In Deutschland leben mehrere zehntausend Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern(-teile) in Deutschland angekommen sind. Sie sind eine besonders schutzbedürftige Gruppe und brauchen in ihren Lebenslagen als unbegleitete minderjährige Geflüchtete besondere Hilfe- und Unterstützung. Aber auch begleitete Minderjährige können erzieherischen Bedarf haben.
Der Beitrag erläutert, wer zu dieser Gruppe gehört, warum Kinder und Jugendliche unbegleitet fliehen, wie sie in Deutschland aufgenommen werden und welche Rechte und Herausforderungen sie haben.
Wer sind unbegleitete minderjährige Geflüchtete und wie viele von ihnen leben in Deutschland?
Weltweit sind Millionen Kinder auf der Flucht vor Krieg, Konflikten und Verfolgung. Ende 2024 waren rund 40 Prozent der insgesamt weltweit 123 Millionen Menschen auf der Flucht Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren – insgesamt etwa 49 Millionen. Obwohl sie nur knapp 30 Prozent der Bevölkerung unseres Planeten ausmachen, sind sie überproportional von Flucht und Vertreibung betroffen.
Als unbegleitete minderjährige Geflüchtete gelten Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die ohne Eltern(-teil) oder gesetzliche Sorgeberechtigte nach Deutschland einreisen und hier Schutz suchen.
Im Jahr 2024 wurde für 13.344 unbegleitete Minderjährige in Deutschland ein Asylerstantrag gestellt.
In der Kinder- und Jugendhilfe befanden sich Ende 2024 rund 45.800 junge Geflüchtete in stationären Hilfen oder betreuten Wohnformen. Dazu gehören sowohl unbegleitete Minderjährige als auch junge Volljährige, die weiterhin Unterstützung nach dem Kinder- und Jugendhilferecht (§ 41 SGB VIII) erhalten.
Warum sind Kinder und Jugendliche unbegleitet auf der Flucht?
Die Gründe, warum Minderjährige ohne ihre Eltern oder Sorgeberechtigten nach Deutschland kommen, sind vielfältig. Viele von ihnen wachsen in Regionen auf, die von Krieg, bewaffneten Konflikten, staatlicher Verfolgung oder politischer Instabilität geprägt sind. Andere leben in Ländern, in denen Diskriminierung, Zwangsrekrutierung, fehlender Zugang zu Bildung oder extreme Armut und Perspektivlosigkeit zum Alltag gehören.
Viele nehmen – weil es kaum legale und sichere Wege gibt, in die Europäische Union zu gelangen – gefährliche Fluchtrouten über Land und Meer auf sich, auf denen sie häufig Gewalt, Ausbeutung und schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Manche Minderjährigen verlieren ihre Angehörigen auf der Flucht oder werden unterwegs von ihnen getrennt. Andere schließen sich unterwegs vertrauten Erwachsenen oder Gruppen an, um so ihre eigene Sicherheit etwas zu erhöhen. Viele sind sehr lange auf der Flucht, bevor sie Deutschland erreichen.
Unbegleitete Minderjährige kommen aus unterschiedlichen Herkunftsregionen und -ländern. Die größten Gruppen stammten 2025 aus
Zugang zur Kinder- und Jugendhilfe
Ob ein junger geflüchteter Mensch als minderjährig identifiziert wird, ist entscheidend für den Zugang zu Schutz-, Förderung- und Beteiligungsrechten im Hilfe- und Unterstützungssystem. Unbegleitete Kinder und Jugendliche fallen unter die Zuständigkeit der
Allerdings können auch begleitete Kinder und Jugendliche, die hinsichtlich der Existenzsicherung über das AsylbLG, SGB XII (
Alterseinschätzung
Grundsätzlich gilt: Es gibt keine wissenschaftlich verlässliche Methode, um das Alter eines Menschen exakt festzustellen.
Nach den Richtlinien des UN-Kinderrechtsausschusses – der die Einhaltung der Rechte der
Die Einschätzung des Alters hat eine Schlüsselfunktion für die Wahrnehmung von
Bei der Alterseinschätzung zählt zunächst die Selbstauskunft der betroffenen Person. Viele junge Geflüchtete können ihr Alter nicht mit Dokumenten belegen – wenn sie etwa ihre Papiere auf der Flucht verloren haben oder sie nie offizielle Ausweispapiere besaßen, weil z. B. in bestimmten Regionen der Welt keine Geburtsurkunden ausgestellt werden. Manche Jugendämter erkennen mitunter vorhandene Dokumente nicht an. Es gibt keine bundesweit einheitlichen Regeln, wie in solchen Fällen vorzugehen ist.
Liegt kein Ausweispapier vor oder wird dessen Echtheit angezweifelt, führt das Jugendamt zur Alterseinschätzung hilfsweise eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch. Diese soll „ganzheitlich“ erfolgen – also auf der Grundlage von Gesprächen, Dokumenten und einer persönlichen Einschätzung durch zwei Fachkräfte (Vieraugenprinzip).
Aufnahme, Verteilung und Unterbringung
Nach ihrer Einreise werden unbegleitete Minderjährige zunächst vorläufig in Obhut durch ein Jugendamt genommen (§ 42a SGB VIII). Hier müssen einige von ihnen das beschriebene Verfahren der Alterseinschätzung durchlaufen, im Anschluss erfolgt gegebenenfalls die Verteilung auf Jugendämter in ganz Deutschland.
Die Kinder und Jugendlichen leben anschließend in Einrichtungen der Jugendhilfe, etwa in Wohngruppen, kleinen ambulant betreuten Wohneinheiten oder (selten) in Pflegefamilien. Ziel ist eine stabile Umgebung, in der der Besuch einer Schule, psychosoziale Begleitung und alltagspraktische Unterstützung, die die individuellen Bedarfe der minderjährigen Person deckt, möglich sind.
In der Praxis kann die Jugendhilfe diesen Ansprüchen jedoch nicht immer gerecht werden. In vielen Einrichtungen fehlt es an Kapazitäten. Oft übernehmen Quereinsteiger*innen ohne sozialarbeiterische/sozialpädagogische Ausbildung komplexe und verantwortungsvolle Aufgaben in der Betreuung der jungen Menschen. Entscheidungen orientieren sich häufig stärker an verfügbaren Plätzen als an individuellen Bedürfnissen, Bindungen oder Sicherheitsaspekten der Kinder und Jugendlichen. Aus Sicht vieler Fachkräfte steht dies im Widerspruch zum Primat des Kindeswohls und zum Auftrag der Jugendhilfe, Schutz, Stabilität und Entwicklung zu gewährleisten.
Gleichzeitig zeigen Beispiele gelingender Praxis, dass eine gute kinderrechtsbasierte Soziale Arbeit möglich ist, wenn Fachkräfte ausreichend Zeit, Handlungssicherheit und stabile Netzwerke haben und Jugendamt, Einrichtung, Vormund und Schule gut zusammenarbeiten.
UN-Kinderrechtskonvention, SGB VIII und rechtliche Vertretung
Die UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet die Vertragsstaaten, das Wohl des Kindes in allen Entscheidungen vorrangig zu berücksichtigen und jedes Kind vor Gewalt, Ausbeutung und Diskriminierung zu schützen. Deutschland hatte die Kinderrechtskonvention 1992 zwar ratifiziert, aber zunächst einen Vorbehalt erklärt: Für ausländische Kinder sollten manche Rechte nur eingeschränkt gelten. Dieser Vorbehalt wurde 2010 zurückgenommen. Seitdem gilt die Konvention uneingeschränkt – auch für geflüchtete und migrierte Kinder und Jugendliche. In ihr ist völkerrechtlich festgelegt, dass jeder junger Mensch unter 18 Jahren – unabhängig von Herkunft, Religion oder Aufenthaltsstatus – Anspruch auf besonderen Schutz, Bildung, medizinische Versorgung, Teilhabe und rechtliches Gehör hat (UN-KRK Art. 2, 3, 12, 22).
Kinder und Jugendliche gelten im rechtlichen Sinne aufgrund ihrer Minderjährigkeit im Asylverfahren und im Aufenthaltsrecht als nicht „handlungsfähig“. Daher werden sie in diesen Verfahren, wenn sie nicht in Begleitung eines Elternteils angekommen sind, durch einen Vormund oder eine Vormundin oder eine Person mit Erziehungsberechtigung vertreten. Der Vormund trifft wichtige Entscheidungen – etwa zu Aufenthalt, Schule oder medizinischer Versorgung. In vielen Fällen übernehmen Mitarbeitende von Jugendämtern oder Vormundschaftsvereinen diese Aufgabe, zunehmend auch ehrenamtliche Vormundinnen und Vormünder.
Rechtliche Vertretungen werden allerdings häufig zu spät eingesetzt. Fehlende Rechtschutzmöglichkeiten durch Unklarheiten in der Interessensvertretung – etwa bei der Alterseinschätzung oder Asylantragstellung – können zu Verlusten von Rechten führen. Zudem ist es sowohl für begleitete als auch unbegleitete geflüchtete Kinder- und Jugendliche vor allem aus finanziellen Gründen kaum möglich, Rechtsanwält*innen zu beauftragen.
Bei Kindern und Jugendlichen, die zwar ohne Eltern(teil), aber in Begleitung erwachsener Bezugspersonen einreisen, gilt seit einer Änderung der Dienstanweisung Asyl (DA Asyl) des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 12. Juni 2024, dass diese Begleitpersonen die Vertretung der Minderjährigen auch im Asylverfahren übernehmen können.
Familiennachzug
Fachkräfte in der Jugendhilfe berichten, wie von ihren Familien getrennte Kinder und Jugendliche unter der ständigen Sorge um ihre Angehörigen leiden und sich hilflos fühlen. Das Recht, mit der eigenen Familie zusammenzuleben, ist in zahlreichen menschenrechtlichen Verträgen verankert, wie bspw. in der
Gleichwohl leben viele geflüchtete Kinder und Jugendliche in Deutschland lange – manche sogar dauerhaft – getrennt von ihren Familien. Ob die Kernfamilie, also Eltern und Geschwister, nachgeholt werden können, ist abhängig vom Aufenthaltsstatus.
Erhält eine unbegleitete minderjährige Person (Referenzperson) die Asylanerkennung oder Flüchtlingseigenschaft, darf sie ihre Eltern nach Deutschland nachholen. Dies gilt auch dann, wenn die Referenzperson während des laufenden Asyl- oder Familiennachzugsverfahrens volljährig wird. Entscheidend ist allein, dass sie zum Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährig war. Geschwister dürfen mangels expliziter gesetzlicher Regelung meist nicht direkt mitziehen – sie müssen in der Regel zunächst zurückbleiben und dürfen erst später zu den Eltern nachziehen.
Nach aktueller Gesetzeslage (seit Juli 2025) ist der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte erneut für die Dauer von zwei Jahren ausgesetzt worden.
Minderjährige, für die ein Abschiebungsverbot erteilt wird oder die ein Bleiberecht wegen besonders guter „Integration“ von jungen Menschen (§ 25a AufenthG) erhalten, haben keinen Anspruch auf Familiennachzug.
Der UN-Sozialausschuss (Committee on Economic, Social and Cultural Rights) hatte Deutschland bereits 2018 aufgefordert, die Beschränkung des Familiennachzugs aufzuheben und Verfahren kindgerechter zu gestalten.
Übergang in die Volljährigkeit
Mit dem 18. Geburtstag enden Vormundschaften und viele Unterstützungsleistungen laufen aus. Gesetzlich besteht zwar ein Anspruch auf Hilfen für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII), doch werden diese in der Praxis nicht immer gewährt. Während einige Jugendämter Hilfen routinemäßig verlängern, berichten Erzieher*innen und Sozialarbeitende andernorts von abrupten Beendigungen.
Der Übergang in die Volljährigkeit ist häufig mit mehreren anstehenden Herausforderungen verbunden, wie etwa schulische Prüfungen, Ausbildung und aufenthaltsrechtliche Entscheidungen. Gleichzeitig müssen viele junge Menschen einen sogenannten Rechtskreiswechsel bewältigen – also den Wechsel von der Jugendhilfe in andere Leistungssysteme wie das Bürgergeld. Diese Übergänge sind bürokratisch anspruchsvoll und mit erheblichen Unsicherheiten verbunden.
Fazit
Unbegleitete minderjährige Geflüchtete gehören zu den am stärksten schutzbedürftigen Gruppen in Deutschland. Sie haben gemäß der seit 2010 auch in Deutschland vollumfänglich geltenden UN-Kinderrechtskonvention Anspruch auf besonderen Schutz, Förderung und Beteiligung – unabhängig von Herkunft oder Aufenthaltsstatus. Aktuelle Entwicklungen zeigen jedoch, dass in der Praxis Überlastung, Deprofessionalisierung und politische Restriktionen diese Rechte gefährden.