Reaktionen auf den Mauerbau in Berlin und der DDR
Wie reagierte eigentlich die Bevölkerung der DDR auf den Mauerbau und den damit einhergehenden zunehmenden Anpassungsdruck im SED-Staat? Ein Bericht über den Schockzustand der ostdeutschen Gesellschaft.Der Bau der Mauer ...
Der Bau der Mauer ist unbestritten die wichtigste Zäsur in der Geschichte der DDR.[1] Dennoch haben die meisten Historiker sich bei der Beschäftigung mit dem Mauerbau bisher auf die Verwicklungen der internationalen Politik im Kontext der zweiten Berlinkrise konzentriert.[2] Dagegen haben sich nur wenige mit den Veränderungen in der DDR befasst, in der sich die Bevölkerung seit 1961 ganz anders als zuvor mit der SED arrangieren musste, und mit den Reaktionen der Bevölkerung in Berlin und der DDR auf die Grenzschließung.[3]
Der breiten Masse in der Bevölkerung der DDR war durchaus bewusst, dass die Grenzschließung darauf gerichtet war, "Republikflucht" und die Tätigkeit der Grenzgänger, also jener Menschen, die in Ost- oder West-Berlin arbeiteten, aber im anderen Teil der Stadt wohnten, zu unterbinden. Darüber hinaus richtete sie sich gegen die ganze Bevölkerung der DDR, insofern sie die offenen Grenzen und die Möglichkeit der Abwanderung in den vielfältigen Verhandlungen mit Vertretern der Staatsmacht und der Behörden dazu genutzt hatte, Lösungen auszuhandeln, zu denen diese andernfalls nicht bereit gewesen wären.[4]

Die Auffassung, dass der "Republikflucht" ein Riegel vorgeschoben werden sollte, war in der SED verbreitet. Auch wenn es bei einigen Bürgern Häme und Schadenfreude gegenüber den Grenzgängern gab, so stand doch die Beeinträchtigung der eigenen Chancen und Freiheiten, das Bewusstsein einer verschärften Spaltung zwischen den beiden Teilen Deutschlands und die Befürchtung, dass die DDR-Regierung die neue Situation zu einer Intensivierung der politischen Repression und der wirtschaftlichen Produktivität nutzen würde, im Vordergrund.[6]
Proteste und Demonstrationen
Die erste Reaktion in Berlin auf beiden Seiten des Stacheldrahts, der erst einige Tage später den ersten Mauern weichen sollte, war ungläubiges Entsetzen – und Wut, wie einige Angehörige der Kampfgruppen in der Nacht der Grenzsperrung direkt erfahren sollten: "Von 1956 bis 1966 war ich Angehöriger der Kampfgruppen, am 13. August 1961 also bei [der] Befestigung der Staatsgrenze [eingesetzt]. Unsere Hundertschaft sicherte die Bauarbeiten am Abschnitt Heinrich-Heine- und Fritz-Heckert-Straße, in einem Altbau-Gebiet, das unmittelbar die Staatsgrenze berührte. Zahlreiche Anwohner hatten sich in dieser Nacht auf der Straße angesammelt. Die meisten von ihnen zeigten sich uns und dem Geschehen nicht freundlich gesonnen. [...] Weite Kreise waren als Grenzgänger korrumpiert, darunter viele einfache Menschen. Sie sahen mit der Schließung der Grenze ihr unredliches Treiben beendet. Daß der Unmut darüber bis zum Haß gehen kann, erlebte ich in jener Nacht mit einem Genossen am Verhalten einer hochschwangeren Frau. Sie drang, vom Haß entstellt, auf uns ein und beschimpfte uns. Wir versuchten ihr verständlich zu machen, warum das hier geschehe, und baten sie, nach Hause zu gehen. [...] Sie würde bleiben, erwiderte sie, – ihr Kind solle im Mutterleib miterleben, welches Verbrechen hier geschehe."[7]

Über Mittag wurden die Polizeieinheiten verstärkt, um vor allem jeden Kontakt zu Menschenansammlungen auf der Westseite zu verhindern, sodass sich kein übergreifender Protest formieren konnte. Es gelang der Volkspolizei, die meisten protestierenden Gruppen auf der östlichen Seite aufzulösen, die sich aber bald darauf neu formierten. Mehrfach wurde dabei Tränengas eingesetzt. Volkspolizei und Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) verhafteten Menschen, die zum Streik aufriefen oder im Ärger die Bekanntmachungen der Regierung abrissen. Die Proteste setzten sich, selbst in der Innenstadt, bis in die Abendstunden fort. Häufig waren es junge Leute, die diese Proteste dominierten.[13]
In den ersten zwei bis drei Tagen liefen immer wieder Menschen auf beiden Seiten der Grenze zusammen und gaben dadurch und durch verbale Äußerungen ihrem Unmut Ausdruck.[14] Am 15. August demonstrierten mittags am Ost-Berliner Arkonaplatz nahe der Grenze ein- bis zweitausend Menschen gegen deren Abriegelung.[15] Kollektive Proteste und spontane Demonstrationen in Ost-Berlin trieb die Volkspolizei in den folgenden Tagen immer wieder mit Nebelkörpern, Wasserwerfern und Schlagstockeinsatz auseinander.[16] Aber es kam, wie der SED-Vorsitzende Walter Ulbricht im vorhinein versichert hatte, nicht zu einer Aufstandsbewegung in der DDR, die im Westen einige befürchtet hatten und die insbesondere Kremlchef Nikita Chruschtschow für möglich gehalten hatte. Die Überrumpelung der Bevölkerung, die Erfahrung von 1953, das schnelle Eingreifen der Parteimaschinerie und die schnelle und gut geplante Reaktion von Volkspolizei und Staatssicherheit gewährleisteten, dass es bei lokalen Protesten bleib. Ulbricht hatte schon am 1. August gegenüber Chruschtschow abgewiegelt: "Ein Aufstand ist nicht realistisch."[17]
Erzwungene Zustimmung

Die Propagandamaschine der SED war republikweit noch in der Nacht zum 13. August angelaufen, nachdem die Genossen der Bezirks- und Kreisleitungen aus dem Bett geklingelt worden waren. Der Apparat war mit sich zufrieden: "Es hat sich erwiesen, daß die Bezirksleitungen in wenigen Stunden den Partei- und Staatsapparat sowie das Parteiaktiv zur Lösung einer neuen Aufgabe mobilisieren und zum Einsatz bringen können. Die Büros und Apparate der Bezirksleitungen sowie entscheidende Staatsfunktionäre waren in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag gegen 3 Uhr einsatzfähig. Büromitglieder und Mitarbeiter der Bezirksleitungen begaben sich in die Kreise, um die Arbeit der Kreisleitungen zu unterstützen. In den Kreisen wurden sofort Beratungen mit den Parteisekretären, mit den Vorsitzenden der Blockparteien und Massenorganisationen durchgeführt und an den Schwerpunkten Agitatorengruppen eingesetzt. Die Parteileitungen in den Schichtbetrieben haben bereits in den frühen Morgenstunden des 13.8. Versammlungen und Aussprachen organisiert. Dasselbe geschah in vielen Hausgemeinschaften. Die Mehrheit der Werktätigen wurde am Montagvormittag [14.8.] durch Versammlungen und Foren gründlich über die Maßnahmen der Regierung informiert. Die Partei wurde faktisch unter den Massen politisch wirksam, bevor der Feind überhaupt gewahr wurde, was geschehen war, und hatte die Lage fest in der Hand, wobei zu berücksichtigen ist, daß ein großer Teil der aktivsten Genossen Mitglieder der Kampfgruppen ist, zu Schutzmaßnahmen eingesetzt war und nicht unmittelbar in den Agitatorengruppen mitwirken konnten."[18]
Der Parteiapparat war schnell mobilisiert und agitierte die Bevölkerung, bevor diese sich ein eigenes Bild hatte machen können. Auch die Schnelligkeit, in der SED-Propagandisten den Bürgern der DDR auf Versammlungen die neue Situation erläuterten, hat wohl dazu beigetragen, dass es in der DDR verhältnismäßig ruhig blieb. Auf diesen von der SED in Betrieben und Wohngebieten einberufenen Versammlungen wurden die von den Funktionären vorformulierten Zustimmungserklärungen verabschiedet. Parteifunktionäre verlangten von den Teilnehmern, die Solidaritätsadressen zu unterschreiben, die sie dann an die Parteiführung sandten. So verfasste die Nachtschicht des Milchhofs Weißensee schon in der Nacht zum 13. August eine zustimmende Solidaritätsadresse mit 23 Unterschriften an Walter Ulbricht.[19] Ihr folgten zahlreiche andere Betriebe und Wohngebiete aus allen Teilen des Landes.[20]
Wenn der verbale Druck der Funktionäre nicht ausreichte, um die Teilnehmer der Versammlungen zu überzeugen, nahmen Volkspolizei oder Staatssicherheit einige exemplarische Verhaftungen vor, um die anderen zur Zustimmung zu nötigen. Ein Kraftfahrer aus der Gegend von Magdeburg zum Beispiel sprach sich bei einer Betriebsversammlung am 14. August gegen eine zustimmende Resolution aus. Er konnte diese zwar durch sein Auftreten verhindern, wurde aber nach der Versammlung inhaftiert.[21] Zwei Bürger aus Lindenberg im Kreis Sonneberg wurden verhaftet, weil sie in einer Einwohnerversammlung gesagt hatten, die SED sei schuld an der "Republikflucht", weil "die Arbeiter in der DDR nichts zu melden" hätten.[22] In Plauen verhielten sich Jugendliche auf einer Einwohnerversammlung am 14. August renitent. Der Bericht sagt, sie hätten einen Angehörigen der SED-Bezirksleitung beschimpft. Zwei "Rädelsführer" wurden verhaftet.[23] In mehreren Berichten wird hervorgehoben, dass sich vor allem junge Leute offen gegen die "Maßnahmen" in Berlin aussprächen. Diese "provokatorische" oder "feindliche" Haltung bei jenem Teil der Bevölkerung, in den die SED ihre größten Hoffnungen setzte, alarmierte den Parteiapparat.[24]
In den Betrieben
Bereits am 14. August seit 7.10 Uhr in der Frühe erhielt Erich Honecker, im SED-Apparat zuständig für die Organisation des Mauerbaus, die ersten Berichte über die Reaktionen und Diskussionen in der Bevölkerung. In den meisten Betrieben lief die Arbeit normal an. Nur vereinzelt forderten Arbeiter ihre Kollektive zum Streik auf, etwa in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) bei Halberstadt. Teilweise kursierten Gerüchte darüber, dass in Berlin gestreikt würde.[25] Allerdings sind einige kleinere Arbeitsniederlegungen aktenkundig geworden. Etwa 40 Arbeiter des VEB Holzindustrie Hennigsdorf bei Oranienburg traten beispielsweise in den Ausstand. Sie kritisierten, vor den "Maßnahmen" nicht gefragt worden zu sein, und forderten die Rücknahme der Grenzschließung. Außerdem verlangten sie, dass das Streikrecht im Arbeitsgesetzbuch verankert werde.[26] Doch solche Reaktionen waren vereinzelt und in den meisten Betrieben blieb es ruhig.
Darüber hinaus gab es andere, stillere Reaktionen. Denn die Drohgebärde, die mit dem Mauerbau verbunden war, hatten die meisten Arbeiter durchaus verstanden. Hatten sie doch in vielen zustimmenden Resolutionen schon unterschreiben müssen, dass sie künftig für dasselbe Geld mehr würden arbeiten wollen. Das veränderte die Situation und vertiefte den Missmut, die einzelne interne Berichte beschreiben. In einem Köpenicker Betrieb schlug den Genossen der SED an den Tagen nach dem Mauerbau "eisiges Schweigen" entgegen.[27] Dies wird auch aus einem Betrieb in Hennigsdorf gemeldet: Es würde kein Protest laut und die geforderten Zustimmungserklärungen würden ohne Protest oder Diskussion unterschrieben. Es gäbe jedoch eine heimliche Sympathie mit Provokateuren. Aus anderen Betrieben wurde noch nach einigen Wochen gemeldet, dass SED-Angehörige von ihren Kollegen nicht mehr gegrüßt, gemieden und Gespräche bei ihrer Annäherung abgebrochen würden.[28] Die Grenze zwischen oben und unten war wieder einmal deutlich hervorgetreten.