Mauerbau und Staatssicherheit
Das MfS berichtete über die Grenzschließung sowie über Reaktionen der Bevölkerung und der Westalliierten. Neue Dokumente geben Aufschluss über die Rolle des MfS beim Mauerbau und die Lage in der DDR.
Einleitung
Auf einer Dienstbesprechung der Leitungsebene des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)[1] sprach Erich Mielke am 11. August 1961 den viel, aber nicht alles sagenden Satz: "Wenn in den nächsten Tagen entscheidende Maßnahmen beschlossen werden, muss jegliche Feindtätigkeit verhindert werden."[2] Ohne den genauen Zeitpunkt und konkrete Maßnahmen zu benennen, skizzierte der Minister anschließend die Aufgaben, die das MfS bei dieser Operation zu übernehmen habe. Das MfS müsse den Gesamtüberblick über die Lage haben. Mit der Aktion werde eine neue Phase der "tschekistischen Arbeit" beginnen; nun würde sich zeigen "ob wir alles wissen und ob wir überall verankert sind. Jetzt müssen wir beweisen, ob wir die Politik der Partei verstehen und richtig durchzuführen in der Lage sind."[3] Auch einen Namen bekam die Aktion zwei Tage vor dem Mauerbau: "Rose" lautete das Codewort.Dass Mielke auch noch rund 30 Stunden vor Beginn der Grenzschließung in Berlin nicht offen vor den führenden MfS-Kadern sprach, gehörte in das Konzept der absoluten Geheimhaltung der Aktion. Nicht einmal die gesamte Führungsriege der SED war über das Vorhaben zu diesem Zeitpunkt informiert. Neben Walter Ulbricht, der die Federführung nicht aus der Hand gab, waren nur Erich Mielke, Innenminister Karl Maron, Verteidigungsminister Heinz Hoffmann, Verkehrsminister Erwin Kramer, Willi Stoph sowie Paul Verner (1. Parteisekretär Berlin) und Alois Pisnik (1. Parteisekretär Magdeburg) involviert.[4] Als Leiter des unmittelbar vor dem 13. August gebildeten Zentralen Einsatzstabes fungierte Erich Honecker. Erst am 12. August zwischen 21 und 22 Uhr wurden die übrigen Mitglieder des Ministerrats und des Staatsrats von Ulbricht persönlich über die bevorstehende Grenzschließung in Kenntnis gesetzt. Um ein Uhr in der Nacht zum 13. August 1961 wurde die Aktion ausgelöst.
Über die Rolle der Staatsicherheit bei der Durchführung der Aktion "Rose" und ihre Einschätzung der Lage in den folgenden Tagen und Wochen wusste man bislang wenig. Die bisherige Forschung stützte sich überwiegend auf den gut dokumentierten SED-internen Informationsstrang, in dem sich vor allem die Bevölkerungsstimmung abbildet.[5] Bisher unbekannte und nun erstmals publizierte Dokumente der "Zentralen Informationsgruppe" (ZIG)[6] des MfS geben weiteren Aufschluss über die Rolle der Staatssicherheit beim Mauerbau, über Stimmungen und Reaktionen der Bevölkerung in Ost-Berlin und der gesamten DDR sowie über die Erkenntnisse des DDR-Geheimdienstes über die Reaktionen und Entscheidungsprozesse der Westalliierten sowie der Berliner und Bonner Politik.[7]
Über die Aktion "Rose" und die "Reaktion auf die Maßnahmen zur Sicherung der DDR" wurden bis zum 16. August zwölf Berichte verfasst, davon allein fünf noch am 13. und vier am 14. August (s. die Abbildung der PDF-Version). Von da an wurde (bis zum 3. September) zu diesem Thema nur noch einmal täglich berichtet. Wichtigste externe Adressaten der Berichte waren - neben sowjetischen Verbindungsoffizieren - der Zentrale Einsatzstab, der unter der Leitung von Honecker stand und für die Umsetzung der Abriegelungsmaßnahmen zuständig war. Ulbricht steht nur selten im Verteiler, ihm dürften die Berichte aber von Honecker oder Mielke, dem oftmals mehrere Exemplare zur Verfügung standen, zugänglich gemacht worden sein. MfS-intern gingen die Berichte - außer an Mielke - in der Regel an seinen Stellvertreter Bruno Beater, an einen internen Einsatzstab unter der Leitung des späteren Ministerstellvertreters Alfred Scholz und häufig auch an die Auswertungsabteilung VII des Stasi-Auslandsspionagebereichs (HV A) oder später direkt an ihren Chef, Markus Wolf.
13. August 1961
"Nach vorliegenden Meldungen wurden die bewaffneten Kräfte entsprechend dem Zeitplan zum Einsatz gebracht. Sie befinden sich im Marsch zu den laut Plan vorgesehenen Einsatzorten. Bisher keine Vorkommnisse. Stimmung normal." Mit diesem Satz beginnt der erste Bericht des MfS am frühen Morgen des 13. August 1961. Bei der Aktion hielt sich die Staatssicherheit - entsprechend ihren Aufgaben als Kontroll- und Sicherungsorgan - zumeist im Hintergrund. Wie die Dokumente belegen, musste sie aber auch direkt in das Geschehen eingreifen, um Versäumnisse anderer Stellen auszugleichen.Eine ernste Panne gleich in der Nacht der Grenzschließung machte ein direktes Eingreifen des MfS erforderlich: "Der Gesamtverlauf der Aktion ist bisher zufriedenstellend, bis auf den Einsatz der Transportpolizei, die wegen falscher Einsatzzeit (X+4) ausfiel",[8] heißt es im ersten Bericht vom frühen Morgen des 13. August. Im zweiten Bericht des Tages - wenige Stunden später - schob das MfS die Information hinterher: "Der Einsatz der Trapo erfolgte auf mehreren Bahnhöfen später als der Einsatz des MfS. Wodurch die Maßnahmen in den meisten Fällen vom MfS allein durchgeführt wurden."[9] Diese Formulierung ist fast schon unterkühlt, denn die Unterbrechung des U-, S- und Fernbahnverkehrs war eine der zentralen Maßnahmen zur Sperrung der Grenze. Als die Einheiten der Transportpolizei nach fünf Uhr endlich an ihren Einsatzorten eintrafen, war diese Arbeit im Wesentlichen bereits getan. Zwölf S- und U-Bahnlinien zwischen Ost- und West-Berlin waren gekappt, 48 S-Bahnhöfe gesperrt und 13 U-Bahnhöfe ganz geschlossen worden.[10]
Die Staatssicherheit hob jedoch nicht nur ihre Fähigkeit hervor, Versäumnisse anderer Sicherheitsorgane zu kompensieren, sondern empfahl sich auch als übergeordnete Kontrollinstanz, die in jeder Situation den Überblick behielt und die richtigen Entscheidungen traf. So wusste sie zu berichten: "Gegen 3.00 Uhr kam es im Raum Mahlow auf Westberliner Boden zu einer Konzentration von Bürgern aus der DDR, die sich in Westberlin aufgehalten hatten und zunächst von der VP [Volkspolizei] an der Rückkehr in die DDR gehindert wurden. Lage wurde durch entsprechende Anweisungen des MfS, diese Personen sofort in die DDR einzulassen, normalisiert."[11]
Ein besonders heikler Punkt im Vollzug der Aktion "Rose" war der Einsatz der sogenannten Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Operativ spielten die Feierabendkämpfer der SED zwar keine entscheidende Rolle, dafür war aber ihre propagandistische Funktion von eminenter Bedeutung, sollten sie doch die Beteiligung der Bevölkerung an der Sicherung der DDR durch den "antifaschistischen Schutzwall" symbolisieren. Bereits am 13. August vermerkte das MfS jedoch "Mängel in der Benachrichtigung der Kampfgruppenmitglieder".[12] Tatsächlich waren in Berlin - wie man aus anderen Dokumenten weiß - sieben Stunden nach Auslösung des Alarms erst 13 Prozent der Kampfgruppenmitglieder einsatzbereit.[13] Die Grenzschließung war zu diesem Zeitpunkt schon abgeschlossen. In scharfem Kontrast mit der späteren Heroisierung der Rolle der Kampfgruppen durch die offizielle Propaganda stellte die Stasi bei ihnen schon nach drei Tagen Einsatz eine "verschlechterte Stimmung" fest. Es gebe Klagen, dass "dringende persönliche Wünsche einzelner" nicht berücksichtigt würden.[14] Forderungen nach einer Reduzierung der Mannschaften wurden laut, "ein Viertel der Kräfte" würden ausreichen.
Charakteristisch für viele Berichte des MfS zum Mauerbau ist die Kombination von DDR-Inlandsinformationen mit Meldungen aus dem Westen, die zumeist von der HV A stammten. Das ist insofern eine Besonderheit, als in der gewohnten MfS-Berichterstattung Inlands- und Auslandsinformationen in aller Regel scharf getrennt waren. Die Berichte der HV A wurden von der ZIG an die politische Führung nur weitergereicht. In der besonderen sicherheitspolitischen Situation nach der Grenzsperrung, als die innenpolitische Situation und die Reaktion des Westens nicht zu trennen waren, ging das MfS von dieser Praxis ab. Die meisten Berichte weisen eine thematische Dreiteilung auf: westliche Reaktionen, gegnerische Tätigkeit (unter dieser Rubrik sind Meldungen aus dem Westen und dem Osten gemischt) sowie Bevölkerungsstimmung in der DDR.
Reaktionen des Westens
Sehr zeitnah hat das MfS über die interne Meinungsbildung sowohl bei den Westalliierten als auch in der West-Berliner und Bonner Politik informiert, was angesichts der weltpolitisch heiklen Situation nicht nur für die DDR-Führung, sondern auch für die Sowjets von eminenter Bedeutung war. In den Berichten werden zum einen die offiziellen Verlautbarungen westdeutscher, britischer, amerikanischer oder französischer Politiker sowie ein Teil der Berichterstattung der Westmedien zusammengefasst. Zum anderen werden Informationen aus wie es heißt "internen" oder "verlässlichen" Quellen, also von Agenten beschafftes Material, präsentiert. Nach einer sehr kurzen Phase der Unsicherheit wusste die Staatssicherheit schon nach wenigen Tagen, dass massivere westliche Gegenmaßnahmen nicht zu erwarten waren.Am 13. August schrieb die Stasi noch: "In der ersten offiziellen Reaktion führender politischer Kreise Bonns, Westberlins und der Westmächte wird von schärfsten Protesten gegen die Maßnahmen der DDR und von sogenannten Gegenmaßnahmen gesprochen, jedoch zugleich vor 'Unbesonnenheit' gewarnt."[15] Auch in "führenden Westberliner CDU-Kreisen" herrsche, so das MfS, "eine gewisse Unsicherheit. Man glaube einerseits nicht mehr daran, dass die 'Berlinkrise' mit friedlichen Mitteln beigelegt werden kann. (...) Andererseits glaube man nicht daran, dass die USA in ihrer Politik in der Westberlinfrage bis zum äußersten gehen würden." Ein "Offizier des Bundesnachrichtendienstes" wird von einer "zuverlässigen Quelle" mit der Aussage zitiert, "die Amerikaner in Westberlin müssten jetzt zeigen, was ihre Versprechen wert sind. Man müsse jetzt auf alles vorbereitet sein."[16]
Im Laufe des 14. August wurde die Berichterstattung entspannter. Jetzt stellte das MfS die Bereitschaft der Westmächte in Frage, Forderungen der Bundesregierung und des Berliner Senats nach entschlossenen Gegenmaßnahmen und Rückgängigmachung der Grenzschließung nachzukommen. Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes hätten die Auffassung geäußert, "dass man sich mit den gegebenen Tatsachen abfinden müsse. Einen Krieg würden die Westmächte auf Grund der Maßnahmen der DDR keinesfalls riskieren."[17] In einem weiteren Bericht wurde die Information nachgeschoben, dass der amerikanische Stadtkommandant von Berlin, Albert Watson, bereits am 13. August bei führenden CDU-Politikern (u.a. Ernst Lemmer und Franz Amrehn) mit einer zynischen Äußerung für Empörung gesorgt hatte: Bei der Grenzschließung - so Watson laut MfS - handle es sich "nur um eine Verkehrsbehinderung innerhalb Berlins", "von der die Freiheit der Bevölkerung Westberlins nicht betroffen werde".[18] Das MfS vermutete, dass in diesem Zusammenhang "möglicherweise auch die verschiedenen widersprüchlichen Meldungen über den Grad der Einsatzbereitschaft der amerikanischen Streitkräfte in Westberlin zu sehen"[19] seien.
Bald verdichteten sich in den Berichten der Staatssicherheit die Hinweise, dass mit keiner für die DDR in irgendeiner Form bedrohlichen Situation zu rechnen sei. Dass das MfS "Entwarnung" geben konnte, lag nicht zuletzt an Top-Meldungen aus "führenden Westberliner SPD-Kreisen". Bereits am 15. August wusste die Staatssicherheit zu berichten, "Brandt habe sich mit den westlichen Kommandanten darüber geeinigt, dass alles unternommen werden soll, um von Westberlin aus keinerlei Anlass für weitere Komplikationen zu geben"[20] . Aus gleicher Quelle meldete das MfS am 17. August, "dass Brandt erstmalig seit längerer Zeit zum Sitz der westlichen Militärkommandanten bestellt und ihm dabei klargemacht wurde, wer in Westberlin zu bestimmen hat. Brandt sei noch einmal darauf hingewiesen worden, dass die Westmächte 'nur ihre Rechte' in Westberlin verteidigen würden."[21]