Vom Spiel zum Spektakel
Der gesellschaftliche Erfolg des Fußballs
Die Bedeutung des Fußballs für das Publikum

Fußball fasziniert die Massen und verfügt daher über ein enormes Publikum. Doch was macht diese Faszination aus? Bei einem Fußballspiel handelt es sich um den in einem geregelten Rahmen stattfindenden, in seinem Verlauf und Ergebnis offenen Wettstreit zweier gegnerischer Mannschaften. Seine zeitliche, räumliche und personelle Begrenzung macht es zu einem überschaubaren körperbasierten Interaktionsgeschehen, welches leicht beobachtbar und nachvollziehbar ist. Diese Merkmale machen Fußballspiele anschlussfähig an eine Vielzahl unterschiedlicher Zuschauermotive.[16].
Vereine und Fans erzeugen kollektive Identifikationsmöglichkeiten
Die (längerfristige) Identifikation mit einem Fußballverein kann eine attraktive Möglichkeit zur Herstellung von Identität sein. Zudem kann der Fußball den trotz des Bedeutungsverlustes traditionaler Gemeinschaften, wie zum Beispiel Familie, Nachbarschaft, Dorfgemeinschaften, weiterhin bestehenden Bedarf an Gemeinschaftszugehörigkeit bedienen. Für die meisten Zuschauer wären Fußballspiele wohl recht langweilig, wenn sie sich nicht mit den Protagonisten auf dem Feld identifizieren würden[17]. Die Konfliktlogik des Sports drängt die Zuschauer nahezu zwangsläufig auf die eine oder andere Seite, erfordert gewissermaßen die Parteinahme: "Wir" gegen "die Anderen". Vereins- wie auch Nationalmannschaften bilden daher Anknüpfungspunkte für kollektive Identitäten, auf die sich die Zuschauer mit ihren Bedürfnissen nach Identifikation beziehen kann.
Auffällig sind dabei die starken Wertbezüge, die mit diesen kollektiven Identitäten transportiert werden. Sie beziehen sich in der Regel erstens auf sportliche Erfolge (zum Beispiel dreifacher Sieger der Champions League, Vizemeister, Rekordaufsteiger, Weltpokalsiegerbesieger), betonen zweitens gesellschaftlich anerkannte Werte, wie zum Beispiel Professionalität, Exzellenz, Loyalität, ehrliche Arbeit etc., und drittens gibt es trotz aller Globalisierungsprozesse – schon allein aufgrund des Vereinsnamens – weiterhin Verweise auf Lokalität beziehungsweise Nationalität. Wobei sich diese heute nicht mehr quasi zwangsläufig aus einer scheinbaren Einheit von Verein und Stadt, von Publikum und Einwohner/-innen ergeben, sondern vielmehr von den Vereinen im Sinne einer „wilful nostalgia“[18] aktiv konstruiert werden (müssen). Getragen werden diese kollektiven Identitäten durch massiv zur Schau gestellte Symbole, wie zum Beispiel Vereinsembleme, Trikots, Fahnen und Lieder.
Ein wesentliches Kennzeichen der modernen Gesellschaft ist die Individualisierung. Damit ist gemeint, dass traditionale soziale Strukturen, wie zum Beispiel Schicht-, Religions- und Familienzugehörigkeit drastisch an Bindungskraft und Einfluss auf die Lebensführung und gesellschaftliche Positionierung wie auch die gemeinschaftliche Einbindung des Einzelnen verloren haben. Dies ermöglicht dem modernen Individuum enorme Freiheitsgrade – man kann bis zu einem gewissen Grad wählen, wer und was man sein will. Die Kehrseite dieser Optionenvielfalt ist der Zwang zur Entscheidung, Selbstfestlegung und Abgrenzung von anderen Möglichkeiten und Lebensentwürfen. Der oder die Einzelne ist nun für die eigene Identitätsbildung und -ausgestaltung selbst verantwortlich.
Fußballfans werden zu Wertegemeinschaften

Fußball erzeugt Formen sogenannter "posttraditionaler Vergemeinschaftung"[19] und "Casual Socialbility"[20], also des gelegentlichen und ungebundenen Zusammenseins. Die Selbstzurechnung und Zugehörigkeit zu solchen Gemeinschaftsformen basiert nicht mehr wie bei den traditionalen Formen auf gemeinsamer Abstammung oder Herkunft, sondern vielmehr auf geteilten Interessen, Anliegen und Werten. Man kann sich heutzutage dafür entscheiden, Anhänger des einen oder anderen Vereins zu sein. Es ist dabei noch nicht einmal notwendig, dass sich alle Gemeinschaftsmitglieder untereinander kennen, was angesichts der oftmals großen Anhängerschaft von Bundesligavereinen und vor allem der deutschen Nationalmannschaft auch kaum möglich wäre. Es reicht schon aus, eine gemeinsame Identität zu unterstellen[21]. Die im Fußball vorzufindenden Gemeinschaften lassen sich daher auch im Sinne von Benedict Anderson (1983) als "Imagined Communities", als vorgestellte Gemeinschaften, bezeichnen[22].
Im Stadion leben Fans ihre Gefühle aus
Das hohe Maß an Emotionalität ist ein markantes Merkmal des Spitzenfußballs. Ganz zentral ist das Erleben von Spannung. Die Ergebnisoffenheit der geregelten Wettkämpfe bedeutet, dass man zwar weiß, wann ein Spiel entschieden sein wird, aber niemand von den Zuschauern oder den beteiligten Spielern weiß, wie es entschieden wird[23]. Darüber hinaus bietet Fußball Anlass für ganz unterschiedliche, teils sogar widerstreitende Emotionen: Aus Siegen resultieren Freude, Stolz, Begeisterung; mit Niederlagen verbinden sich Ärger, Wut und Trauer. Und all diese Emotionen stehen im engen Zusammenhang zum Ausmaß der Identifikation mit den Mannschaften, denn wer sich identifiziert, für den steht ja sprichwörtlich mehr auf dem Spiel.
Während in den meisten Bereichen der modernen Gesellschaft Emotionen und Affekte stark kontrolliert oder gar verdrängt werden, bietet der Fußball nicht nur die Möglichkeit, Emotionen zu erleben, sondern mit der Zuschauerrolle verbindet sich auch die Erwartung, diese Emotionen auszuleben und zur Schau zu stellen[24]. Gerade im Stadion erfährt man daher unmittelbar, dass man sich mit anderen gemeinsam freut oder gemeinsam leidet. Diese kollektiven Emotionen können sich – auch durch die ritualisierten Verhaltensweisen der Fans – bis zu einem "Enthusiasmus über den eigenen Enthusiasmus" (zum Beispiel aktuell beim Support von Ultrafans in den Kurven deutscher Stadien zu beobachten) steigern[25].

Diese Formen der emotionalen Vergemeinschaftung machen Fußballspiele nicht nur zu einer spannenden Alternative zu den langweiligen Routinen der Moderne[26]. Durch das Erleben von Emotionen ermöglichen Fußballspiele vielmehr auch Präsenzerfahrungen und Seinsgewissheit[27], also ein Sich-selbst-Erfahren im Hier und Jetzt. Im Rausch der Emotionen lassen sich die durch die Moderne hervorgerufenen Unsicherheiten und ungewissen Zukünfte sowie der damit für die Einzelnen verbundene Entscheidungs- und Reflexionsdruck zumindest einen begrenzten Zeitraum lang ausblenden.
Bedürfnis nach Unterhaltung und Zerstreuung
Den Bedürfnissen des Publikums nach Unterhaltung und Zerstreuung versuchen die Fußballvereine zunehmend über die Ausgestaltung von Rahmenprogrammen gerecht zu werden. Es wird also versucht, das sportliche Ereignis zum "perfekten" Erlebnis auszubauen. Ziel derartiger Maßnahmen ist es:
- die Verweildauer der Zuschauer in den Stadien zu erhöhen.
- sollen damit neue Publikumsgruppen gewonnen werden.
- dienen diese Inszenierungen der Stimmungssteuerung im Stadion.
- versucht man für die Zuschauenden einen Zusatznutzen und ein gewisses Maß an gesicherter Unterhaltung zu schaffen, welches im Falle von Niederlagen dazu beitragen kann, dass das Gesamterlebnis dennoch positiv bilanziert wird. Es wird also versucht, das sportliche Ereignis zum "perfekten" Erlebnis auszubauen.