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Analyse: Erneuerbare Energien und Mittelstand statt Kohle und Stahl? | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Erneuerbare Energien und Mittelstand statt Kohle und Stahl? Die Städte des Donezker Gebiets bereiten den Kohleausstieg vor, trotz des Zögerns der Zentralregierung.

Martin Schön-Chanishvili Berlin) Martin Schön-Chanishvili (Germanwatch e.V.

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Die Städte des Donezker Gebiets bereiten den Kohleausstieg vor, trotz des Zögerns der Zentralregierung.

Kumpel vor der Kirov-Kohlemine: Im Donezker Gebiet planen Städte, NGOs und die regionale Handelskammer gemeinsam den Strukturwandel. (© picture-alliance)

Zusammenfassung

Der anstehende Kohleausstiegspfad der Ukraine stellt die Zentralregierung und die Kohleregionen vor große wirtschafts- und sozialpolitische Herausforderungen. Gleichzeitig eröffnet er auch Entwicklungsperspektiven für die Ukraine, den kriegsgebeutelten Donbas und für die Energiewende in Europa. Das haben Akteure aus dem Donezker Gebiet erkannt. Sieben Kohlestädte, drei NGOs und die regionale Handelskammer gründeten bereits 2018 eine Plattform für einen gerechten Strukturwandel. Sie vertreten ihre Städte auf nationaler und internationaler Ebene und arbeiten aktuell an einer gemeinsamen Strategie für die Transformation. Dennoch besteht das Risiko, dass die Bemühungen für einen gerechten Strukturwandel in der Ukraine von Partikularinteressen unterwandert werden. Dies könnte die politisch fragile Region Donbas erneut destabilisieren. Deutschland und Europa machen gute, aber noch sehr vorsichtige Unterstützungsangebote für den Kohleausstieg. Diese entfalten bisher noch keine transformative Kraft.Um die Entwicklungsperspektiven im Donbas zu verstehen, muss zunächst der Blick auf die sich aktuell stark veränderten Rahmenbedingungen für die ukrainische Energiepolitik gelenkt werden. Die Ukraine steht vor der Herausforderung, ihre Wirtschaft mit dem weltweiten Dekarbonisierungstrend und dem European Green Deal der EU zu synchronisieren. Denn die EU-Staaten haben sich Ende 2020 auf ein neues CO2-Reduktionsziel von minus 55 Prozent bis 2030 verständigt. Dies ist ein signifikanter Schritt hin zu einer ambitionierteren Klimapolitik. Gleichzeitig feilt die EU-Kommission an einem Mechanismus zur Besteuerung von CO2-intensiven Importen. Dadurch wären Produkte der ukrainischen Industrie und Landwirtschaft direkt betroffen. Für die ukrainische Wirtschaft wäre dies ein weiterer schwerer Schlag, da ein Großteil ihres Exports in die EU geht. Die ukrainische Regierung hat diese Signale erkannt. In den Verhandlungen mit der EU über einen "Green Deal für die Ukraine" bietet sie eine Dekarbonisierung bis 2070 an. Dies wäre ein sehr weit entferntes Ziel und auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern kein ambitionierter Pfad. Selbst das kleine EU-Mitglied Griechenland kündigte 2019 an, bis 2028 aus der Kohle auszusteigen. Dennoch wäre die Festlegung eines ukrainischen Ziels ein wichtiges Signal für Energieerzeuger und Wirtschaft, dass die Tage der fossilen Energieerzeugung gezählt sind.

Energetische und finanzielle Bürde

Kern der Dekarbonisierungsbemühungen muss der schrittweise Ausstieg aus der Förderung und Verbrennung von Kohle sein. Denn im Jahr 2019 lieferte die klimaschädliche Kohle immer noch 34,5 Prozent des Strombedarfs und wurde für 70 Prozent der Stahlerzeugung eingesetzt. Die Ukraine verfügt über die sechstgrößten Steinkohle-Vorkommen der Welt. Viele Minen und Kraftwerke sind jedoch veraltet, müssten teilweise komplett erneuert werden und verfügen über keine oder unzureichende Filteranlagen: Erst 2033 will die Ukraine gemäß nationalem Emissions-Reduktionsplan die EU-Grenzwerte einhalten. Bemerkenswert ist auch im Kohlesektor die Verflechtung von Privat- und Staatseigentum sowie die finanzielle Bürde, die sich dadurch für den Staatshaushalt ergibt. Mehr als 30 staatliche Kohleminen liefern etwa elf Prozent der gesamten Kohleproduktion des Landes. Sechs vermietete und zwölf private Schächte fördern die restlichen fast 90 Prozent. Auf dem nicht kontrollierten Gebiet der sogenannten "Volksrepubliken" im Luhansker und Donezker Gebiet befinden sich weitere 95 Schächte, die teilweise in physischer Auflösung begriffen sind. Die Kosten für Kohleförderung und -verbrennung steigen zudem ständig. Die Energiegemeinschaft, eine Institution zur Einführung und Umsetzung der EU-Energiegesetzgebung in Nachbarstaaten der EU, hat 2019 die Subventionspolitik in ihren Mitgliedstaaten über einen Zeitraum von drei Jahren genauer betrachtet.



Die Ukraine führte die Subventionsliste nicht nur mit rund 739 Millionen Euro direkter staatlicher Subventionen in den Kohlesektor an und liegt damit weit vor Serbien mit 299 Millionen. Es zeigte sich auch, dass der Kohlesektor jährlich immer mehr Subventionen verschlingt: Die staatlichen Unterstützungszahlungen waren zwischen 2015 und 2017 um beeindruckende 44 Prozent gestiegen.

Es ist also offensichtlich, dass es sich bei der ukrainischen Kohle um einen teuren, klima- und umweltschädlichen Energieträger handelt, der im Kontext des European Green Deal auch wirtschaftspolitisch zu einer Hypothek für das Land wird. Wenn die Ukraine in den nächsten Jahrzehnten nicht zügig aus der Kohle aussteigt, riskiert sie, vom Dekarbonisierungstrend in Europa überrollt zu werden. Für die bereits stark durch die Corona-Krise geschwächte Wirtschaft wäre dies eine ernsthafte Bedrohung, die das Land erneut an den Rand der Zahlungsunfähigkeit bringen könnte. An der Staatsspitze scheint diese Erkenntnis langsam Fürsprecher*innen zu gewinnen.

Kohleausstieg light

Die Regierung Hontscharuk begann im Januar 2020 mit ersten Konzepten für die Energiewende, während die Regierung Schmyhal der Restrukturierung des Kohlesektors dann bereits direkt nach Amtsübernahme im März 2020 besondere Bedeutung einräumte. Diese neue Ambition lag erstens an der energiepolitischen Dringlichkeit. Der stark fallende Marktpreis für Strom – Anfang 2020 brach der Preis auf minus 22 Prozent im Vergleich zum Vorjahr ein – zwang den Energieoligarchen Rinat Achmetow zum Handeln, er erhöhte seinen Druck und Einfluss auf die Regierung beträchtlich, die Regierung griff regulierend in den Markt ein (z. B. durch ein Verbot von Stromimporten aus Belarus), der Preis stabilisierte sich. Zweitens sah sich der Staat in seiner Fiskalpolitik gezwungen, gegen die steigenden Subventionen für unprofitable staatliche Schächte vorzugehen. Und drittens wurde offensichtlich, dass der anstehende Strukturwandel der Kohleregionen wirtschafts- und sozialpolitischer Konzepte bedarf. Deshalb legte das Energieministerium ein Konzept zum Umbau des Kohlesektors vor. Das Regionalministerium erarbeitete einen Programmentwurf für den Strukturwandel der betroffenen Regionen. Beide sind allerdings im Februar 2021 noch nicht verabschiedet worden. Sie können als erste Schritte in Richtung einer sozial verträglichen Dekarbonisierung bezeichnet werden. Dennoch ist dies bestenfalls ein "Kohleausstieg light", da Kohle für die Energieversorgung des Landes noch über Jahrzehnte eine zentrale Rolle spielen soll.

Politische Brisanz des Strukturwandels

Präsident Selenskyj erklärte bereits in einer Rede Anfang 2020, unprofitable Kohleminen müssten geschlossen werden, allerdings dürften dabei keine Arbeitsplätze verloren gehen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die ukrainische Kohleindustrie ihren größten Umbruch bereits hinter sich hat. Zwischen 1991 und 2013 verloren 88 % der Kohlekumpel ihre Arbeit, die Beschäftigtenzahlen in staatlichen Minen schrumpften auf 130.000 in 2014. Durch den Krieg in der Ostukraine, den Verlust weiterer Minen und Schließungen nahm die Beschäftigtenzahl in staatlichen Minen auf ukrainischem Territorium weiter ab auf 42.000. Gemeinsam mit privaten Kohleminen – in erster Linie in Besitz der Holding von Achmetows Firma DTEK – sind heute noch rund 86.000 in der Kohleförderung beschäftigt. Jedoch trägt die Kohle nach wie vor substanziell zu der Bruttowertschöpfung in einigen Regionen bei, insbesondere im Donezker und Dnipropetrowsker Gebiet (jeweils knapp 22 Prozent, s. Tabelle 1).



Es handelt sich bei Kohlekumpel immer noch um eine verhältnismäßig gut bezahlte, gut ausgebildete und gewerkschaftlich organisierte Berufsgruppe. Kohle ist im Osten des Landes – in den Gebieten Donezk, Luhansk und Dnipropetrowsk – nach wie vor in sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht der prägende Wirtschaftszweig. Die sieben Kohle-Monostädte des Donezker Gebiets sind bis heute existenziell abhängig von den örtlichen Kohleunternehmen, deren Steuerzahlungen für bis zu 70 Prozent des städtischen Budgets sorgen. Diese Steuereinnahmen brauchen die Städte einerseits dringend im Kontext der Dezentralisierungsreform, die zu mehr Spielraum, aber auch zu mehr kommunaler Eigenverantwortung geführt hat. Andererseits stellt die Coronakrise und die strauchelnde ukrainische Wirtschaft die Städte vor große Herausforderungen. Gerade in der Ostukraine kann dies zu einer explosiven Gemengelage führen. Bei den Kommunalwahlen 2020 im Donezker Gebiet errang die pro-russische "Opposizijna Platforma sa Schytja" (OPSSch) bereits die Mehrheit der Abgeordneten in mehreren Stadtparlamenten.



Ein sehr schnelles Abwickeln der Kohleindustrie könnte deshalb ebenso ernsthafte politische Folgen haben wie ein zu zögerliches Vorgehen, das die Industrieregionen ihrer wirtschaftlichen Perspektive beraubt. In beiden Fällen ist mit öffentlichen Protesten und starker Kritik von Seiten der Gewerkschaften und Medien aus dem Umfeld von Unternehmern aus dem Energiemarkt, direkt an der Grenze zum bewaffneten Konflikt mit den von Russland unterstützen "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk, zu rechnen. Nach der Halbierung seiner Popularitätswerte in der Coronakrise sind dies bedrohliche Szenarien für Präsident Selenskyj, aber auch für die Regionalverwaltungen und die Bürgermeister*innen der Kohlestädte.

Donezker Kohlestädte suchen selbst nach Lösungen

Diese Entwicklung war seit Jahrzehnten absehbar. Dennoch verschoben bisher alle ukrainischen Regierungen den Kohleausstieg im Hinblick auf die sozialpolitische Sprengkraft der Reformen. Gleichzeitig war vielen Bürgermeister*innen, zivilgesellschaftlichen Akteuren und Wirtschaftsverbänden ebenso wie der Bevölkerung in den Kohlestädten der kritische Zustand der Industrie klar. Dies zeigen aktuelle Studien (Externer Link: https://en.ecoaction.org.ua/wp-content/uploads/2020/11/just_transition_ua2020_en.pdf). Dennoch sahen sie keine Möglichkeit für einen politischen Diskurs über die Zeit nach der Kohle und verfügten nicht über das Know-how für die Suche nach wirtschaftlichen Alternativen. Germanwatch bot ihnen 2017 gemeinsam mit seinen Partnerorganisationen, den NGOs Ecoaction und Alternativa, Unterstützung für den Erfahrungsaustausch und die Projektentwicklung zum Thema Strukturwandel von Kohleregionen an (Externer Link: https://germanwatch.org/de/16128). Die Finanzierung für dieses Projekt "Neue Energie – neue Entwicklungsmöglichkeiten für den Donbas" kam vom Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Engagement Global). Durch das Projekt fanden sich das erste Mal in unabhängigen Ukraine Kohlestädte zusammen, um an Konzepten für den Strukturwandel zu arbeiten, und das erste Mal kooperierten Städte systematisch mit NGOs und präsentierten ihre Thesen auf nationaler und internationaler Ebene. Die Vertreter*innen der Kohlestädte besuchten Ruhrgebiet, Rheinland und Lausitz und waren von den Gesprächen mit den deutschen Kommunen inspiriert auch über parteipolitische Grenzen hinweg enger zusammenzuarbeiten. Sie entwickelten ein Memorandum und schlossen sich in der "Plattform für die Nachhaltige Entwicklung von Kohlestädten des Donezker Gebiets" zusammen, dem ersten und bisher einzigen akteursübergreifenden Zusammenschluss in einer ukrainischen Kohleregion. Dieses Format hat es den sieben Kohlestädten seither ermöglicht, ihre Interessen bei der Zentralregierung in Form von Gesprächen mit Ministerien, öffentlichen Statements und Pressekonferenzen zu vertreten. Außerdem lernten sie Ansätze, Risiken und Umsetzungsbeispiele für Strukturwandel kennen, einerseits im Austausch mit anderen Kohleregionen der "EU Coal Regions in Transition Platform", andererseits durch eine wissenschaftliche Studie (Externer Link: https://www.germanwatch.org/de/16626), die das Projekt mit unabhängigen, europäischen Expert*innen herausgab. Aufgrund dieses Erfolgs und der einmaligen Akteurskonstellation begann vor kurzem ein Folgeprojekt. Seit 2020 ist die Plattform offiziell Mitglied des beim Ministerrat angesiedelten "Koordinierungszentrums für die Transformation von Kohleregionen", eines Gremiums zur Abstimmung staatlicher Strukturwandel-Politik. Neben Ministerien sind in dem Gremium auch die Regionalverwaltungen, Interessenverbände von Kommunen, Wirtschaft und Gewerkschaften vertreten. Die drei Vertreter der Plattform sind die einzigen direkten Vertreter von Kommunen aus den betroffenen Kohleregionen. Aktuell entwickeln die Städte eine gemeinsame Strategie für den Strukturwandel und werden dabei unterstützt von einem Konsortium aus dem BMZ-Projekt von Germanwatch, Ecoaction und Alternativa sowie den Projekten "Economic Resilience Activity" (USAID) und FORBIZ (EU).

Kooperation trotz politischer Konflikte

Eine besondere Herausforderung ist aus Sicht von Germanwatch die horizontale Kooperation innerhalb der Donezker Plattform. Erstens haben auch die letzten Kommunalwahlen im Herbst 2020 eine Situation im Donezker Gebiets gefestigt, in der Bürgermeister*innen und die Miski Rady (Kommunalparlamente) häufig unterschiedliche politische Lager vertreten. Zum Beispiel liegt die absolute Mehrheit im Stadtparlament von Wuhledar bei zwei pro-russischen Parteien, während der Bürgermeister der Partei "Ewropejska Solidarnist" des ehemaligen Präsidenten Poroschenko nahesteht. Aufgrund der ständigen Aktivitäten von industriellen Lobbygruppen verändern sich teilweise auch die Machtverhältnisse in den Miski Rady während der Legislaturperioden. So hat die Miska Rada der größten Kohlestadt Pokrowsk (knapp 63.000 Einwohner*innen) zwischen 2019 und 2020 mehrfach neue Stellvertreter*innen bestimmt, je nach Gefechtslage. Zweitens vertreten auch Bürgermeister*innen der Kohlestädte unterschiedliche politische Lager oder stehen in einer Konkurrenzsituation um eine regionale Vormachtstellung. Diese Dynamik wurde verstärkt durch den Aufbau neuer regionaler Parteistrukturen um bestehende Lobbyinteressen – der prorussischen OPSSch seit 2018 sowie der Partei "Sa Por’jadok" seit 2020, der eine Nähe zu Achmetow nachgesagt wird. Drittens stellt die gleichberechtigte Einbeziehung von NGOs aus den Kohlestädten eine Herausforderung dar, da diese häufig entweder in Konflikten mit den Behörden stehen oder nur über geringe finanzielle und personelle Mittel verfügen.

Dennoch gelingt es den Akteuren bisher, innerhalb der Donezker Plattform der Kohlestädte zu kooperieren. Aus Sicht von Germanwatch liegt dies vor allem an drei Faktoren: Erstens existiert die gemeinsame Problemstellung des Strukturwandels, die eindeutig außerhalb der direkten Einflusssphäre der lokalen Eliten liegt und somit Kooperation sinnvoll macht. Zweitens hilft die Fachkompetenz der beteiligten Organisationen Germanwatch (Energiewende und Strukturwandel), Alternativa (lokale Selbstverwaltung) und Ecoaction (Energiewende). Drittens gelingt bisher insbesondere die Einbeziehung von drei NGOs als vollwertige Mitglieder der Plattform durch spezielle Dialogformate, eine Diskussionskultur auf Augenhöhe und die enge Begleitung der Prozesse vor Ort durch die beteiligten Projektpartner. Die drei NGOs der Plattform haben im Dezember 2020 ein breiteres Forum von mehr als einem Dutzend NGOs des Donezker Gebiets initiiert, um ihre Rolle beim Strukturwandel in der Region noch systematischer vertreten zu können.

Was braucht ein erfolgreicher Strukturwandel?

Das Regionalministerium der Ukraine greift in seinem aktuellen Konzept für den Strukturwandel zentrale Punkte auf, die inzwischen Standard in der Strukturpolitik sind und welche die Plattform der Donezker Kohlestädte in ihren Statements seit 2018 forderte: Wirtschaftliche Diversifizierung (vor allem Stärkung kleiner und mittlerer Unternehmen), eine Bildungsoffensive, sozialer Ausgleich und die Stärkung erneuerbarer Energien. Gerade die Industrieregionen der Ostukraine weisen gute Startbedingungen auf, um sich wirtschaftlich umzuorientieren: gut ausgebildete Fachleute, landwirtschaftliche Flächen, teilweise gute Transportinfrastruktur, Nähe zu großen Industriebetrieben des Maschinenbaus und der Chemieindustrie. Im Verwaltungshauptsitz der Donezker Region Kramatorsk produziert sogar ein ehemals deutsch-ukrainisches Joint-Venture Windräder. Um diesen systematischen Umbau der Wirtschaft in der Kohleregion Donbas zu gestalten, sind Kooperationsstrukturen wie die Plattform der Kohlestädte ein zentraler Baustein. Sie können Bedarf vor Ort identifizieren, verschiedene Interessen zu einem frühen Zeitpunkt einbeziehen und Konflikte verhindern. Gleichzeitig wird der Umbau der Wirtschaft auch umfassende Ressourcen erfordern. Auch wenn die Ukraine nicht die Möglichkeiten Deutschlands hat, das sich seinen Kohleausstieg aktuell ca. 40 Milliarden Euro an Strukturhilfen kosten lässt, so werden dennoch Investitions- und Strukturhilfen im großen Stil unumgänglich sein werden. Hierfür soll laut ukrainischer Regierung eine Kombination aus staatlichen, privatwirtschaftlichen und internationalen Mitteln in einen Strukturfonds fließen. Aus Sicht der Kohlestädte fehlt noch ein transparentes Verfahren für die Mittelvergabe sowie der Aufbau von Planungskapazitäten in den Regionen, z. B. durch Regionalagenturen nach europäischem Vorbild. Außerdem bewertet die Plattform der Kohlestädte die staatlichen Pläne zum Umbau des Kohlesektors bis 2024 als nicht strategisch genug. Sie erwarten Planungssicherheit über dieses Datum hinaus. Bereits bei der Gründung der Donezker Plattform im Jahr 2018 war die eindeutige Botschaft der Akteure: besser ein klarer Kohleausstiegsplan zu einem frühen Zeitpunkt, damit der Strukturwandel noch gestaltet werden kann, als ein Reformstau und unklare Entwicklungspfade, die zu einem wirtschaftlichen point of no return führen.

Deutschland und die EU sind gefragt

Deutschland und die EU nehmen aktuell eine wichtige Rolle ein, um die Ukraine und die ukrainischen Kohleregionen beim Kohleausstieg und dem Strukturwandel zu begleiten. Deutschland hat mit der Ukraine 2019 eine Energiepartnerschaft unterzeichnet, einen Sondergesandten für den Strukturwandel bestimmt und die Finanzierung von Pilotprojekten in Kohlestädten zugesagt. Die EU steht in Verhandlungen zum "Green Deal für die Ukraine", hat eine Plattform für die Begleitung des Strukturwandels in der Ukraine aufgesetzt und plant ebenfalls Projektfinanzierung. Was den Initiativen bisher fehlt ist erstens eine klare Vereinbarung mit der ukrainischen Seite über den Kohleausstieg und den Fahrplan dorthin, zweitens klare Vorstellungen über die zu schaffenden Strukturen wie den Strukturfonds, drittens eine Entwicklung von Leuchtturmprojekten, die über kommunale Grenzen hinweg, also für gesamte Regionen wirken und nicht lediglich in einzelnen Kohlestädten; und viertens ein transparenter Wettbewerb um die besten Ideen sowie der Aufbau entsprechender Kapazitäten für Regionalentwicklung in den Regionen (z. B. Regionalentwicklungsagenturen nach deutschem Vorbild). All diese Aspekte sind einerseits unabdingbar, um der Ukraine und dem Donbas eine Entwicklungschance in einem sich dekarbonisierenden Europa zu geben und den Städten Planungssicherheit zu ermöglichen. Andererseits können die Akteure in den Regionen ihre Rolle im Kontext der Dezentralisierung nicht nur stärken, sondern auch den längerfristigen Mehrwert interkommunaler und akteursübergreifender Kooperation erkennen. Sonst besteht ein großes Risiko, dass Praktiken fortgeführt werden, die sich über Jahrzehnte etabliert haben, indem sich individuelle Lobbyzugänge sowohl in den Kohlestädten vor Ort als auch in Kyjiw als die effektivsten Mittel zur Durchsetzung von partikularen Interessen einzelner Politiker*innen, Parteien oder Industriegruppen erweisen.

Lesetipps



Fussnoten

Martin Schön-Chanishvili (sprich: »Tschanischwili«), M.A. soziokulturelle Studien, arbeitet bei Germanwatch e. V. zur nachhaltigen Transformation von strukturschwachen Gebieten in Ost- und Südosteuropa, insbesondere Kohleregionen. Sein Fokus liegt auf der gerechten Transformation mit Strategien für eine wirtschaftliche und soziale Perspektive der Menschen vor Ort. Mehrere Jahre hat er im In- und Ausland als wissenschaftlicher Berater, Projektleiter und Prozessbegleiter gearbeitet. Er beherrscht mehrere slawische Sprachen.