über Antikorruptionsmaßnahmen zu fällen. Bereits im Februar 2019 kassierte das Gericht die strafrechtliche Haftung von Staatsbediensteten im Fall von deren illegaler Bereicherung, wobei es zur Begründung eine ausgesprochen technische Argumentation übernahm: Es entschied, dass die Verpflichtung von Staatsbediensteten, die Rechtmäßigkeit ihres Einkommens nachzuweisen, diese übermäßig belaste und die Unschuldsvermutung ihnen gegenüber außer Kraft setze. Zur Erläuterung erklärte das Gericht, ein fehlender Nachweis über die Rechtmäßigkeit eines Einkommens sei nicht mit der illegalen Erlangung der Vermögenswerte gleichzusetzen und eine Kriminalisierung der entsprechenden Tätigkeiten daher nicht rechtskonform. Die Logik dieser Entscheidung von 2019 ist auch in der neuen Entscheidung des Gerichts erkennbar.

Auch mit ihrem aktuellen Urteil geben die Verfassungsrichter den Klägern recht. Zusammenfassend kann man sagen, dass das Gericht in seiner Entscheidung (Externer Link: http://ccu.gov.ua/sites/default/files/docs/13_r_2020.doc) die Antikorruptionsreform von 2014 im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Justiz beurteilt. Denn nach Ansicht des Gerichts sieht die Verfassung besondere Garantien für die Judikative vor, die diese gegen Eingriffe und Beeinträchtigungen der Exekutive in hohem Maße schützen.

Das Urteil zählt diese institutionellen Garantien für die richterliche Unabhängigkeit auf und argumentiert, institutionelle Gewaltenteilung bedeute, dass Gerichten und Richtern ein besonders hoher Schutz vor behördlicher Kontrolle durch die Exekutive zukomme. Für den Bereich Korruptionsprävention bedeute dies, dass die Disziplinierung von Richtern und die Überwachung von deren Tätigkeiten durch Organe der Judikative selbst garantiert werden sollten (etwa über eine gerichtliche Selbstkontrolle). In Bezug auf die existierende Antikorruptions-Gesetzgebung stellte das Gericht fest, dass mit der Nationalen Behörde zur Korruptionsprävention ein Regierungsorgan befugt sei, Gerichte und das Verfassungsgericht der Ukraine zu kontrollieren. Im Einzelnen erklärte das Gericht, die Bestimmungen über die Befugnisse der NAPC, Vermögensdeklarationen von Staatsbediensteten einzufordern, aufzubewahren und zu veröffentlichen, gäben der Exekutive ein Mittel zur Kontrolle des Justizapparats an die Hand. Entsprechend hob das Gericht die gesetzlichen Regelungen in Bezug auf die genannten Rechte der Korruptionspräventionsbehörde auf und stellte fest, dass eine andere rechtliche Regelung geschaffen werden müsse, die die besonderen verfassungsrechtlichen Garantien für die Judikative berücksichtigt.

Der umstrittenste Punkt des Urteils betrifft die strafrechtliche Verfolgbarkeit der Nichtabgabe der jährlichen Einkommensdeklarationen durch Staatsbedienstete sowie wissentlich getätigter Falschangaben in diesen Erklärungen – das Gericht schaffte Artikel 366-1 des Strafgesetzbuchs ab, der 2014 mit dem Gesetz zur Korruptionsprävention eingeführt wurde. Die Verfassungsrichter argumentieren in diesem Zusammenhang, dass es zur Rechtfertigung einer strafrechtlichen Verfolgung der in Frage stehenden Vorgänge keine ausreichenden Beweise gäbe bzw. dass – anders ausgedrückt – die entsprechenden Strafen in keinem angemessenen Verhältnis zu dem gesellschaftlichen Schaden stünden, den fehlende oder falsche Angaben in Vermögensdeklarationen verursachten. Nach Meinung des Gerichts sollte die strafrechtliche zu einer verwaltungsrechtlichen Haftung herabgestuft werden. Insgesamt stellt das Urteil des Gerichts eine Aushöhlung der Antikorruptionsreform dar, indem es die wichtigsten Regelungen des Gesetzes von 2014 antastet. Bedeutsam ist das Urteil außerdem, weil die nun aufgehobene Gesetzgebung eine zentrale Bedingung für die Visa-Liberalisierung der EU und die Gewährung finanzieller Unterstützung für die Ukraine durch internationale Partner war.

Der Aufschrei in der Ukraine und internationale Reaktionen

In der Ukraine löste die Entscheidung des Gerichts beim Präsidenten und der Zivilgesellschaft eine erbitterte und heftige Gegenwehr aus, die zeigt, wie wenig glaubwürdig das Verfassungsgericht bei Öffentlichkeit und Politik ist. Präsident Selenskyj bezog als Antwort auf die Ereignisse einen kompromisslos konfrontativen Standpunkt gegenüber dem Gericht und drohte den Verfassungsrichtern, sie aus ihren Ämtern zu entheben. Und es blieb nicht nur bei Worten des Präsidenten: Er legte dem Parlament einen Gesetzentwurf vor, der diesem das Recht geben soll, das umstrittene Urteil zu annullieren und alle Verfassungsrichter aus ihren momentanen Ämtern zu entfernen. Im Augenblick scheint dieser Ruf des Präsidenten zu verhallen, ohne dass der zuständige Parlamentsausschuss reagiert. Zusätzlich forderte Selenskyj die Richter öffentlich auf, ihre Ämter freiwillig niederzulegen. Hierzu ist festzuhalten, dass dem Gericht laut Verfassung ein besonderer Status zukommt – weder Präsident noch Parlament können Verfassungsrichter entlassen. Zudem enthält das Gesetz über das Verfassungsgericht von 2017 eine Liste, die exklusiv festlegt, wann das Mandat von Verfassungsrichtern endet (etwa, wenn diese 70 Jahre alt werden oder eine ausländische Staatsbürgerschaft annehmen).

Interessant zu sehen ist in diesem Zusammenhang, dass zivilgesellschaftliche Akteure im Bereich der Korruptionsbekämpfung den Plan des Präsidenten nicht als einen ungeheuerlichen Fall von Einmischung in die Judikative bewertet haben oder zugunsten der Unabhängigkeit des Gerichts intervenierten. Im Gegenteil – viele äußerten heftige Kritik an den Verfassungsrichtern, die die korrupten politischen Eliten decken würden. Dieser Vorwurf richtete sich speziell an die Richter, die in der Janukowytsch-Ära ernannt wurden, vor allem an den derzeitigen Gerichtspräsidenten Oleksandr Tupizkyj, der seit 2013 Verfassungsrichter ist.

Hinzu kommt, dass Meinungsführer wie Witalij Schabunin von der NGO "Zentrum zur Korruptionsbekämpfung" und Serhij Leschtschenko, ehemaliger Parlamentsabgeordneter und früherer Investigativjournalist – beide sind für ihr öffentliches Engagement im Bereich Antikorruption sehr bekannt –, in den Medien kompromisslos Stellung gegen Gericht und Verfassungsrichter bezogen haben. Auch Expertencommunitys wie das "Reanimation Package of Reforms" und die Stiftung "De Jure" verurteilten das Gericht wegen Sabotage der Antikorruptionsreform. In ihren Erklärungen konstatierten die Experten eine mangelnde juristische Begründung durch die Verfassungsrichter und bezeichneten ihr Urteil als unbegründet. Beide Expertencommunitys forderten die Richter, die dem Urteil zugestimmt haben, zur freiwilligen Aufgabe ihrer Ämter auf.

Um diese Reaktion der Zivilgesellschaft zu verstehen, hilft es, einen Blick auf den politischen Kontext der Justiz werfen. Die ukrainischen Gerichte galten in der Öffentlichkeit lange Zeit als wenig vertrauenswürdig. Das gilt für die Jahre vor wie nach dem Euromaidan, wobei Umfragen eine kleine Veränderung der öffentlichen Einstellung gegenüber Richtern und Gerichten zeigen. In besonderem Maße gilt dies für das Verfassungsgericht, denn diese Institution hat schon in der Janukowytsch-Ära starken Gegenwind für ihre Urteile erfahren und war durch die Entmachtung einiger amtierender Richter per Parlamentsentscheidung in der Folge der revolutionären Umwälzungen in der Ukraine 2014 eine Zeitlang handlungsunfähig.

Nach dem Euromaidan wurden in der Ukraine zahlreiche Gesetze eingeführt, um die institutionelle Verfasstheit der ukrainischen Justiz zu reformieren. Insbesondere wurde unter Präsident Petro Poroschenko eine große Verfassungsreform verabschiedet. Zwischen 2016 und 2018 folgten neue Gesetze zum Gerichtssystem, der Besetzung von Richterstellen und dem Verfassungsgericht. Ziel dieser Justizreform war es, den Prozess der Besetzung von Richterstellen zu entpolitisieren, die professionellen Standards innerhalb des Gerichtswesens anzuheben und die Unabhängigkeit der Judikative zu erhöhen. Fraglich bleibt angesichts der Situation rund um die ukrainischen Gerichte, warum die weitreichenden institutionellen Veränderungen in den Jahren nach dem Euromaidan keine größere öffentliche Akzeptanz der Justiz als glaubwürdige Institution in der Ukraine bewirkt haben.

Selbst dass 2017 der Rahmen für die verfassungsmäßige Gerichtsbarkeit reformiert und 2016 und 2018 neue Richter ernannt wurden, verbesserte in der breiten Öffentlichkeit weder die öffentliche Wahrnehmung des Gerichts noch das Bild von dessen professioneller und ethischer Integrität. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass Akteure der Zivilgesellschaft, von denen man annehmen würde, dass sie das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und die Judikative gegen deren Beeinflussung durch politische Entscheidungsträger verteidigen würden, ihre Stimme in diesem speziellen Fall gegen das Gericht erheben. Auch angesichts der Aussicht, dass die Ukraine aufgrund des Gerichtsurteils sogar die Visumfreiheit mit der EU aufs Spiel setzt, sorgen sich die zivilgesellschaftlichen Akteure stärker um die Integrität des Antikorruptionssystems als um eine Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien.

Mit Blick auf die internationale Gemeinschaft ist die Reaktion der Delegation der Europäischen Union für die Ukraine zu nennen, die die ukrainische Regierung in einer Erklärung aufgefordert hat, die vom Gericht gekippte Gesetzgebung so schnell wie möglich wiederherzustellen. Außerdem wies die Delegation darauf hin, dass Antikorruptionsmaßnahmen ein zentraler Prüfstein für den Prozess der Visaliberalisierung und für die Gewährung von Makrofinanzhilfen an die Ukraine sind. Außerdem ließ Mykola Tochyzkyj, der ukrainische Botschafter bei der EU, die ukrainische Regierung wissen, dass die Abschaffung der Antikorruptions-Gesetzgebung die Visaliberalisierung mit der EU gefährde und die Europäische Kommission die Visafreiheit zwischen EU und Ukraine vorläufig aussetzen könne. Das heißt jedoch nicht, dass die Kommission solche Schritte auch tatsächlich unternimmt. Im Gegenteil – die Delegation der Europäischen Union in der Ukraine scheint Nuancen der momentanen Situation wahrzunehmen und außer der Warnung eines ukrainischen Diplomaten gibt es keinen Hinweis darauf, dass Brüssel die Visafreiheit mit der Ukraine aussetzen könnte.

Darüber hinaus meldeten sich die Präsidenten der Venedig-Kommission und der Staatengruppe gegen Korruption des Europarates (GRECO) in einem gemeinsamen Brief an das Parlament der Ukraine zu Wort. In diesem fordern sie das Parlament dringend auf, einen Weg aus der Krise zu finden, der ohne drastische Maßnahmen zur Kompromittierung des Verfassungsgerichts auskommt, und weisen darauf hin, dass die Beendigung von Amtszeiten von Verfassungsrichtern einen ungeheuerlichen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit darstellen würde, der langanhaltende negative Folgen für die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine nach sich zöge. Eigenartigerweise ist sich die internationale Expertengemeinschaft des Gedankens an die Rechtsstaatlichkeit also stärker bewusst als die zivilgesellschaftlichen Akteure in der Ukraine.

Kein Ausweg?

Angesichts der sich entfaltenden Verfassungskrise ist klar, dass nur die Werchowna Rada eine legitime Entscheidung herbeiführen kann. Um vor diesem Hintergrund einen Weg aus der Krise zu finden, haben der Präsident und die Abgeordneten einige wenige drastische Optionen sowie eine mildere Option vorgestellt. Der vom Präsidenten geforderten Amtsenthebung der Verfassungsrichter wird das Parlament angesichts der weiteren Kompromittierung der Judikative, die ein derartiges Gesetz bedeuten würde, wohl nicht zustimmen – auch wenn eine solche Entscheidung Anklang bei jenen Teilen der Zivilgesellschaft finden könnte, die von der grundlegenden Kehrtwende in der Korruptionsbekämpfung enttäuscht sind.

Das gilt auch für Ideen, die Arbeit des Gerichts durch eine Anhebung der zur Beschlussfähigkeit nötigen Anzahl von Richtern zu blockieren. Einem Aufruf des Präsidenten folgend legte eine Gruppe von Abgeordneten einen Entwurf für ein solches Gesetz vor, das die Anzahl der für die Beschlussfähigkeit des Gerichts erforderlichen Richter von 12 auf 17 erhöhen könnte. In der momentanen Situation, in der 15 von 18 gesetzlich vorgesehenen Richterstellen besetzt sind, würde so jegliche Entscheidung durch das Gericht effektiv verhindert. Dies wäre allerdings eine kurzfristige und erneut sehr umstrittene Lösung.

Zum Zeitpunkt der Einreichung dieses Textes verweigerten vier Verfassungsrichter – Serhij Holowatyj (ernannt 2018), Oleh Perwomajskyj (2018), Wiktor Kolesnik (2016) und Wassyl Lemak (2018) – ihre Teilnahme an Gerichtsverhandlungen und verhinderten so das Zustandekommen verfassungsrechtlicher Entscheidungsfindungsprozesse. Sie alle wurden während Poroschenkos Amtszeit ernannt, sie alle stimmten gegen die Entscheidung über die Antikorruptionsreform und begründeten ihre Standpunkte voneinander abweichend. Die Weigerung der Richter, an der Arbeit teilzunehmen, führt dazu, dass die Große Kammer des Gerichts momentan nicht tagen und über die Verfassungsmäßigkeit normaler Gesetze entscheiden kann. Ihre Abwesenheit verhinderte die befürchtete Umkehr weiterer Reformen, die bereits auf der Tagesordnung des Gerichts standen – unter anderem das Gesetz zur Landreform und das Sprachengesetz.

Zur Beruhigung und als Ausweg aus der Krise stellte Parlamentssprecher Dmytro Rasumkow dem Parlament eine dritte Option vor. Das sogenannte Rasumkow-Projekt sieht eine Verfügung vor, die die wichtigsten Bestimmungen der Antikorruptions-Gesetzgebung mit Wirkung ab dem 27. Oktober (dem Tag, an dem das Gericht seine Entscheidung verkündete) wieder in Kraft setzt. Die Rechtsabteilung der Rada kritisierte diese Lösung jedoch, da Entscheidungen des Verfassungsgerichts laut Verfassung zwingend umgesetzt werden müssen. Insofern kann die Rada abgeschaffte Bestimmungen nicht einfach wieder in Kraft setzen, als habe es kein Gerichtsurteil über sie gegeben. Das bedeutet, dass die Rada die Gerichtsentscheidung substanziell durcharbeiten muss, um deren Logik und die Begründungen der Richter zu erfassen. Außerdem könnte im Fall seiner Verabschiedung auch das Rasumkow-Gesetz für nicht verfassungskonform erklärt werden.

Angesichts des Umstands, dass das Verfassungsgericht momentan wohl weniger Rückhalt in der Bevölkerung hat als jemals zuvor in der jüngeren Geschichte, sollte eine ausgewogene Entscheidung gefunden werden. Einerseits ist die allgemeine Stimmung in der Öffentlichkeit, der zufolge die Antikorruptionsreform erhalten bleiben sollte, verständlich. Die Bekämpfung der Korruption ist ein zentrales Versprechen der Post-Maidan-Eliten an die ukrainische Gesellschaft. Nichtsdestotrotz fehlt in der öffentlichen Diskussion der Ereignisse, die das Urteil in der Ukraine ausgelöst hat, häufig der Blick darauf, dass auch die Rechtsstaatlichkeit in dieser Krise auf dem Spiel steht. Die Integrität der Judikative darf durch außerordentliche und drastische Parlamentsentscheidungen keinesfalls weiter kompromittiert werden. Stattdessen ist es wohl vielmehr tatsächlich so, dass die Rechtsexperten der Werchowna Rada die tragfähigste und eine zugleich rechtskonforme Lösung vorgeschlagen haben – das Parlament sollte sich durch die Kritik des Gerichts hindurcharbeiten und diese erfassen, um anschließend einen neuen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Korruption in der Ukraine vorzulegen.

Übersetzung aus dem Englischen von Sophie Hellgardt

Lesetipps

Lovin, Anton und Ruslana Vovk. 2018. "Taking Stock: First Steps of the Renewed Constitutional Court of Ukraine." Democracy Reporting International. Externer Link: https://democracy-reporting.org/ru/taking-stock-first-steps-of-the-renewed-constitutional-court-of-ukraine/

Nekoliak, Andrii und Vello Pettai. 2020. "Navigating Ethnopolitical Disputes: Ukraine’s Constitutional Court in the Tug-of-War over Language." In Decentralization, Regional Diversity, and Conflict: The Case of Ukraine , herausgegeben von Maryna Rabinovych und Hanna Shelest. Palgrave Macmillan, S. 49–79

Popova, Maria und Daniel J. Beers. 2020. "No Revolution of Dignity for Ukraine’s Judges: Judicial Reform after the Euromaidan." Demokratizatsiya: The Journal of Post-Soviet Democratization 28: 1 (Winter 2020), S. 113–142

Popova, Maria; Zhernakov, Mykhailo. 2020. Das Trugbild vom Durchbruch zum Rechtsstaat: Justizreform nach der Revolution der Würde. Ukraine-Analysen 238, Externer Link: https://doi.org/10.31205/UA.238.02.

Fussnoten

Andrii Nekoliak ist Doktorand am Johan Skytte Institute of Political Studies an der Universität von Tartu in Estland. Er verfügt über Abschlüsse in Politikwissenschaften und Jura und hat ein Kapitel zur Sprachpolitik im ukrainischen Verfassungsgericht für einen bei Palgrave MacMillan erschienenen Band verfasst.