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Analyse: Multiple Identitäten und Einstellungen gegenüber der ukrainischen Ethnopolitik: Ergebnisse einer Bevölkerungsumfrage
Aadne Aasland Von Aadne Aasland (Oslo Metropolitan University)
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Eine neue Studie zeigt, dass Menschen unterschiedlicher Ethnien und Bewohner unterschiedlicher Regionen von starker Verbundenheit sowohl mit ihren lokalen Kommunen als auch mit dem ukrainischen Staat berichten.
Zusammenfassung
Eine kürzlich durchgeführte landesweite Erhebung gibt Aufschluss darüber, wie multiple Identitäten in der Ukraine gegenwärtig miteinander interagieren, und zeigt, dass Menschen unterschiedlicher Ethnien und Bewohner unterschiedlicher Regionen von starker Verbundenheit sowohl mit ihren lokalen Kommunen als auch mit dem ukrainischen Staat berichten. Die Beziehungen zwischen den Ethnien werden als gut wahrgenommen, auf lokaler Ebene noch besser als auf nationaler. Die Umfrage zeigt außerdem, dass die ukrainische Bevölkerung die Politik der Ukraine in Bezug auf ihre ethnischen Minderheiten sehr unterschiedlich bewertet. Spannungen zwischen sozioökonomischen Gruppen verursachen mehr lokale Uneinigkeit als Spannungen zwischen Menschen verschiedener Ethnien oder sprachlicher Hintergründe.Die Ukraine ist bekannt für ihre ethnische, sprachliche, religiöse, regionale und sozioökonomische Diversität und für ihre multiplen und sich überlappenden Identitäten. Diese Brüche und Identitäten werden mitunter politisiert, Bespiele dafür sind der Donbas-Konflikt, Änderungen der Sprachengesetzgebung, Dekommunisierungsgesetze und Erinnerungspolitik. Wie interagieren diese multiplen Identitäten in der Ukraine miteinander? Wie schätzen die Ukrainer die ethnokulturellen Beziehungen und die Fähigkeit der aktuellen Regierung ein, der breiten ethnokulturellen Diversität des Landes Rechnung zu tragen? Eine soziologische Umfrage des ukrainisch-norwegischen ARDU-Projekts (Accommodation of Regional Diversity in Ukraine) hat diese Fragen im Dezember 2020 beleuchtet. Die Umfrage wurde von der Meinungsforschungsagentur Operatyna Sociologia in Dnipro realisiert, die insgesamt 2.103 Telefoninterviews mit repräsentativ per Stichprobe ausgewählten ukrainischen Staatsbürgern aus allen Landesteilen geführt hat.
Starke und multiple Identitäten
In der Umfrage identifizieren sich 86 Prozent als ethnische Ukrainer, sechs Prozent als ethnische Russen, vier Prozent als einer anderen Ethnie angehörend, drei Prozent gaben an, eine gemischte ethnische Identität zu haben; das restliche eine Prozent war entweder unsicher oder beantwortete die Frage nicht (Grafik 1).
Die Umfrage enthielt einen Fragenkatalog, bei dem die Interviewten unter anderem angeben sollten, in welchem Maß sie sich wie mit unterschiedlichen Zuschreibungen identifizieren – vom Angehörigen der eigenen Ethnie bis zum Europäer (Grafik 2).
Mit Ausnahme der Frage, wie sehr sie sich als Europäer fühlen, identifizieren sich die Ukrainer ziemlich stark mit den anderen abgefragten Punkten, vor allem mit ihren lokalen Kommunen (Ort, Stadt oder Großstadt) und ihrer ukrainischen Staatsbürgerschaft. Auch ethnische und regionale Identitäten erhalten sehr hohe Werte. Außerdem gibt es eine starke Korrelation zwischen verschiedenen Typen von Identität – für diejenigen, die eine starke Identifizierung mit einem Punkt angeben, besteht eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie sich auch mit anderen Punkten identifizieren. Multiple Identitäten sind also weit verbreitet und scheinen sich zu verstärken. Die schwächsten Korrelationen finden sich zwischen dem Gefühl, Europäer zu sein, und den anderen Bindungen.
Die starke Korrelation zwischen den meisten abgefragten Punkten zeigt, dass die Berechnung eines zusätzlichen Indexes sinnvoll ist, den wir Zugehörigkeitsindex genannt haben und der von 0 (keine Zugehörigkeit) bis 3 (starke Zugehörigkeit zu allen abgefragten Identitäten) reicht. Die europäische Identität wurde in diesen Index nicht mit einbezogen. Unsere Untersuchung zeigt, dass ethnische Ukrainer (Indexwert 2,7) und Ukrainer mit gemischter ethnischer Identität (Indexwert 2,6) einen höheren Indexwert erreichen als ethnische Russen (2,4) und Menschen mit anderen ethnischen Identitäten (2,3). Regionale Unterschiede sind gering, die Menschen im Westen geben jedoch einen etwas stärkeren Zugehörigkeitssinn (2,8) an als die Menschen im Osten, im Zentrum (je 2,7) und auch im Süden (2,6) des Landes. Laut unseren Umfragedaten gehen höheres Alter und wirtschaftliches Wohlergehen mit einem stärkeren Zugehörigkeitsgefühl einher, während Geschlecht und Bildungsstand der Befragten keinen statistisch signifikanten Unterschied machen. Wichtigstes Ergebnis ist jedoch, dass die Ukrainer im Durchschnitt starke regionale und ethnische Identitäten aufweisen, wobei dies im ganzen Land und auch bei Menschen mit verschiedenen ethnischen Hintergründen der Fall ist.
Interethnische Beziehungen: auf lokaler Ebene besser als in der Gesamtukraine
Unsere Umfragedaten zeigen einige Unterschiede bei der Wahrnehmung der interethnischen Beziehungen durch die Befragten in Bezug auf ihre lokale Kommune (Ort, Stadt oder Großstadt), ihre Region und die landesweite Ebene, wie Grafik 3 zeigt. Unabhängig vom abgefragten Punkt sehen nur wenige Befragte die Beziehungen als sehr oder eher schlecht an. Außerdem nehmen die Befragten die interethnischen Beziehungen in ihren lokalen Kommunen tendenziell als etwas besser wahr als landesweit betrachtet, die regionale Ebene nimmt eine Mittelstellung ein.
Grafik 4 enthält mehr Details. Sie zeigt Antworten von Menschen verschiedener Ethnien und aus verschiedenen Landesteilen. Die allgemeinen Muster sind für alle Gruppen gleich: Die interethnischen Beziehungen werden für die Ebene der lokalen Kommune am besten bewertet, gefolgt von den regionalen Ebenen und der nationalen Ebene. Außerdem zeigt die Abbildung, dass ethnische Ukrainer und vor allem Ukrainer, die gemischte Identitäten für sich angeben, die internethnischen Beziehungen positiver bewerten, als ethnische Russen und Angehörige anderer ethnischer Gruppen dies tun. In Bezug auf regionale Unterschiede schätzen die Befragten in den westlichen und zentralen Landesteilen die interethnischen Beziehungen am positivsten ein, wobei die Unterschiede sehr moderat und kleiner als zwischen den ethnischen Gruppen sind.
Interethnische Beziehungen: nicht der Hauptgrund für Uneinigkeit auf lokaler Ebene
Obwohl die Mehrheit der Ukrainer die interethnischen Beziehungen in ihrer lokalen Kommune als ziemlich oder sehr gut wahrnimmt, macht es Sinn zu untersuchen, in welchem Maß Uneinigkeit zwischen Menschen mit verschiedenen ethnischen Hintergründen Anlass zu ernsthafter Sorge bietet, oder ob andere Arten von Uneinigkeit auf der Alltagsagenda der Ukrainer weiter oben rangieren.
Grafik 5 illustriert, wie interethnisch begründete Uneinigkeiten im Vergleich mit anderen möglichen Quellen lokaler Konflikte wahrgenommen werden. Die Interviewten wurden gefragt, wie sehr sie der Aussage zustimmen, dass es Uneinigkeit zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in ihrer Gemeinde gibt. Dabei wird deutlich, dass Uneinigkeiten zwischen Reich und Arm als viel vordringlicher wahrgenommen werden als Uneinigkeiten zwischen Gruppen mit unterschiedlichen ethnischen, sprachlichen und Migrationshintergründen. Die weitere Analyse zeigt, dass Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen und Bewohner verschiedener Landesteile die Beziehungen zwischen Gruppen in ihren Gemeinden nur wenig und statistisch nicht signifikant unterschiedlich bewerten.
Gemischte Bewertungen der ukrainischen Ethnizitätspolitik
Unsere Umfrage zeigt große Unterschiede in der Bewertung der ukrainischen Politik in Bezug auf ihre ethnischen Minderheiten. Dies zeigen die Antworten auf zwei Punkte der Befragung. Erst wurden die Interviewten gefragt, ob die Rechte der ethnischen Minderheiten in der Ukraine gut geschützt wären; darauf folgte die Frage, ob die derzeitige staatliche Politik ein Anwachsen der interethnischen Spannungen bewirken könne. Grafik 6 zeigt die Ergebnisse dieser beiden Fragen auf einer Skala von 0 (am stärksten negativ: volle Ablehnung von Punkt 1, volle Zustimmung zu Punkt 2) bis 4 (am stärksten positiv: volle Zustimmung zu Punkt 1, volle Ablehnung von Punkt 2) für verschiedene Kategorien von Befragten.
Die Mehrheit der Befragten bewertet den Schutz der Minderheitenrechte in der Ukraine nicht besonders positiv, die durchschnittliche Bewertung liegt knapp unter der Mitte der Skala. Die Frage, ob die momentane staatliche Politik ein Anwachsen der interethnischen Spannungen bewirken könne, wird jedoch durchschnittlich mit einem leichten Ausschlag zur positiven Seite der Skala beantwortet. Beide Punkte der Umfrage zur gegenwärtigen staatlichen Politik bezüglich ethnischer Minderheiten sieht die Gruppe der ethnischen Russen skeptischer als andere ethnische Gruppen, wobei die Aussagen der ethnischen Ukrainer am entgegengesetzten Ende der Skala angesiedelt sind. Weite Teile der ethnischen Ukrainer bewerten die Punkte jedoch auch eher negativ. In Bezug auf regionale Unterschiede zwischen den Befragten hat sich gezeigt, dass die Befragten im westlichen Landesteil die ukrainische Ethnizitätspolitik am ehesten positiv bewerten.
Da ein großer Teil derer, die sich als ethnische Ukrainer identifizieren, in ihrer Alltagskommunikation auch Russisch sprechen, ist Sprachenpolitik ein nicht ausschließlich ethnopolitisches Thema. Dennoch würde man erwarten, dass ethnische Russen eher geneigt sind, eine Politik zu unterstützen, die auch dem Russischen einen offiziellen Status verleiht. Die Frage, ob Ukrainisch die einzige Staatssprache sein sollte, zeigt große Diskrepanzen zwischen den Sichtweisen auf dieses umstrittene Thema der ukrainischen Politik: Eine Mehrheit von 58 Prozent stimmt der Aussage komplett zu, während mehr als ein Viertel der Befragten sie entweder komplett (20 Prozent) oder teilweise (7 Prozent) ablehnt.
Grafik 7 zeigt, wer Ukrainisch als einzige Staatssprache am ehesten ablehnt. An diesem Punkt zeigt sich eine tiefe ethnische Trennlinie. Mehr als zwei Drittel der ethnischen Russen lehnen die Aussage ab, wobei sie aus dem Kreis derer mit nichtukrainischen oder gemischten ethnischen Identitäten erhebliche Unterstützung erhalten. Bezüglich der regionalen Verteilung zeigt die Grafik erwartungsgemäß, dass die Ablehnung der Aussage in den östlichen und südlichen Landesteilen am stärksten verbreitet ist. Die weitere Analyse zeigt, dass die Mehrheit der ethnischen Ukrainer, die in ihrer Alltagskommunikation nicht hauptsächlich Ukrainisch sprechen, dennoch das Ukrainische als einzige Staatssprache unterstützen (53 Prozent unterstützen die Aussage entweder komplett oder teilweise; von den ethnischen Ukrainern, die Ukrainisch als ihre Hauptsprache angeben, tun dies 74 Prozent).
Zusammenfassung
Drei Ergebnisse unserer Befragung seien wegen ihrer Bedeutung für die ukrainische Ethnopolitik hervorgehoben. Das erste ist, dass alle Bevölkerungsgruppen – unabhängig von ihrer Ethnie und der geographischen Lage ihres Wohnorts in der Ukraine – eine starke Identifikation mit ihrem Wohnort äußern, von der lokalen Kommune bis zur Ebene der Gesamtukraine. Zudem wurde deutlich, dass sich diese multiplen Identifikationen gegenseitig verstärken, so dass in der Regel nicht eine Identität auf Kosten einer anderen gewählt wird. Das zweite Ergebnis ist, dass die Ukrainer die interethnischen Beziehungen in ihren eigenen Kommunen ziemlich positiv bewerten; sie werden als besser wahrgenommen als die entsprechenden Beziehungen auf nationaler Ebene. Interethnische Spannungen, vor allem in Alltagsbegegnungen, sind also keine große Sorge für die Mehrheit der in der Ukraine lebenden Menschen. Drittens herrscht die Einschätzung vor, dass andere Spannungen zwischen Gruppen – vor allem zwischen Reich und Arm – mehr lokale Uneinigkeiten verursachen als Spannungen zwischen Menschen mit verschiedenen ethnischen oder sprachlichen Hintergründen.
Welche Schlussfolgerungen können aus diesen Ergebnissen für die ukrainische Ethnopolitik gezogen werden? Die starken räumlichen Bindungen von der lokalen bis zur nationalen Ebene zeigen, dass ethnische Identitäten nicht der wichtigste Identifizierungspunkt für die Menschen in der Ukraine sind. Dies sollte politische Lösungen über ethnokulturelle Grenzen hinweg ermöglichen. Reformen, die Einigkeit auf lokaler Ebene befördern, etwa erfolgreich umgesetzte Dezentralisierungsreformen, könnten also dazu beitragen, die nationale Einheit der Ukraine insgesamt zu stärken. Die Umfrage zeigt allerdings auch, dass bestimmte politische Themen – etwa die Sprachenpolitik – das Potenzial haben, Spannungen zwischen Gruppen zu schüren.
Zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts in der Ukraine über interethnische und regionale Grenzen hinweg scheinen politische Maßnahmen, die auf eine Lösung der sozioökonomischen Herausforderungen abzielen, wichtiger zu sein als Maßnahmen, die interethnische Themen adressieren. Hier ergänzt unsere Umfrage die Ergebnisse anderer Studien, indem sie zeigt, dass neben dem militärischen Konflikt im Donbas Themen wie politische Korruption, Arbeitslosigkeit und Inflation für die Bewohner der Ukraine viel wichtiger sind als ethnopolitische Themen.
Die aufgezeigten regionalen und ethnischen Trennlinien, die in Wahlverhalten und geopolitischer Orientierung in der Ukraine deutlich werden, sind wohlbekannt. Die Bindung jedoch, die die überwiegende Mehrheit der Ukrainer unabhängig von ihrer Ethnie und der geographischen Lage ihres Wohnorts zu ihrer lokalen Kommune und dem ukrainischen Staat zum Ausdruck bringt, ist eine große Ressource, mit der die politische Führung der Ukraine sorgsam umgehen sollte. Die Ergebnisse der Befragung zeigen, dass es hier noch Verbesserungspotenzial gibt.
Das ARDU-Projekt wird vom Norwegischen Forschungsrat finanziert. Detaillierte Informationen und aus dem Projekt hervorgegangene Publikationen finden sich auf der Projekt-Website: Externer Link: https://uni.oslomet.no/ardu/.
Außerdem erscheint demnächst zum Thema: Aadne Aasland und Sabine Kropp (Hrsg.), Accommodation of Regional and Ethno-cultural Diversity in Ukraine, Palgrave Macmillan, 2021.
Details zur Methode der Erhebung finden sich hier: Vladislav Baliichuk (2020): "Die Methode der ARDU-Befragung" (auf Russisch),
Aadne Aasland ist Senior Researcher beim Norwegian Institute for Urban and Regional Research an der OsloMet – Oslo Metropolitan University und leitete das ARDU-Projekt "The Accommodation of Regional Diversity in Ukraine" (2018–2021).
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