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Die Medienlogik der Informationsintermediäre und ihre Bedeutung für Meinungsbildung

Jan-Hinrik Schmidt

/ 7 Minuten zu lesen

Wollen wir uns eine Meinung zu Themen oder Entscheidungen von gesellschaftlicher Relevanz bilden, können wir uns nicht ausschließlich auf unser eigenes Erleben im Alltag verlassen. Vielmehr sind wir darauf angewiesen, mit Hilfe von Medien einen Überblick zu gewinnen.

Noch spielen die klassischen Medien, wie Print, TV und Radio, eine wichtige Rolle bei der Informationsvermittlung. (CC, Stefan Lampe für bpb.de) Lizenz: cc by/3.0/de

Wollen wir uns eine Meinung zu Themen oder Entscheidungen von gesellschaftlicher Relevanz bilden, können wir uns nicht ausschließlich auf unser eigenes Erleben im Alltag verlassen. Vielmehr sind wir darauf angewiesen, mit Hilfe von Medien einen Überblick zu gewinnen, und zwar in mehrerlei Hinsicht: Erstens helfen uns Medien dabei, überhaupt erst Kenntnis von vergangenen und anstehenden Ereignissen zu erhalten, oder die verschiedenen Alternativen zu erfahren, die zu einer Entscheidung, bei einer Wahl oder ähnlichem existieren. Medien vermitteln uns also Wissen, um Meinungsbildung auf informierter Grundlage betreiben zu können. Zweitens ordnen Medien Themen für uns ein. Aus der Medienberichterstattung können wir einen Eindruck davon gewinnen, welche Ereignisse oder Fragen gerade "auf der gesellschaftlichen Tagesordnung" stehen; man spricht hier auch von der "Agenda-Setting"-Funktion der Medien. Zudem bettet mediale Berichterstattung durch Auswahl und Darstellung von Themen diese immer in rahmende Deutungsmuster beziehungsweise "Frames" ein. Drittens schließlich helfen Medien uns dabei, ein Gespür für das Meinungsklima in der Gesellschaft zu entwickeln, also einen Eindruck davon zu gewinnen, ob wir mit einer bestimmten Haltung mit der Mehrheit der Bevölkerung übereinstimmen oder uns eher in der Minderheit befinden.

Die beschriebenen Mechanismen und Einflussfaktoren sind für journalistisch-publizistische Massenmedien zwar nicht vollständig, aber doch hinreichend gut erforscht. Mit dem Internet, und speziell mit den sozialen Medien, hat sich in den vergangenen Jahren das Gefüge der Öffentlichkeit allerdings verändert. Plattformen wie Facebook, YouTube, Instagram und Twitter, aber auch die Suchmaschine Google sind für viele Menschen zu unverzichtbaren Medienangeboten geworden, um Informationen zu allen nur erdenklichen Themen zu erhalten oder selbst zu verbreiten. Sie fungieren als "Intermediäre", die selbst keine eigenen Inhalte produzieren, sondern die Voraussetzung schaffen, dass ihre Nutzer Inhalte aller Art verbreiten bzw. auffinden können. Doch welchen Einfluss haben sie auf die Meinungsbildung? Wo funktionieren sie anders als die vertrauten journalistisch-publizistischen Angebote aus Fernsehen, Radio und Print?

Die "Medienlogik" der Intermediäre: Drei Prinzipien

  1. Als erstes Prinzip bringen die Intermediäre eine eigene Form der Bündelung von Informationen ins Spiel. Publizistische Angebote wählen nach journalistischen Kriterien Themen aus, bereiten sie auf und verbreiten sie als "Sendung" oder "Ausgabe", also als Paket von Inhalten mit abgrenzbarem Umfang und Erscheinungsdatum. Die Intermediäre hingegen bieten ihren Nutzerinnen und Nutzern einen ständig aktualisierten Strom von Informationen, in den Inhalte aus ganz unterschiedlichen Quellen eingehen können: journalistische Nachrichten genauso wie privat-persönliche Status-Updates, strategisch gesetzte Botschaften von politischen Parteien oder Bürgerinitiativen genauso wie kommerziell motivierte Inhalte von Unternehmen, Marken oder "Influencern". Für den Facebook-Newsfeed oder die Twitter-Timeline gibt es keinen Redaktionsschluss und kein Erscheinungsdatum – die Intermediäre stellen uns bei jedem Besuch aufs Neue ein aktualisiertes Informationsbündel zusammen.

  2. Damit eng verbunden ist ein zweites Prinzip, nämlich die Personalisierung von Informationsangeboten. Publizistische Angebote wie die Tagesschau oder die Samstagsausgabe der Lokalzeitung sehen für alle Menschen gleich aus. Die Startseite von Facebook oder Instagram unterscheidet sich aber von Nutzerin zu Nutzer. Dafür sind zwei Mechanismen verantwortlich: Zum einen entscheiden Nutzerinnen und Nutzer selbst, welchen anderen Personen, Gruppen oder ähnlichem sie "folgen" wollen. Dadurch setzen sie sich ihr eigenes personalisiertes Repertoire an Quellen zusammen, die den unter a) beschriebenen Informationsstrom speisen. Zum anderen sind im Hintergrund Empfehlungs- und Filteralgorithmen am Werk, die die zahlreichen bewusst oder unbewusst hinterlassenen Datenspuren einer Person nutzen, um weitere Inhalte oder Kanäle vorzuschlagen.

  3. Das dritte Prinzip, das die Informationsintermediäre – mit Ausnahme von Google – kennzeichnet, ist das Integrieren von zwei bis dato weitgehend getrennten Kommunikationsmodi. Publizistische Angebote vertreten, wie der Name schon verrät, den Modus der Publikation: Eine kleine Gruppe von "Sendern" wählt Informationen aus, bereitet sie auf und verbreitet sie dann an eine verstreute Masse von "Empfängern". Das Publikum der Massenmedien hat nicht die Möglichkeit, auf dem gleichen Kanal "zurück zu senden", es handelt sich in dieser Hinsicht also um einseitige Kommunikation. Demgegenüber ist die Konversation ein dialogischer Kommunikationsmodus, bei dem "Sender"- und "Empfänger"-Rollen rasch wechseln können. Wir finden diesen Modus im Gespräch von Angesicht zu Angesicht, aber auch via Telefon oder Brief. Das Internet lässt die klaren technischen Grenzen zwischen diesen Modi verschwinden. Auf Facebook oder YouTube etwa finden wir sowohl publizistische Kommunikation, weil journalistische Angebote ihre Nachrichten dort ebenfalls verbreiten, als auch Kommunikation im Modus der Konversation, etwa in den Kommentarbereichen unter einem Video. Nutzerinnen und Nutzer können sich nun also direkt und für andere Personen sichtbar zu Wort melden und eine journalistisch erstellte Meldung liken, kommentieren oder an ihr eigenes Kontaktnetzwerk weiterleiten.

Konsequenzen für die Meinungsbildung zwischen Fragmentierung und Hate Speech

Diese Prinzipien der Medienlogik von Intermediären – notgedrungen in sehr groben Zügen nachgezeichnet – bleiben nicht folgenlos für die Meinungsbildung ihrer Nutzerinnen und Nutzer. Entlang der eingangs beschriebenen generellen Mechanismen lassen sich diese Konsequenzen näher beschreiben, wobei deutlich wird, dass sie nicht per se "gut" oder "schlecht" sind.

In Hinblick auf die Vermittlung von Wissen etwa tragen Informationsintermediäre dazu bei, dass Menschen Zugang zu einer bislang ungekannten Fülle von Informationen und Daten zu allen nur erdenklichen Themen haben. Für die Meinungsbildung heißt das unter anderem, dass Menschen über die journalistische Berichterstattung hinausgehen und Themen vertiefend recherchieren können. Umgekehrt können Intermediäre Vielfalt für ihre Nutzerinnen und Nutzer aber auch einschränken: Denn die meisten Menschen neigen kognitionspsychologisch dazu, sich in der Regel nur sehr selektiv zu informieren und insbesondere solche Informationen zu vermeiden, die das eigene Weltbild in Frage stellen. Hinzu kommt die Tendenz von Menschen, sich mit anderen Personen zu umgeben, die ihnen – zum Beispiel in Hinblick auf Bildungsstand oder politische Einstellungen – ähnlich sind. Die momentan gängigen Personalisierungsalgorithmen verstärken diese Tendenzen, weil sie vorrangig darauf achten, welche Informationen eine Person in der Vergangenheit bereits als relevant eingeschätzt hat (gemessen etwa durch Klicks oder Verweildauer) sowie was Mitglieder ihres bzw. seines erweiterten Netzwerks erstellt, kommentiert oder empfohlen haben. Im Extremfall kann es so im Lauf der Zeit zu "Filterblasen" kommen.

Auch im Hinblick auf die Zuweisung von Relevanz zu bestimmten Themen oder Inhalten haben Intermediäre einen Doppelcharakter. Einerseits können sie sichtbar machen, welche Ereignisse oder Themen die Nutzerinnen und Nutzer gerade für relevant halten, und inwieweit diese "Publikumsagenda" möglicherweise von der journalistischen Agenda abweicht. Zudem können die von publizistischen Medien hergestellten Deutungsmuster oder "Frames" zu bestimmten Themen angesprochen, kritisch reflektiert und durch alternative Deutungsmuster ergänzt werden. Andererseits besteht das Risiko, dass sich rund um konkurrierende Relevanzzuschreibungen und Frames herum Gruppen von Nutzerinnen und Nutzern bilden, die sich in ihren eigenen "Nischen" einrichten und nicht mehr mit anderen Gruppen verbunden sind – es also zu einer Fragmentierung von Öffentlichkeit kommt.

Hinsichtlich der Repräsentation von Meinungen schließlich eröffnen insbesondere die sozialen Medien zahlreiche Möglichkeiten, sich in Debatten zu gesellschaftlich relevanten Themen einzubringen und die eigene Meinung kund zu tun. Dies erhöht zugleich auch die Chance, einen Einblick in das Meinungsklima zu gewinnen, gerade im eigenen erweiterten sozialen Umfeld, wie es sich zum Beispiel in den Facebook-Kontakten wiederspiegelt. Die Kehrseite ist, dass Kommunikationsräume entstehen können, in denen nicht der verständigungsorientierte Austausch von Argumenten im Vordergrund steht, sondern wo sich Menschen wechselseitig in ihrer vorgefassten Meinung bestätigen. Diese "Echokammern", in denen nur noch zu Gehör kommt, was dem Gruppenkonsens entspricht, sind vor allem dann problematisch, wenn sie um extreme, intolerante und undemokratische Haltungen herum entstehen und die Meinungsäußerungen die Grenzen des Zulässigen streifen oder gar überschreiten ("hate speech").

Mehr Transparenz als demokratische Notwendigkeit

Diese Bemerkungen haben deutlich gemacht, dass Intermediäre sowohl demokratisch wünschenswerte als auch bedenkliche Entwicklungen unterstützen können. Dies soll nicht als Ausdruck wissenschaftlicher Unentschlossenheit verstanden werden – es gibt schlicht einfach nicht "die eine Wirkung" von Medien beziehungsweise Intermediären auf ihre Nutzerinnen und Nutzer. Anders gesagt: Ob Intermediäre nun dabei helfen, die gesellschaftliche Vielfalt abzubilden und so demokratische Meinungs- und Willensbildung zu fördern, oder ob sie den Zerfall von gesellschaftlicher Öffentlichkeit vorantreiben, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Zahlreiche empirische Studien der vergangenen Jahre haben Belege dafür geliefert, dass etwa die Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien oder politisch extremen Positionen tatsächlich in ihre eigenen abgeschotteten Informationswelten abtauchen können. Dies ist aber nicht zwangsläufige Folge der Nutzung von Intermediären, denn für andere Nutzerinnen und Nutzer fördern sie die ungeplante, teils auch überraschende Konfrontation mit Informationen, wirken also potenziell horizonterweiternd.

Hinzu kommt, dass sich nur ein sehr kleiner Anteil der Deutschen vorrangig oder gar ausschließlich in den sozialen Medien über Nachrichten zu aktuellen Themen informiert. Die Informationsrepertoires der meisten Bürgerinnen und Bürger enthalten nach wie vor auch publizistische Medienangebote. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, von den Betreibern der Intermediäre Transparenz über ihre Funktionsweise und die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung einzufordern. Denn auf lange Sicht ist es demokratisch nicht tragbar, wenn ein Bestandteil gesellschaftlicher Öffentlichkeit und Meinungsbildung der gesellschaftlichen Kontrolle und Gestaltung entzogen bleibt.

Weiterführende Quellen:

  • Hasebrink, Uwe: Interner Link: Meinungsbildung und Kontrolle der Medien. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.) Dossier Medienpolitik (2016).

  • Hölig, Sascha/Uwe Hasebrink: Reuters Institute Digital News Report 2018 – Ergebnisse für Deutschland. Arbeitspapiere des Hans-Bredow-Instituts Nr. 44, 2018 (Externer Link: PDF).

  • Schmidt, Jan: Social Media. 2. Auflage. Wiesbaden 2018.

  • Schmidt, Jan-Hinrik et al.: Zur Relevanz von Online-Intermediären für die Meinungsbildung. Arbeitspapier des Hans-Bredow-Instituts, Nr. 40, 2017 (Externer Link: PDF).

  • Schweiger, Wolfgang et al.: Algorithmisch personalisierte Nachrichtenkanäle. Begriffe, Nutzung, Wirkung. Wiesbaden 2019.

Weitere Inhalte

ist Senior PostDoc für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation am Leibniz-Institut für Medienforschung|Hans-Bredow-Institut. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf dem Zusammenhang von Medienwandel und dem Wandel von Öffentlichkeit, Meinungsbildung und gesellschaftlichem Zusammenhalt.