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Podcast: Netz aus Lügen – Die Zeitenwende (8/8) | Digitale Desinformation | bpb.de

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Podcast: Netz aus Lügen – Die Zeitenwende (8/8)

Christian Alt Lena Puttfarcken Katharin Tai

/ 23 Minuten zu lesen

Seit 24. Februar führt Russland Krieg gegen die Ukraine. In der letzten Folge schauen wir noch einmal auf russische Desinformationskampagnen – aber auch darauf, was man gegen sie tun kann.

Netz aus Lügen - Die Zeitenwende (8/8)

Die globale Macht von Desinformation

Netz aus Lügen - Die Zeitenwende (8/8)

Seit 24. Februar führt Russland Krieg gegen die Ukraine. In der letzten Folge schauen wir noch einmal auf russische Desinformationskampagnen – aber auch darauf, was man gegen sie tun kann.

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Transkript "Netz aus Lügen – Die Zeitenwende (8/8)"

[00:00]

ZSP Selenskij

"Man sagt Ihnen, wir seien Nazis. Aber könne man wirklich ein Volk Nazis nennen, das mehr als acht Millionen Opfer erbracht hat, um den Nationalsozialismus zu besiegen?"

ZSP Scholz

"Wir erleben eine Zeitenwende, und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor."

ZSP Putin

"Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben.

ZSP Selenskij

"Wer wird darunter leiden? Menschen! Wer will das nicht – mehr als irgendetwas? Menschen! Wer kann das verhindern? Menschen! Gibt es solche Menschen unter Ihnen – ich bin davon überzeugt."

PAUSE

Das sind O-Töne aus den letzten Wochen. Seit dem Angriff Putins auf die Ukraine am 24. Februar frühmorgens, ist nichts mehr wie zuvor. Die deutsche Außen- und Verteidigungspolitik hat in nur 72 Stunden eine 180-Grad-Wende gemacht.

Waffenlieferungen in die Ukraine, eine teilweise Entkopplung Russlands vom globalen Bankensystem SWIFT und eine Aufstockung des eigenen Verteidigungsetats um 100 Milliarden Euro. Deutsche Medien berichten teilweise nicht mehr aus Moskau, mehrere unabhängige russische Fernsehsender mussten den Betrieb einstellen , Facebook und Twitter sind aus Russland nicht mehr zu erreichen.

Und auch bei dem Thema "Desinformation” gelten nun andere Regeln.

ZSP Von der Leyen

"Die Europäische Union wird in einem weiteren beispiellosen Schritt die Medienmaschine des Kremls verbieten. Die staatlichen Organisationen Russia Today und Sputnik - sowie ihre Tochtergesellschaften - werden nicht weiter Lügen verbreiten können, um Putins Krieg zu rechtfertigen und unsere Union zu entzweien."

OPENER

Netz aus Lügen - die globale Macht von Desinformation. Ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung. Folge 8: Die Zeitenwende

[02:22] Hallo, mein Name ist Ann-Kathrin Büüsker und eigentlich… ja, eigentlich hatten wir diese letzte Folge ganz anders geplant. Wie schon in der letzten Folge angekündigt, wollten wir in einem Zweiteiler nach Auswegen aus der Welt der Desinformation schauen. Und werden doch von der Wirklichkeit wieder eingeholt. Denn der Krieg gegen die Ukraine, er ist auch ein Krieg der Bilder und der Lügen.

Also besteht diese Folge aus zwei Teilen - ein letztes Mal beschäftigen wir uns mit den Auswirkungen von Desinformation, also dem gezielten Streuen von Falschinformationen, die anderen schaden können.

Bevor wir zu möglichen Auswegen kommen, damit umzugehen, wollen wir uns das, was die letzten Tage und Wochen passiert ist durch drei Linsen anschauen. 1. Welche Desinformationsoperationen sehen wir ganz aktuell? 2. Was ist von dem vorgeschobenen Kriegsgrund der "Entnazifizierung der Ukraine” zu halten? und 3. Wie bestimmt Putins Weltsicht diesen Krieg? Ein Krieg, der ja eigentlich schon seit 2014 läuft und jetzt eine neue Eskalationsstufe erreicht.

Ok, lasst uns anfangen. Wir arbeiten jetzt schon mehr als ein halbes Jahr an diesem Podcast und in den vergangenen Tagen sehen wir, wie aktuell viele Dinge sind, über die wir gesprochen haben.

Das fängt schon in Folge 1 an, da ging es um die Operation Ghostwriter. Wir erinnern uns: Das ist die Operation, in der die Konten von Persönlichkeiten und Institutionen gehackt wurden, um von dort aus authentisch aussehende Desinformation zu verbreiten. In einem Blogeintrag vom 27. Februar schreibt Meta, der Konzern, der bis vor kurzem Facebook hieß:

ZSP Meta

"In den vergangenen Tagen haben wir bemerkt, dass Ghostwriter sich zunehmend Ziele in der Ukraine vorgenommen hat, einschließlich dem ukrainischen Militär und Personen der Öffentlichkeit des Landes."

Parallel melden deutsche Tageszeitungen wie die Frankfurter Rundschau, dass ihre Kommentarbereiche überlaufen. Zahlreiche Kommentare mit teilweise wortgleichen Pro-Putin-Botschaften musste die Zeitung zu Beginn des Krieges bearbeiten. Sogar die Kommentarfunktion auf Facebook musste zwischenzeitlich eingeschränkt werden: Facebook hat ein Limit von 10.000 Kommentaren, die pro Tag gelöscht werden können - das Limit war durch die Vielzahl der Kommentare erreicht.

PAUSE

[03:22] An vielen Stellen bedient sich die pro-russische Seite klassischer Desinformation. In der Woche vor dem Angriff ging zum Beispiel ein Video durchs Netz, das beweisen soll, wie pro-ukrainische Saboteure einen Chlorgasbehälter in Donezk, in der Ostukraine, sprengen wollten.

ZSP Video

Auch die staatliche Nachrichtenagentur Russlands TASS berichtete über den Vorfall. Das investigative Recherchenetzwerk Bellingcat konnten aber nachweisen, dass das Video gefälscht war. Immerhin hört man dort eine Explosion, die genau dieselbe Audiospur hat, wie ein Video aus Finnland. Das wurde schon im Jahr 2010 auf Youtube hochgeladen.

Aber all das verblasst hinsichtlich der großen Lüge, die der Invasion zugrunde liegt. Die Ukraine sei regiert von Neonazis, eine drogenabhängige Bande rund um Präsident Wolodymyr Selenskij.

ZSP Putin

"Ich appelliere noch einmal an die Soldaten der Ukraine! Lasst nicht Neo-Nazis und Nationalisten eure Kinder, Frauen und alten Menschen als menschliche Schutzschilde benutzen. Ihre Väter, Großväter und Urgroßväter haben nicht gegen die Nazis gekämpft, um unser gemeinsames Vaterland zu verteidigen, damit die heutigen Neonazis die Macht in der Ukraine übernehmen können."

ZSP Behrends

"Putin hat ja schon 2014 mit diesem Narrativ gearbeitet, dass die Ukrainer Nazis seien und dass man deswegen auf der Krim eingreifen müsse und die russische Bevölkerung zu schützen und auch im Donbas. Das ist natürlich Unsinn."

Das ist der Historiker Jan Claas Behrends, der an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder unterrichtet. Ihn haben wir in Folge 3 schon gehört.

ZSP Behrends

"Insofern, als dass der jetzige Präsident der Ukraine beispielsweise, Herr Silensky, ja Jude ist und sozusagen eines der wenigen Länder außerhalb von Israel, wo Juden in hohen Positionen sind die Ukraine ist. Insofern ist es mit der Entnazifizierung natürlich ein vorgeschobenes Propaganda Argument. Es macht aber insofern Sinn für Putin, weil er natürlich anschließt an diesen Diskurs des Zweiten Weltkriegs oder wie man Russland sagt, des Großen Vaterländischen Krieges, wo ja der Kampf gegen die Nazis und gegen den Faschismus geführt wird. Und er versucht sich eben in diese Tradition von 1941 bis 45 zu stellen und damit sozusagen natürlich auch zu betonen, dass das moralische Recht auf Russlands Seite sei."

Putin verkauft seiner Bevölkerung den Krieg als Befreiungskrieg. Obwohl, das ist das falsche Wort: im offiziellen Sprech des Kremls heißt es "Sondermilitäroperation”. Das Wort "Krieg” ist in russischen Medien faktisch verboten. Auch "Angriff” oder "Invasion” darf man nicht sagen. Die russische Regierung behauptet, es gäbe in der östlichen Ukraine, und zwar genauer: in den Gebieten Luhansk und Donezk einen Genozid an der dortigen russischen Bevölkerung. Beweise dafür gibt es keine.

ZSP Gumenyuk

"Was während der Revolution der Würde und der Annexion der Krim passiert ist, das war nicht einfach nur die politische Verzerrung."

Das ist die ukrainische Journalistin Natalia Gumenyuk. Sie haben wir im letzten Herbst auf einer Tagung in Tutzing zu Desinformation getroffen. Sie beschrieb uns schon damals, wie die russischen Medien eine komplett neue Realität erfinden.

ZSP Gumenyuk

"Es war die komplette Neuerfindung einer anderen Realität. Die russischen Medien haben ausgedachte Falschmeldungen verbreitet. Unglücklicherweise haben wir international, nicht nur in der Ukraine unglaublich viel Zeit damit verbracht das zu erklären. Ich hatte ewige Gespräche mit auswärtigen Journalistinnen und Journalisten, die einfach nicht einsehen wollten, dass russische Medien sich tatsächlich Geschichten ausdachten, einfach lügten."

Aber wozu die ganze Geschichte? Wozu die Lügen? In Putins Reden aus der Woche des Kriegsbeginns gibt es viele Verweise auf die Geschichte der Ukraine. Putin spricht davon, dass Lenin 1917 einen großen Fehler begangen habe, als er die Ukraine als eigenständiges Land organisierte. Das russische Zarenreich, das durch die Oktoberrevolution sein Ende fand, bestand damals aus drei großen Gebieten, die heute grob den Grenzen Russlands, Belarus und der Ukraine zuzuschreiben sind. Das Ziel Putins scheint zu sein: das Zarenreich mit allen Mitteln wieder zu vereinen. Historiker Jan Claas Behrends:

ZSP Behrends

"Putin idealisiert ja mehr und mehr anscheinend das russische Zarenreich auch gar nicht mal so sehr die Sowjetunion als das Zarenreich, was da die Ukraine sozusagen als einen Teil vereinnahmt hatte. (...) Und er sieht sich sozusagen in dieser historischen Mission gewisser Weise notfalls auch mit Gewalt. Diese drei früheren Teile des russischen Reiches sozusagen wieder zusammen zu führen, um Russland dann auch wieder zu größerer Bedeutung und letztendlich eben auch imperialer Größe zu verhelfen."

PAUSE

Dass diese Großmachtansprüche wirklich ein Grund für den Krieg sind, zeigt auch ein versehentlich veröffentlichter Artikel der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Novosti. Er war vermutlich vor dem Krieg schon geschrieben worden und feierte zwei Tage nach Kriegsbeginn eine Eroberung Kiews, die so nicht stattgefunden hat. "Eine neue Welt wurde geboren”, heißt es dort. Die Ukraine wird als "Kleinrussland” referenziert. Und in Richtung Westen heißt es: "Russland hat den Westen nicht nur herausgefordert, sondern ihm auch gezeigt, dass die Ära der westlichen globalen Dominanz endgültig vorbei ist”.

Die Frage, die sich alle natürlich gerade stellen: Wie sieht das die russische Bevölkerung? Hängt die auch den Großmachtfantasien eines russischen Zarenreichs in den Grenzen von 1917 an - oder ist das eine Privatfantasie Vladimir Putins? Historiker Jan Claas Behrends:

ZSP Behrends

"Dieses Großmachtdenken ist zumindest in den Eliten natürlich sehr weit verbreitet. Dass Russland sich schon als Großmacht definiert im osteuropäischen Raum und auch eine grundsätzlich andere Herangehensweise hat an die Souveränität seiner Nachbarn. Schon unter Jelzin war klar, dass Russland eigentlich sozusagen die Souveränität von kleineren Staaten wie Estland, Lettland und Litauen nur bedingt anerkennt, dass ein viel aus russischer Sicht dann sozusagen Staaten minderen Ranges ist, die eigentlich sozusagen ihre Politik mit Moskau abstimmen sollten. Das ganze Ausmaß der Kämpfe des Sterbens, auch letztendlich dieses militärischen Einsatzes wird ja gar nicht im russischen Fernsehen gezeigt, sondern wird den Leuten vorenthalten."

PAUSE

Über das russische Fernsehen haben wir in Folge 3 unseres Podcasts schon viel erzählt. Russland ist ein großes Land, in manchen Teilen des Landes ist die Internetverbindung nicht stabil. Aber…

ZSP Gaufman

"Aber da hat man Fernsehen, also besonders die ersten zwei Kanäle Perwy kanal, man kann auch Rossija 1, das ist so eine. Also die beiden sind unter gewissen Kontrolle der russischen Regierung."

Elizaveta Gaufman ist Professorin für Russischen Diskurs und Politik an der Universität Groningen. Auch mit ihr haben wir für die Folge 3 gesprochen, in der es um russische Desinformationskampagnen geht.

ZSP Gaufman

"Man kann da keine direkte Anti-Putin Narrative sehen. Und z.B. als Nawalny. Alexej Nawalny im Krankenhaus in Russland war, als er vergiftet wurde. Da gab's eine, eine brillante Vorstellung von Ivan Urgent im ersten Kanal. Er hat kein Wort über alle gesagt, aber er hat diese einfachen Nachrichten aus ganz Russland so dargestellt, dass alle feststellen konnten, dass er eigentlich über Nawalny redet, obwohl er das Wort noch nicht einmal gesagt hat."

Iwan Urgant macht in Russland eine populäre Comedyshow. Gaufman meint: Künstler wie er schaffen es, Kritik an der Regierung auch im Staatsfernsehen unterzubringen. Man muss nur zwischen den Zeilen lesen können.

ZSP Gaufman

"Eigentlich glauben nicht alle Russen an das, was sie im Fernsehen hören. Sie sagen, sie wissen alle, dass es von der Regierung gesteuert wird und aber trotzdem, das hat einen Effekt. Und besonders während der Krise in der Ukraine haben auch die Leute, die früher komplett antisowjetisch waren, waren plötzlich auf der Seite der Regierung. Und da fragt man, Ja okay, aber das glaubst du jetzt, du hast doch auch keine sowjetischen Zeitungen geglaubt. Warum glaubst du dem Fernsehen jetzt plötzlich? Es gibt auch so eine Art Sprichwort in Russland. Du musst keine sowjetischen Zeitung vor dem Frühstück lesen. Und das, das wiederholt jetzt auch du. Du musst kein Fernsehen vor dem Frühstück schauen. Da gibt's keine Wahrheit. Sowieso."

Der Komiker Iwan Urgant hat sich übrigens für Frieden in der Ukraine stark gemacht. Seine Comedy-Show wurde zumindest vorerst abgesetzt. Genau wie weitere TV-Sender Russlands, die am 1. März ihre Sendeerlaubnis verloren haben.

Wir wissen, die Situation gerade kann ganz schön hilflos machen. Gerade auch, wenn wir über Desinformation sprechen. Wir erinnern uns nochmal, was uns der Chef des Thüringischen Verfassungschutzes Stephan Kramer in der ersten Folge dieses Podcasts gesagt hat:

ZSP Kramer

"Ich will es nochmal deutlich sagen, das sind nicht irgendwelche Verrückten, die sich ausgedacht haben, sowas zu tun, sondern es sind in der Regel staatliche Institutionen dieser Länder, die diese Maßnahmen ganz gezielt einsetzen, um damit auch eine politische, militärische oder andere Strategie zu verfolgen. Also wir sollen nicht so naiv sein zu glauben hachja, die können ja gar nichts dafür, sondern das sind irgendwelche Leute, die sich das ausgedacht haben, irgendwelche Gangster, die damit nur irgendetwas erringen wollen, sondern das sind ganz gezielte Maßnahmen, die ihr in ihrer Art und Umfang auch nur durch staatliche und mit staatlicher Unterstützung eingesetzt werden können. In einer neuen Form von Krieg, der geführt wird. Also hier geht es gar nicht mal mehr darum, dass Soldatinnen und Soldaten auf dem Schlachtfeld mit dem Gewehr rumlaufen, sondern hier wird eine Form von Kriegsführung genutzt, um andere Gesellschaften zu destabilisieren, um politische Systeme umzuwälzen, um z.B. internationale Allianzen aufzubrechen."

[14:46] Was wollen wir als einzelne dagegen ausrichten? Es gibt tatsächlich jede Menge, was wir tun können. Deshalb erzählen wir in der zweiten Hälfte der Folge jetzt zwei Geschichten von Menschen, die sich seit Jahren gegen Desinformation wehren. Denn, wenn die letzten Wochen eines gezeigt haben: wir haben als Individuen viel mehr Macht als wir denken. Schauen wir noch einmal nach Taiwan. Ein Land, das - wie wir letzte Folge schon gehört haben - seit Jahren gegen Desinformation kämpft. Und jetzt nach dem Überfall auf die Ukraine ohnehin sorgenvoll auf die Weltpolitik schaut. Denn China erkennt den Staat Taiwan nicht an und sieht den praktisch unabhängigen und selbstregierten Inselstaat als Teil seines Territoriums.

In Taiwan sitzen Menschen, die vor ein paar Jahren beschlossen haben: Uns reicht es jetzt mit Desinformation!

ZSP Mumu und Shuhuai

Mumu: "Hi, also ich bin Mumu, und der andere hier ist Shuhuai."
Shuhuai: "Hi!"
Mumu: "Er ist schon seit dem Anfang dabei und ist der Vorsitzende unseres Boards."
Shuhuai: "So ein bisschen das Mädchen für alles."
Mumu: "Ich bin als einzige Person Vollzeit bei Fake News Cleaner, die anderen Mitglieder sind alle Freiwillige - ohne sie würden wir niemals so viel schaffen."

"Fake News Cleaner” wurde 2018 in der Stadt Taichung an der Westküste von Taiwan gegründet. Die Gründerinnen und Gründer machten sich Sorgen wegen der vielen Falschinformationen, die ihnen im Netz und in ihrem Bekanntenkreis begegneten.

Ein kurzer Begriffscheck: Während wir zuvor von Desinformation gesprochen haben, also Informationen, die aus böswilligen Absichten geteilt und verbreitet werden und irgendeine Art von Schaden verursachen, verwenden Mumu und Shuhuai den chinesischen Begriff (假訊息), der wörtlich übersetzt Falschinformationen heißt - auch weil die Intention hinter der Verbreitung oft nicht eindeutig ist.

ZSP Mumu

"Damals gab es viele Leute, die sich Sorgen wegen Falschinformationen machten, die den Menschen auf verschiedene Art schaden könnten –sei es wirtschaftlicher Schaden, gesundheitlicher Schaden, oder Schaden für kommende Generationen. Schon damals gab es viele, die versuchten, das mit Sharepics und Richtigstellungen zu bekämpfen, aber damit konnte man nur sehr schwer mit den Menschen ins Gespräch kommen, die man erreichen wollte. Meist hielt dann jede Seite an ihrer Meinung fest und glaubte am Ende weiter diesen Kram. Deswegen sind wir in die Fußgängerzonen gegangen, um direkt und persönlich mit den Leuten zu reden, so face to face. Wir haben versucht, die Situation der Leute zu verstehen, die diese falschen Informationen glauben, und uns dann eine einfache Methode überlegt, um mit ihnen darüber zu sprechen."

Für diese Aktionen haben die Teams große Plakate gebastelt, auf denen bekannte Falschinformationen stehen, mit denen sie mit den Passantinnen und Passanten ins Gespräch kommen könnten: Haben Sie so etwas schon einmal gehört? Glauben Sie, dass es stimmt? Wenn ja, warum glauben Sie, dass es stimmt - oder eben nicht?

Anhand von konkreten Beispielen erklären sie ihren Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, wie Falschinformationen Menschen schaden können - ihnen selber, den Freundinnen, Freunden und Familienmitgliedern, denen sie sie weiterleiten, oder anderen Menschen, die sie gar nicht kennen. So wollen sie ein Bewusstsein dafür schärfen, wie wichtig es ist, nicht alles zu glauben - und zu teilen.

ZSP Mumu

"Wir geben ihnen drei einfache Schritte, die sie nutzen können, wenn sie Informationen erhalten: Zunächst kann man gucken, was in der Überschrift und in dem Inhalt steht: Löst es Gefühle in dir aus? Macht es dich wütend oder sorgt dafür, dass du dir Sorgen machst, damit du es liest oder teilst? Danach sollte man sich die Quelle anschauen und wer es geschrieben hat: Steht da ein Name dran? Gibt es jemanden, der Verantwortung für diese Informationen übernimmt?"

Hier spielt Mumu auf die Content Farms an, von denen uns der Kriminologe Puma Shen vom DoubleThink Lab in der letzten Folge erzählt hat. Wir erinnern uns: Content Farms verdienen ihr Geld damit, dass sie Artikel von irgendwelchen Quellen kopieren, leicht verändern und über ihre eigenen Webseiten verbreiten. Da steht meistens keine Autorin oder kein Autor dran.

ZSP Mumu

"Wenn die Leute nach diesem ersten Schritt Zweifel haben, ermutigen wir sie, einfach nachzufragen - zum Beispiel ihre Kinder anzurufen, die sich vielleicht im Internet besser auskennen und ihnen dabei helfen können, etwas zu verifizieren. Oder die FactChecking Tools auf der Messenger-Plattform Line zu nutzen, da zeigen wir ihnen dann auch, wie sie die benutzen können. Der letzte Schritt ist sehr wichtig: Nachdem ihr eine Nachricht überprüft habt, fragt euch, ob ihr diese Nachrichten weiterleiten wollt. Die falschen Informationen sollte man nicht weiterleiten, aber wenn sie gelernt haben, wie sie Informationen verifizieren, wollen sie vielleicht den Fact Check weiterleiten."

Auch hier appellieren die Fake News Cleaner immer wieder an das Verantwortungsbewusstsein ihrer Gesprächspartnerinnen und -partner, denn sie sind überzeugt, dass die meisten Menschen Falschmeldungen mit eigentlich guten Absichten weiterleiten. Insgesamt sind die Leute, mit denen sie sprechen, auch höflich. Wenn es bei Aktionen auf der Straße zu Meinungsverschiedenheiten kommt, könne es schon mal vorkommen, dass Leute weggehen, aber von gewaltsamen Reaktionen hat Mumu noch nie gehört.

ZSP Mumu

"Wir halten sie auch dazu an, zu überlegen, ob eine Nachricht gut für die Gesellschaft ist, wenn sie weitergeleitet wird: Als Beispiel benutzen wir oft so sensationalistische Nachrichten wie 'Pflegerin schlägt Patientin' oder 'Pflegerin schlägt Patienten'". Das ist noch nicht oft in Taiwan passiert, aber weil es hier viele Altenpflegerinnen und -pfleger aus Südostasien gibt, denken viele, bei so etwas sofort daran. Wenn so ein Video in Taiwan viral geht, kann das zu noch mehr Diskriminierung und Vorurteilen gegenüber Arbeitskräften aus Südostasien führen."

Abgesehen von den Aktionen auf der Straße gibt die Gruppe auch zweistündige Workshops, in denen sie mit ihren Teilnehmenden noch weiter in die Tiefe gehen. Die Zielgruppen und die Organisationen, die einladen, variieren stark, das reicht von Schulklassen, zu denen die Lehrerinnen und Lehrer sie einladen, über Workshops in Tempeln bis hin zu taiwanesischen Lokalpolitikerinnen und -politiker, die sie zu Workshops in ihren Wahlkreisen einladen. Insgesamt hat die Gruppe nach eigenen Angaben mehr als 160 freiwillige Mitglieder, die seit 2018 in ganz Taiwan in ihrer Freizeit mehr als 400 Workshops und Straßenaktionen durchgeführt und mit mehr als 10.000 Menschen gesprochen haben.

PAUSE

Direkte Kommunikation. Klar, verständlich, in den Fußgängerzonen, weit abseits aller digitalen Missverstehensräume. Das ist das Erfolgsgeheimnis der Fake News Cleaner aus Taiwan.

[21:00] Wem das alles zu analog ist, der kann vielleicht noch einen anderen Weg gehen um mit falschen oder aus dem Kontext gerissenen Informationen umzugehen.

ZSP Higgins

"So I'm Elliot Higgins. I'm the founder of Bellingcat and I'm currently the executive director of Bellingcat.”

Von Bellingcat haben wir eben schon gehört, aber ohne dass es vielleicht allen klar war. Bellingcat ist eine Open Source Ermittlungs-Organisation.

ZSP Higgins

"Das bedeutet, dass wir mit öffentlich zugänglichem Material aus allen möglichen Quellen arbeiten. Von Satellitenbildern auf Google Earth bis zu Social Media, zum Beispiel Videos auf Twitter und Youtube. Damit untersuchen wir eine Vielzahl von Vorfällen. Die meisten kennen uns wahrscheinlich durch unsere Recherchen über den Abschuss des Fluges MH17 oder durch unsere Ermittlungen zu russischen Attentaten. Das hat die russischen Behörden auf uns aufmerksam gemacht und machte uns auch zum Ziel von Desinformation."

Mit Elliot Higgins haben wir übrigens auch letztes Jahr gesprochen - bevor Russland in der Ukraine einmarschiert ist. Die Arbeit, die er und sein Team machen, kann man sehr gut anhand des Videos, das wir eben gehört haben, verdeutlichen. Bellingcat versuchen mithilfe von öffentlich zugänglichen Informationen Dinge herauszufinden. Dinge wie: gab es wirklich eine versuchte Sabotage auf den Chlorgasbehälter in Donezk?

Wie eben schon gesagt, haben sie beim vermeintlichen Sabotage-Video herausgefunden, dass hier eine Tonspur läuft, die aus einem mehr als zehn Jahre alten Youtube-Video stammt. Aber wie findet man so etwas raus? Die Open-Source-Detektive und -Detektivinnen scannen dafür die Meta-Daten des Original-Videos und haben hier einen Verweis auf das alte Youtube-Video gefunden.

Heutzutage ist Bellingcat eine riesige Community an Ermittlerinnen und Ermittlern. Das war aber nicht immer so:

ZSP Higgins

"Ich wollte eine Seite bauen, auf der Leute zusammen kommen, wo sie lernen wie man Open-Source-Ermittlungen durchführt und wo sie dann ihre Ergebnisse veröffentlichen können. Das Ganze ist aber so explodiert, hat sich in etwas viel, viel Größeres entwickelt. Jetzt arbeiten wir mit Institutionen wie dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zusammen, schauen uns an wie Open-Source-Beweise in diesem Setting benutzt werden können und sind an verschiedenen Themen dran."

Und es steckt im Begriff "Open Source Investigation” schon drin. Es geht hier nicht um geheime Dokumente, sondern um eine schlaue Verbindung von Daten, die ohnehin schon im Netz stehen und öffentlich verfügbar sind. Eine Arbeit, die theoretisch jeder und jede machen kann, um Desinformation an der Quelle zu factchecken.

Die größte Ermittlung, die Higgins und sein Team durchgeführt haben, ist der Absturz des Flugs MH17 am 17. Juli 2014 über der Ostukraine. Alle 298 Menschen, die in dem Flugzeug von Amsterdam nach Kuala Lumpur saßen, starben. Hier konnte Bellingcat nachweisen, dass das Flugzeug von einer russischen Buk-Rakete getroffen wurde. Die russische Regierung streitet bis heute jede Verwicklung ab, vor Gericht stehen pro-russische Separatisten. Drei von vier Angeklagten sind russische Staatsbürger. Higgins erzählt uns, wie sie sich dem Problem genähert haben.

ZSP Higgins

"Einer der wichtigsten Fähigkeiten, die wir Menschen beibringen, ist etwas, das sich Geolokalisierung nennt. Nehmen wir an, wir haben ein Video und wollen nachweisen, wo das gedreht wurde. Auf Social Media bekommt man in der Regel wenige Metadaten, wenn überhaupt. Und selbst dann muss man hier nochmal genau alles überprüfen. Also nutzen wir Elemente des Videobilds an sich und versuchen damit herauszufinden, wo das gedreht wurde. In dem Fall MH17 hatten wir ein Foto, das von einer Garageneinfahrt aus aufgenommen wurde und einen Buk-Raketenwerfer auf der Straße zeigte. Im Hintergrund ist ein Laden und ein paar andere Gebäude. Es wurde behauptet, dass es an einem von zwei Orten, die in Frage kamen, aufgenommen wurde. Wir wollten es aber genau wissen.
Da war dieses Laden-Schild im Hintergrund. Das haben wir gegoogelt - ein sehr einfaches Werkzeug. Wir haben herausgefunden, dass es diesen Laden nur an einem der möglichen Orte gibt. Aber durch diese Suche haben wir die vollständige Adresse herausgefunden. Mit dieser Adresse konnte man dann die Satellitendaten abfragen. Nachprüfen, ob die Position der Gebäude und anderer Details, die man im Hintergrund gesehen hat, stimmen. Darüber sind wir dann aber noch auf einen Youtubekanal gestoßen, auf dem jemand Videoaufnahmen dieser Orte gemacht hat. Dadurch hatten wir plötzlich ein weiteres Vergleichsbild von vor Ort und konnten beweisen, wo das Bild mit der Buk-Rakete entstanden ist."

Diese Art der Arbeit… man muss es gar nicht besonders betonen, ist natürlich sehr mühsam. Im gerade laufenden Ukraine-Krieg hängt die OSINT-Community - OSINT für Open Source Intelligence - in schnell gegründeten Chat-Servern bei Discord ab, schaut sich Truppenbewegungen bei Google Maps an und prüft viele Videos auf ihren Wahrheitsgehalt. Bellingcat ist hier eine von vielen Organisationen, die versuchen die Wahrheit herauszufinden.

Dennoch hat Higgins und sein Team eine exponierte Stellung nach den Enthüllungen zu MH17 inne. Der Kreml ging auf Konfrontationskurs. Erst im letzten Jahr wurde die Organisation als "ausländischer Agent” gelabelt.

ZSP Higgins

"Naja. Das ist über die Jahre ganz schön eskaliert. Ich mein: Das hat 2015 angefangen, als wir Russland mit dem Abschuss von Flug MH17 in Verbindung gebracht haben. Der Gegenwind kam dann aus den pro-russischen Medien. Sputnik und Russia Today waren kritisch uns gegenüber, haben uns Amateure genannt. So was eben. Später wurde es dann immer mehr und immer zielgerichteter. In einem Jahr sind zum Beispiel 50 Artikel über mich persönlich erschienen in all diesen russischen Blogs und Webseiten. Wir wussten, dass die Hälfte davon mit russischen Trollfabriken zusammenhängt - besonders weil sie alle meinen Namen auf dieselbe Art falsch geschrieben haben. Und dann wurden wir noch durch diversen Cyber-Attacken angegriffen."

Higgins sagt im Interview, dass er sehr vorsichtig geworden ist, gerade nach der Vergiftung Nawalnys. Wir erinnern uns: Der russischen Oppositionspolitiker Alexey Nawalny wurde im August 2020 mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet. Das Gift wurde von den Attentätern auf den Saum von Nawalnys Unterhose aufgetragen. Seitdem ist auch Higgins vorsichtig geworden.

In Hotels bestellt er keinen Zimmer-Service mehr. In Flugzeuge, die über russischen oder belarussischen Luftraum fliegen, steigt er nicht.

PAUSE

Wir haben jetzt zwei Geschichten gehört, wie normale Bürgerinnen und Bürger versuchen etwas gegen Desinformation zu tun. Einmal indem sie den Kampf aktiv ins Analoge verlegen. Menschen vor Ort ansprechen. Und einmal indem sie genau das Gegenteil tun. Nicht weniger Digitalität, sondern MEHR. Mehr Metadaten, mehr Quellen miteinander in Beziehung bringen, mehr Fakten.

[27:54] Während in den Fernsehnachrichten am Morgen des ersten Kriegstages Korrespondenten und Korrespondentinnen zu sehen sind, die über erste Explosionen und Grenzübertritte berichten, sehen viele Userinnen auf Tiktok dieses Video.

Es zeigt, wie ein russisch sprechender Fallschirmjäger freudestrahlend über einen kargen Landstrich fliegt. In den Kommentaren liest man: "Das ist der erste Krieg, den ich auf TikTok verfolge.”

Die Pointe daran: Das Video ist mehrere Jahre alt und zeigt gar keinen Kriegseinsatz in der Ukraine, sondern eine Übung aus dem Jahr 2015.

Aber an dem Grundgefühl könnte etwas dran sein. Hochauflösende Kameras sind an jedem Handy, die Ukraine hat - Stand jetzt - eine weitgehend stabile und schnelle Internetverbindung. Nie war es einfacher, auch die kleinen Momente eines Krieges viral gehen zu lassen.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen um ihr Leben. Und produzieren dabei Videos, die hoffentlich auch im Westen und in Russland gesehen werden.

Allen voran Präsident Wolodymyr Selenskyj

Ein eindringlicher Appell des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Er und sein Kabinett stehen mitten in Kiew, Selenskyj sagt: Der Fraktionsführer ist hier, der Premierminister ist hier, der Leiter des Präsidialamtes ist hier, ich bin hier. Wir sind alle hier.

Der frühere Fernsehstar Selenskyj weiß genau, wie mächtig Bilder sein können - gerade jetzt. Putin sieht man nur noch an großen Tischen, Meterweit entfernt von seinem Kabinett. Selenskyj gibt sich als nahbar, kollegial.

Es ist eine Botschaft, die nicht nur dem eigenen Volk gilt, sondern auch Russland. Denn die Ukrainer wissen genau, dass sie ihre Hoffnung nicht in Vladimir Putin, sondern in die russische Bevölkerung setzen müssen. So ist natürlich auch die jetzt schon viel zitierte Rede von Selenskij zu Beginn des Krieges zu verstehen. Diese hielt er bewusst auf Russisch.

ZSP Selenskij

"Worauf wollt ihr schießen? Donezk? Wo ich schon dutzende Male war? Ich habe ihre Augen und Gesichter gesehen. Im Donbas? Wo ich mit den Ortsansässigen mitgefiebert hab, als wir in der Europameisterschaft gespielt haben? Luhansk? Die Heimat der Mutter meines besten Freundes? Der Ort, wo sein Vater begraben ist? Ich spreche zwar Russisch, aber niemand in Russland weiß, was diese Namen, diese Straßen, diese Dinge bedeuten. Das hier ist unser Land. Unsere Geschichte."

In einer vernetzen Welt setzt Selenskij darauf, dass seine Bilder in Russland ankommen. Im Staatsfernsehen werden sie wohl nicht zu sehen sein. Aber vielleicht ja in den sozialen Netzwerken? Historiker Jan Claas Behrends darüber, wie realistisch das ist:

ZSP Behrends

"Das muss man wirklich differenziert betrachten, insofern, als man dann hinschauen muss. Unterschiedliche Generationen, nicht die ältere Generation, das weiß man ganz gut aus soziologischen Studien auch die schaut mehr dieses staatliche Fernsehen. Das heißt, sie klebt dann auch vielleicht ein bisschen enger an den Putin Narrativen und dann Provinz oder oder Hauptstädte, Petersburg, Moskau oder weit abgelegene Gebiete nicht. In Petersburg und Moskau haben viele Leute Freunde im Westen. (..) Aber letztlich kann man, glaube ich, schon im Großen und Ganzen sagen, dass also selbst für die Armee und die Soldaten jeder hat heute ein Smartphone oder die Familien haben zumindest Smartphones. Natürlich diese digitale Welt, auch diese digitale Vernetzung gegen Putin ein Stück weit arbeitet nicht. Und man sieht das jetzt ja auch in den letzten Tagen, dass man von Moskauer Seite sehr stark versucht, sozusagen die Nutzung auch dieser westlichen Medien einzuschränken. Also man hat ja versucht, Facebook jetzt zu blockieren. Das hat wohl nicht ganz funktioniert, auch Twitter aus Russland raus zu drängen. Wenn man nicht glauben würde, dass das viel Einfluss hätte auf die eigene Bevölkerung, würde man das ja nicht machen."

[32:58] Wir nehmen diese Folge am 14.03.2022 auf und wissen genau: Wenn sie rauskommt, wird sie vermutlich schon wieder veraltet sein. Neue Eilmeldungen sind auf unseren Smartphones aufgeschlagen, neue Dinge erschienen, die ganz dringend unsere Aufmerksamkeit benötigen. Nach acht Folgen dieses Podcasts kommen wir nicht umhin uns zu wünschen, dass es ja vielleicht auch anders sein könnte. Dass nicht der oder die Lauteste das Rennen im Internet macht, sondern diejenigen, die verlässliche Informationen liefern.

ZSP Lorenz-Spreen

"Ich denke, wenn wir das, wenn wir sozusagen uns als mündige Bürger ernst nehmen und auch von der Annahme ausgehen, dass soziale und digitale Medien eine wichtige Rolle spielen in unserem gesellschaftlichen Entscheidungsfindung, dann müssen wir ja irgendwie auch uns als einigermaßen optimistisch rational sehen."

Das ist Philipp Lorenz-Spreen, er forscht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

ZSP Lorenz-Spreen

"Das Problem ist, wir haben sozusagen die Alternative von den sozialen Medien noch nicht ausprobiert, und zwar soziale Medien, die es gut meinen mit uns und die eben nicht nur darauf optimiert sind, Klicks zu generieren."

In der fünften Folge sind wir ausführlich darauf eingegangen, wie Soziale Netzwerke funktionieren, welche Logiken hinter Plattformen wie Facebook, YouTube oder Amazon stecken und warum diese Logiken so ausschlaggebend für die Verbreitung von Desinformation sind. Soziale Netzwerke sind momentan hauptsächlich so gebaut, dass wir möglichst viel Aufmerksamkeit darauf verwenden, Dinge zu teilen, lange dort zu verweilen, und nicht so, dass wir dort auch funktionierende Diskussionen führen könnten.

Soziale Netzwerke, die es gut mit uns meinen - wie könnten die aussehen? Gar nicht so leicht rauszufinden, meint Lorenz-Spreen, denn der Forschung fehlt es an dem Zugang zu Daten. Die großen Plattformen, die wir alle tagtäglich verwenden, wollen sich nicht in die Karten schauen lassen, wollen nicht preisgeben, welche Mechanismen wie genau wirken. Gäbe es eine Art Extrazugang für Forschende - dann würde man hier wahrscheinlich echte Fortschritte machen.

Aber das ist nicht alles:

ZSP Lorenz-Spreen

"Ich denke im Prinzip und es wird vielleicht noch radikaleres Umdenken benötigen, aber im Prinzip diese Vernetzung und diese demokratisierenden Möglichkeiten, die vor allem am Anfang des Internets ganz klar im Vordergrund waren, die Hoffnung. Die sind ja eigentlich noch valide und real. Nur wurden die von diesen kommerziellen großen Plattformen glaube ich so ein bisschen platt gemacht und die haben das vereinnahmt. Und wenn man sich davon wieder was zurückholen kann, dann glaube ich, gibt es ja auch große Chancen für digitale Demokratie und kollektive Intelligenz, sozusagen wie wir, wie wir vielleicht auf Lösungen und Entscheidungen kommen."

PAUSE

Aufmerksamkeit - der Begriff, der die Algorithmen aller Sozialen Netzwerke mitbestimmt, er könnte eigentlich auch über unserer gesamten Reihe stehen. Denn in einem Netz aus Lügen wird nicht auf die Story geklickt, die am meisten gefact-checkt ist, sondern auf die, die am meisten Neugierde weckt.

Welchen Nachrichten schenken wir unsere Aufmerksamkeit? Wieso?

Dazu gehört vielleicht, nicht immer alles sofort zu wissen. In einer unübersichtlichen Nachrichtenlage nicht gleich den Twitter-Livefeed zu verfolgen, sondern einfach am nächsten Tag die Zusammenfassung.

Oder ihr hört einfach einen guten Podcast, der alles noch mal in der Tiefe zusammenfasst.

PAUSE

Das war Netz aus Lügen.

Diese Folge wurde geschrieben von Christian Alt, Katharin Tai und Lena Puttfarcken, Übersetzung: Katharin Tai. Redaktion BPB: Marion Bacher. Audio-Produktion: Sebastian Dressel. Fact-Checking: Karolin Schwarz.

"Netz aus Lügen - die globale Macht von Desinformation" ist ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung, produziert von Kugel und Niere. Produktionsjahr 2022. Die Folgen stehen unter der Creative Commons Lizenz und dürfen unter Nennung der Herausgeberin zu nichtkommerziellen Zwecken weiterverbreitet werden. Ich bin Ann-Kathrin Büüsker und wenn ihr Feedback zu dieser Folge habt, schreibt uns doch unter E-Mail Link: podcast@bpb.de. Tschüss!

Fussnoten

Weitere Inhalte

Christian Alt ist Audiojournalist, Buchautor und Gründer der Podcast-Agentur "Kugel und Niere". Für sein Feature "Eine Verschwörungstheorie Marke Eigenbau" wurde er mit dem Robert-Geissendörfer-Preis ausgezeichnet.

Lena Puttfarcken ist freie Wissenschaftsjournalistin und arbeitet unter anderem für WDR Quarks und SWR2 Wissen. Sie beschäftigt sich vor allem mit dem Klimawandel, Desinformation und Psychologie.

Katharin Tai ist Journalistin und Politikwissenschaftlerin mit einem Fokus auf ostasiatische Politik und Gesellschaft, insbesondere China, Taiwan und Hongkong. Als Journalistin schreibt sie seit 2013 für deutsch- und englischsprachige Publikationen, darunter Die Zeit, Der Spiegel, Republik Magazin und SupChina.