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Interview: "Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht" | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Vier Fragen zu Umfragen während eines umfassenden Krieges am Beispiel von Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? Kommentar: Meinungsforschung während des Krieges: anstrengend, schwierig, gefährlich, aber interessant Kommentar: Quantitative Meinungsforschung in der Ukraine zu Kriegszeiten: Erfahrungen von Info Sapiens 2022 Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine unter Kriegsbedingungen Kommentar: Politisches Vertrauen als Faktor des Zusammenhalts im Krieg Kommentar: Welche Argumente überzeugen Deutsche und Dänen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen? Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: Chronik 9. bis 16. Januar 2023 Ländliche Gemeinden / Landnutzungsänderung (19.01.2023) Analyse: Ländliche Gemeinden und europäische Integration der Ukraine: Entwicklungspolitische Aspekte Analyse: Monitoring der Landnutzungsänderung in der Ukraine am Beispiel der Region Schytomyr Chronik: 26. September bis 8. Januar 2023 Weitere Angebote der bpb Redaktion

Interview: "Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht" Ukraine-Analysen Nr. 292

Mykola Bielieskov

/ 11 Minuten zu lesen

Der Militärexperte Mykola Bielieskov analysiert die ukrainische Gegenoffensive und erklärt was die Ukraine benötigt, um den Krieg gegen Russland zu gewinnen.

Ein ukrainischer Soldat bei Bachmut holt Munitionsnachschub. (© picture-alliance, SZ Photo | Friedrich Bungert)

Zusammenfassung

Die ukrainische Gegenoffensive im Sommer 2023 brachte nicht den erhofften militärischen Durchbruch. Stattdessen wird von einer neuen Phase des Stellungskriegs gesprochen. Während die westliche Unterstützung stockt, gelangen in der ukrainischen Politik zunehmend Konflikte an die Öffentlichkeit. In dieser schwierigen Situation wirft das Interview zwischen dem Journalisten Fabrice Deprez und dem Militäranalysten Mykola Bielieskov sowohl einen Blick auf schiefe historische Analogien, Fehlannahmen der Gegenoffensive und die Schwierigkeiten bei der Erlangung der strategischen Initiative für die Ukraine.

Da die Sommeroffensive ins Stocken geraten ist und das Jahr 2024 näher rückt, was denken Sie: Vor welchem Dilemma stehen jetzt der ukrainische Generalstab und die Länder des Westens?

Zunächst ist wichtig, dass die Menschen endlich über 2024 sprechen. Es waren viele Hoffnungen mit der Sommeroffensive 2023 verbunden, die aus meiner Sicht überzogen waren, ganz gleich, wie das Ergebnis am Ende ausgesehen hätte. Als ich ausländische Kolleg:innen Anfang des Jahres fragte, was sie als Nächstes erwarten, gab es eine völlige kognitive Leere. Man dachte nur an die Offensive. Sie scheuten sich sogar davor, darüber hinaus zu denken, an 2024 – weil sie dachten, die Ukraine würde 2023 in die Offensive gehen und alles wäre geregelt.

Als erstes ist zu beachten, dass eine Menge davon abhängen wird, für welche Vorgehensweise sich Russland entscheiden wird: eine strategische Verteidigung oder eine strategische Offensive? Das wissen wir nicht. Eine andere wichtige Frage ist natürlich, dass unsere Partner:innen Zeit brauchen für die Produktion von Artilleriemunition, und das ist ein wichtiger, einschränkender Faktor. Wir haben zwar mit FPV-Drohnen (FPV: "First Person View") und anderen Dingen dieser Art improvisiert. Aber dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht. Und wir wissen, dass die Vereinigten Staaten das notwendige Produktionsniveau erst Ende nächsten Jahres erreichen werden, oder Anfang 2025. Das ist ein einschränkender Faktor für die Ukraine. Und dann gibt es natürlich noch die Herausforderung, die ad hoc entstandene internationale Koalition zusammenzuhalten. Das ist eher eine politische, strategische Aufgabe als eine rein militärische. Aber sie ist sehr wichtig. Das wird sehr wohl verstanden. Und es gibt bereits sehr viele Diskussionen, wie diese internationale Koalition aufrecht werden kann.

Ich bin optimistisch, wenn die Ukraine ihren gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Kampfeswillen beibehält. Und wenn die Ukrainer:innen weiterhin auf einer Position beharren, die keine territorialen Kompromisse zulässt, werden die westlichen Partnerländer wenig Bewegungsspielraum haben. Sie können die Ukraine nur unterstützen. Stellen wir uns nämlich mal ein Szenario vor, bei dem die Ukraine zu Verhandlungen gedrängt wird, während die Ukrainer:innen immer noch bereit sind zu kämpfen – das ist unvorstellbar!

Wie schätzen Sie die Kampfbereitschaft ein? Ich weiß, dass Sie früher die französische "levée en masse" [die Massenrekrutierung 1793 in Frankreich; Anm. d. Red.] als historisches Beispiel für eine Mobilisierung der Bevölkerung genannt haben. Was macht das in ihren Augen zu einem interessanten Beispiel?

Ich nenne dieses Beispiel für gewöhnlich, um zu zeigen, dass es in jedem Krieg eine Phase nationaler Euphorie gibt, in der die Menschen bereitwillig zur Armee gehen. So war das 1792 in Frankreich. Dann aber nimmt die Bereitschaft und die Begeisterung natürlich ab, und dann hast du die Wehrpflicht, die levée en masse von 1793. Wenn also jemand eine große Sache aus der Tatsache macht, dass die Begeisterung der Ukrainer:innen abgenommen hat, sich freiwillig der Armee anzuschließen, dann nenne ich dieses Beispiel, um zu zeigen, dass das natürlich und erwartbar ist. Dieser Krieg ist da kein Einzelfall.

Was die Mobilmachung in der Ukraine angeht, besteht die Hauptaufgabe, soweit ich das beurteilen kann, jetzt darin, die Gruppierung der Streitkräfte, die wir haben, aufrecht zu erhalten, und eben nicht darin, ein Übergewicht der Kräfte zu erreichen. Und dafür braucht es keine große Mobilmachung. Dafür ist nicht die Art von Mobilisierung nötig, die wir in den ersten sechs Monaten des Krieges gesehen haben.

Das Wichtigste ist hier, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Kampfbereitschaft beizubehalten. Das ist der Grund, warum es so wichtig ist, das Rekrutierungsverfahren und die Behandlung der Verwundeten zu verbessern. Und hier meine ich nicht die medizinische Versorgung. Ich meine damit, dass sie einen angemessenen rechtlichen Status erhalten und auf korrekte Art und Weise aus den Streitkräften entlassen werden müssen. Weil auch Menschen eine Ressource sind, eine wertvolle Ressource. Und es kommt darauf an, wie diese Ressource genutzt wird.

Eine der Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, wenn es um die Rekrutierung geht, besteht darin, dass eine Person zur Armee eingezogen wird, während eine andere einen Weg finden kann, das zu umgehen. Und das ist ein Problem. Es muss für alle eine faire Behandlung beim Rekrutierungsverfahren geben. Und die gleiche Gerechtigkeit muss es geben, wenn jemand im Einsatz verwundet wird. Natürlich lassen sich die Situationen nur zum Teil angleichen, weil es, ganz gleich, was du tust, beim Krieg um Leben und Tod geht. Und das ist eine Bedrohung, die sich nie ganz beseitigen lässt. Man kann die Situation aber verbessern, wenn sichergestellt wird, dass die Menschen auf gerechte Weise rekrutiert werden; dass sie dann an die richtige Stelle geschickt werden; dass sie die richtige Ausbildung erhalten, bevor sie eine Rolle zugewiesen bekommen. Und seien wir ehrlich: Es gibt auch Ukrainer:innen, die das Gefühl haben, der Mangel an schweren Waffen werde dadurch kompensiert, dass sie ihre Gesundheit opfern müssen. Das ist der Grund, warum all diese Debatten über westliche Waffen – darüber, was wann und in welchem Umfang geliefert werden sollte – auch Auswirkungen auf den Willen der Ukrainer:innen haben, sich der Armee anzuschließen. Die beiden wichtigsten Dinge zur Aufrechterhaltung der Bereitschaft sind Waffen und eine gute Ausbildung.

Würden Sie zustimmen, dass wir uns jetzt in der "Mitte" des Krieges befinden, wie es der Analytiker Lawrence Freedman im September formulierte?

Das ist nur äußerst schwer zu beantworten. Letztes Jahr, als es die Freude nach dem ukrainischen Vormarsch im Gebiet Charkiw gab und Russland kurz davorstand, sich aus dem Westen des Gebietes Cherson zurückzuziehen, machten einige den großen Fehler zu denken, jetzt haben wir einen Moment wie 1944. Ich verwendete damals dieses Churchill-Zitat, um auszudrücken, dass wir es mit dem Ende der Anfangsphase zu tun haben. Es gibt aber auch bei diesem Zitat ein Problem: Als Churchill dies 1942 sagte, waren die Achsenmächte in der Tat auf dem Höhepunkt ihres Vormarsches und die Rüstungsindustrie der Alliierten nahm ihre Produktion auf, also lief die Mobilisierung auf vollen Touren. Wir können diese Logik aber nicht einfach auf heute übertragen.

Eine Logik aus dem Zweiten Weltkrieg, sei es nun von 1942 oder eine andere, greift heute nicht. Weil es erstens keine vergleichbare Mobilisierung der Rüstungsindustrie unserer Partner gibt. Und zweitens, weil wir Russland erlauben, sich neu aufzustellen, und wir damit die Lehre aus großen industriellen Kriegen ignorieren, die nämlich darin besteht, dass man den Gegner schneller dezimieren muss als dieser sich neu aufstellen kann. Es hätte diese Möglichkeit gegeben, wenn die Ukraine früher HIMARS-Systeme geliefert bekommen hätte, wenn im Frühjahr und Sommer 2022 zwei Armeecorps aufgestellt worden wären. Diese Chance wurde aber verpasst. Wir haben es zugelassen, dass Russland sich neu gruppiert und seine Front stabilisiert. Und jetzt können wir die russischen Kräfte nicht schneller zerstören als sie sich erholen können. Das wäre dann exakt die Geschichte des Zweiten Weltkrieges.

Das Gleiche gilt für eine Analogie zum Ersten Weltkrieg. Russland ist nämlich nicht vollkommen isoliert, wie Deutschland seinerzeit, während die Ukraine nicht über die Ressourcen verfügt, um sich auf die Verteidigung zu beschränken und dann schließlich dieses Momentum zu erzeugen, wenn der Gegner erschöpft ist – sowohl an der Front wie auch im Innern –, und dann einbricht. Daher sind solche Analogien irreführend. Und sie halten uns von einer ehrlichen Analyse und einer aufrichtigen Politik ab.

Es war Pétain, der Chef des Vichy-Regimes, denke ich, der gesagt hat, sein Plan sei, "auf die Amerikaner zu warten und auf ihre Panzer".

Ja, und die Ukraine kann das nicht tun. Ich hatte diese Diskussion im März: Wir redeten bereits über die anstehende Gegenoffensive, und ein Mann fragte mich, warum ich so schnell zur Offensive übergehen will, warum wir nicht in der Defensive bleiben könnten und mit den Russen in der gleichen Weise umgehen könnten wie im Ersten Weltkrieg. Ich antwortete, dass ich das zwar gern tun würde, dass aber der Krieg unglücklicherweise auf ukrainischem Territorium stattfindet. Das bedeutet, dass Russland fast ungehindert die eigene Wirtschaft betreiben, sich neu gruppieren und die Produktion der Rüstungsindustrie erhöhen kann. Es gibt eine Asymmetrie, die zu Ungunsten der Ukraine ausfällt. Und es bedeutet, dass es nicht richtig, nicht fair wäre, in der Defensive zu verharren.

Der zweite Punkt ist, dass wir Waffen geliefert bekommen haben, sowie Munition und Ausbildung, und die Menschen erwarten Ergebnisse. Und leider leben wir in einer Zeit, in der die Menschen nur kurze Aufmerksamkeitsspannen haben und schnelle Ergebnisse erwarten. Deswegen hatten wir keine andere Wahl, als zur Offensive überzugehen, daher greift die Analogie zum Ersten Weltkrieg nicht.

Ein weiterer Punkt ist, dass Deutschland seinerzeit isoliert war und die Sanktionen wirkten, könnte man sagen. Ende 1916 und 1917 war die Lage für Deutschland bereits schwierig. Man verstand damals, dass schnell eine Lösung vonnöten war, sonst wäre man dem Untergang geweiht. Russland sieht sich leider keinem derartigen Druck ausgesetzt. Sie sind immer noch in der Lage, Halbleiter und andere Komponenten zu produzieren, die für die Waffenproduktion benötigt werden. Und leider haben wir Belege, dass sie es immer noch schaffen, westliche Teilkomponenten einzuschmuggeln. Hierin besteht für mich die tragischste Entwicklung.

Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Ukraine – anders als Frankreich oder das Vereinigten Königreich im Ersten Weltkrieg – keine riesige eigene Rüstungsindustrie hat, mit der sie Millionen Granaten produzieren könnte. Deshalb funktionieren diese historischen Analogien nicht und sind eher schädlich als nutzbringend.

Es wurde gesagt, dass die ukrainische Gegenoffensive auch dazu gedacht war, dem Westen die Fähigkeit der Ukraine zu demonstrieren, dass man mit westlichen Waffen kämpfen kann. Denken Sie, dass die ukrainische Gegenoffensive in dieser Hinsicht ihr Ziel erreicht hat?

Unsere Partner:innen haben betont, wie sehr sich die Situation gegenüber 2022 verändert hat – ja! Damals war es Russland, das sich in der Offensive befand, zunächst in der gesamten Ukraine, dann in der Ostukraine. Und es ist für US-Vertreter:innen deutlich erkennbar, wie sich das verändert hat.

Natürlich wird jede Offensive nicht nur nach der Menge zerstörter Militärtechnik beurteilt, sondern auch nach der Größe der zurückeroberten Gebiete. Deshalb sagen viele, dass diese Offensive hinter den Zielen zurückbleibt. Dennoch ist der Umstand, dass die Ukraine in der Lage war, Russland in eine defensive Position zu zwingen, eine riesige Leistung, wenn wir die Dinge vom 24. Februar 2022 aus betrachten. Natürlich werden Menschen, die für die schnellstmögliche Aufnahme von Verhandlungen eintreten, sagen, dass ein dauerhafter Stellungskrieg herrscht. Sie werden jetzt leider neue rhetorische Munition erhalten, um ihre Position zu vertreten. Das ist der Grund, warum die Situation sehr heikel ist, warum wir uns einem Wendepunkt dieses Krieges nähern. Es hat bereits eine Diskussion darüber begonnen, wie lang, in welchem Maße und ob überhaupt die Ukraine zu unterstützen sei, und diese Debatte wird heftig ausfallen. Und bei dieser Debatte wird Russland alles daran setzen, durch Desinformation Einfluss zu nehmen.

Russland hat sich erholt. In den ersten Monaten der großangelegten Invasion waren sie durch die ukrainische Gegenreaktion geschockt. Nicht nur militärisch, sondern auch in Bezug darauf, was jetzt in einem weiteren Sinne zu tun ist. Jetzt haben sie sich erholt und wissen, was zu tun ist, nicht nur militärisch, sondern auch bei Operationen zur Einflussnahme. Also werden sie dieses Argument von einem endlosen Krieg ausnutzen, werden sagen, dass sei ein weiterer unendlicher Krieg für die USA, ein zweckloser Krieg usw. Sie werden ihr Bestes tun, die Debatte in einer Art zu beeinflussen, die für sie günstig ist, und für die Ukraine ungünstig.

Sie haben erwähnt, wie Ihrer Meinung nach weder Russland oder die Ukraine jetzt die strategische Initiative haben. Was sollte die Ukraine tun, um die strategische Initiative zu gewinnen?

Ich kann mich an keinen konventionellen zwischenstaatlichen Krieg erinnern, der gewonnen wurde, ohne wenigstens zum Teil diese strategische Initiative zu erlangen. Wir können uns den Ersten Weltkrieg anschauen, der endete, ohne dass auch nur irgendwelche Truppen der Entente deutschen Boden betraten. Und hierher stammt dieses hypothetische Szenario, bei dem Russland dann wegen einer Reihe militärischer und nichtmilitärischer Gründe beschließen würde, dass es nun genug sei, nach dem Motto: Der Krieg ist vorbei, lasst uns verhandeln (während wir immer noch einige Teile der Ukraine kontrollieren). Aber selbst, um dort hinzukommen, musst du auch wenigstens die Initiative zurückgewinnen. Wenn wir auf den Ersten Weltkrieg zurückblicken, dann sehen wir 1918 eine gescheiterte deutsche Offensive und eine Kette alliierter Erfolge. An diesem Punkt war es offensichtlich, dass erstens Deutschland den Krieg nicht mehr würde fortführen können. Und zweitens, dass es nicht in der Lage ist, die Initiative zurückzugewinnen. Es gab auch einen Konsens an der Heimatfront, dass man genug vom Krieg hatte.

Ich denke, dass ist der Grund, warum einige derart viel Hoffnung auf diese Offensive setzten. Sie dachten, dass wenn die Ukraine wirklich erfolgreich wäre, wenn sie die russischen Geländegewinne seit dem 24. Februar vollständig rückgängig machen könnte, wenn sie die Landbrücke zur Krim abschneiden könnte, dann könnten wir in eine Situation kommen, in der Russland beschließt, dass nun genug ist. Und das wiederum ist der Grund, warum eine strategische Initiative vonnöten ist, und warum Offensiven notwendig sind.

Weil Russland ansonsten zu dem Schluss kommen könnte, dass es für sie reicht in der Defensive zu bleiben und die Verhandlungsposition zu verbessern. Und wenn sie die Stellungen vor Ort verteidigen können, könnten sie beschließen, dass es mit der Defensive reicht; dann wird die Ukraine früher oder später verhandeln müssen. Daher ist offensives Vorgehen notwendig – nicht einfach eine Gegenoffensive und nicht einfach nur das Ausnutzen russischer Fehler. Die Leute haben im letzten Jahr diesen großen Fehler gemacht, als sie auf die beiden ukrainischen Gegenoffensiven schauten und dachten, die Ukraine hätte die strategische Initiative übernommen. Das war aber Unsinn – wir haben lediglich russische Fehler ausgenutzt.

Theoretisch ist alles ganz einfach. Du kombinierst defensives und offensives Vorgehen, du änderst das Verhältnis der Kräfte, du mobilisierst in einem Tempo, das es ermöglicht, den Gegner zu zerstören, mehr zu produzieren, und den Gegner daran hindert, sich neu aufzustellen. Natürlich gibt es da sehr viele Beschränkungen und Grenzen, wenn wir darüber sprechen, wie die Ukraine die strategische Initiative teilweise zurückgewinnen kann. Russland hat Atomwaffen, was bedeutet, dass in den Köpfen unserer Verbündeten immer ein Abwägen zwischen der notwendigen Unterstützung und Überlegungen zum Eskalationsmanagement stattfindet. Es gibt auch das Problem, wie man die Produktion in Russland schrumpfen lassen kann. Wenn man sich nämlich wiederum das Beispiel des Zweiten Weltkrieges anschaut, gibt es dieses Mal keine strategischen Bombenangriffe.

Wenn man sich Karten anschaut und sich vorstellen würde, dass es keine Einschränkungen für die Fähigkeiten der Ukraine gäbe, zu kämpfen… die besten Angriffspunkte liegen außerhalb der Ukraine! Das wäre der beste Weg, aus diesem wirklich schwierigen Stellungskrieg herauszukommen: Erst nach Woronesch vorstoßen, und dann nach Süden abbiegen, nach Rostow, und die Stellungen der russischen Kräfte würde dann vollkommen von der Krimbrücke abhängen. Aber wir können es nicht machen. Und das ist das Problem.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Das Interview mit Mykola Bielieskov wurde Ende September 2023 von Fabrice Deprez geführt und erschien auf Englisch in dessen Substack-Newsletter Ukrainian Pulse und ist zugänglich unter Externer Link: https://eastradar.substack.com/p/ukrainian-pulse-6. Die deutsche Übersetzung basiert auf einem längeren, editierten Gesprächsauschnitt.

Die Redaktion der Ukraine-Analysen dankt Fabrice Deprez und Mykola Bieleskov für die Erlaubnis zum Nachdruck des übersetzten Interviews.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Mykola Bielieskov arbeitet am Nationalen Institut für strategische Studien des ukrainischen Präsidenten in der Abteilung für Verteidigungspolitik. Seit 2022 ist er außerdem Chef-Analyst bei der ukrainischen Wohltätigkeitsorganisation Come Back Alive.