"Du bist wie Gift"
Zur Aufarbeitung des DDR-Fußballs
Im Unterschied zur Erforschung der bundesdeutschen Fußballgeschichte fehlt bislang eine vergleichbare Auseinandersetzung mit 40 Jahren DDR-Fußball. Dabei könnte eine Untersuchung der dort populärsten Sportart einen vielschichtigen Zugang zum Verständnis der DDR eröffnen.*
Wenn von 50 Jahren Bundesliga als Erinnerungsort[1] der Deutschen die Rede ist, so gilt dies nicht allein für das soziale Gedächtnis fußballbegeisterter Westdeutscher. Vor allem in den 1970er und 1980er Jahren war der bundesdeutsche Profifußball im Alltag vieler Fußballanhänger in der DDR dauerpräsent: HSV-Wimpel zierten Jugendzimmer, Rummenigge-Autogrammkarten waren begehrte Schwarzmarkt-Trophäen, und natürlich wurden auch ostdeutsche Familienväter samstagnachmittags magisch vom Fernsehschirm angezogen, wo es ein doppeltes Programm zu bewältigen galt:
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Bundesliga, das ist wenigstens Fußball
Quelle: Christoph Dieckmann, Drüben. Vom Verschwinden einer deutschen Himmelsrichtung, in: Zeitgeschichtliches Forum Leipzig (Hrsg.), Drüben. Deutsche Blickwechsel, Leipzig 2006, S. 78–87, hier: S. 79.
Vor allem die Nationalmannschaft der Bundesrepublik mit ihren zwei Welt- und Europameistertiteln genoss bei Fans in der DDR hohe Wertschätzung. Demgegenüber gelang es der DDR-Elf nur einmal, bei der WM 1974, an der Endrunde eines internationalen Turniers teilzunehmen. "Freundschaftsspielweltmeister" und "Qualifikationsversager" sind die von Enttäuschung geprägten Bezeichnungen, mit denen diese vergleichsweise magere Bilanz im Volksmund belegt wurde. Bei olympischen Fußballturnieren trumpfte der DDR-Fußball hingegen mehrfach auf: Nach Bronze 1964 und 1972 erreichte die DDR-Elf 1976 sogar den Olympiasieg und errang 1980 noch einmal eine Silbermedaille. Doch war das Interesse an diesen Auszeichnungen gering, da der olympische Wettbewerb im Gegensatz zum Profifußball unter Amateuren ausgetragen wurde[2].
Über die Gründe für den mäßigen Erfolg des DDR-Teams ist viel spekuliert worden: Wie viele andere sieht der ehemalige Nationaltrainer Georg Buschner "DDR-Sportchef" Manfred Ewald als eigentlichen Totengräber des DDR-Fußballs, da Talente und Ressourcen vor allem in sogenannte medaillenintensive Sportarten kanalisiert wurden[3]. "Die langen Fußballer sind bei uns Ruderer"[4] erklärte 1986 der Jenaer Trainer Lothar Kurbjuweit entsprechend sarkastisch, als er nach den Gründen für die wenigen hochgewachsenen DDR-Auswahlspieler gefragt wurde.

Die Begeisterung der DDR-Fans für die westdeutschen Kicker war für die SED-Führung, die seit Mitte der 1950er Jahre auf scharfe Abgrenzung von der Bundesrepublik bedacht war, ein peinliches Phänomen. Für die Verfechter einer "sozialistischen Nation"[5] war besonders irritierend, dass sich, wie das Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung in einer geheim gehaltenen Studie feststellte[6], gerade die Jugend für die bundesdeutschen Fußballidole interessierte – und damit eine Generation, die in der DDR aufgewachsen war und eigentlich keinen gesamtdeutschen Bezug mehr kennen sollte. Als 1971 in Warschau anlässlich eines EM-Qualifikationsspiels der bundesdeutschen Nationalmannschaft Hunderte aus der DDR angereiste Fans Grüße an "die deutsche Nationalelf und den Kaiser Franz" skandierten, griff der Sicherheitsapparat rigide durch. Die Fans wurden bis an ihren Heimatort verfolgt und mit empfindlichen Sanktionen bestraft[7].
Während sich die Sportpolitiker anderer Staaten in West- und Osteuropa vor allem um die wachsende Zahl gewalttätiger Fans in den Stadien sorgten, schufen sich die DDR-Funktionäre ein zusätzliches "Fanproblem" selbst, indem sie Bundesliga-Anhänger pauschal als "negativ-dekadent" etikettierten und mit Knüppeln, durch Inoffizielle Stasi-Mitarbeiter in Fanclubs und weitere Schikanen zu bekehren suchten. Doch ließen sich echte Fans natürlich nicht abschrecken, und so gerieten Auftritte von Bundesliga-Clubs im Ostblock stets zu fröhlichen Treffen ihrer ostdeutschen Schlachtenbummler.

Im Rahmen des Möglichen wurde der deutsch-deutsche Doppelpass von den westdeutschen Vereinen auch zurückgespielt: So ermöglichte es etwa Werder Bremen, dass ostdeutsche Fans heimlich eine Mitgliedskarte erhielten. Und FC-Bayern-Präsident Fritz Scherer schmuggelte an einem Winterabend 1981 ein von allen Spielern signiertes Mannschaftstrikot unter seinem Pullover nach Ost-Berlin, als Überraschungsgeschenk für einen der treuesten Fans im Osten[8]. Was als freundschaftliche Geste der Bundesliga-Vereine gedacht war, interpretierte die Stasi als organisierte Agententätigkeit zur "Zersetzung" der DDR.
Nirgends wurde das Misstrauen des Regimes deutlicher als beim Europapokalspiel der Landesmeister, das der BFC Dynamo am 15. September 1982 im Ost-Berliner Jahnsportpark gegen den Hamburger SV bestritt. Um deutsch-deutsche Verbrüderungsszenen zu verhindern, wurde ein freier Kartenverkauf unterbunden: Nur 2.000 Tickets gingen an handverlesene Fans, die überwältigende Mehrheit der Plätze auf den Tribünen wurde von Staatsschützern, Funktionären und Sicherheitsorganen eingenommen, darunter etwa 10.000 Stasi-Mitarbeiter[9].
Doch sollte die Begeisterung für den Bundesliga-Fußball nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ostdeutschen Fans ihren Fußball liebten: weniger die Nationalelf, die häufig mit dem System identifiziert wurde, als vielmehr die Mannschaften der Oberliga und ihres Unterbaus, der DDR- und Bezirksligen.
Keine vergleichbare Auseinandersetzung mit 40 Jahren DDR-Fußball
Im Unterschied zur jüngsten wissenschaftlichen Erforschung der bundesdeutschen Fußballgeschichte fehlt bislang jedoch eine vergleichbare Auseinandersetzung mit 40 Jahren DDR-Fußball. Das ist umso bedauerlicher, als gerade eine systematische Untersuchung der auch in Ostdeutschland populärsten Sportart einen breiten Zugang zum Verständnis der Gesellschaftsgeschichte der DDR erschließen kann. Im Folgenden soll anhand von zwei Forschungsfeldern das Potenzial des Themas ausgelotet werden.
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Überblick
Anschließend wird der Frage der politisch bedingten In- und Exklusion im Bereich des Spitzenfußballs nachgegangen. Die Ausgrenzung sportlicher Leistungsträger aus ideologischen Gründen zeigt, welche Restriktionen die ostdeutsche Diktatur der Entwicklung des Fußballsports auferlegte und hiermit auch zu einem Modernisierungsdefizit beitrug. Gleichzeitig ist die "Kaltstellung" von Personen stets auch mit der moralischen Frage des "SED-Unrechts" verbunden, das auch im Sport deutliche Spuren hinterließ.