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"Die Gegenwart, in der wir stecken, hat uns durchaus mit Haut und Haaren" | Bioethik | bpb.de

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"Die Gegenwart, in der wir stecken, hat uns durchaus mit Haut und Haaren" Interview mit Petra Gehring

Petra Gehring

/ 11 Minuten zu lesen

Bewegen wir uns in Richtung einer "Herrschaft der Wissenschaften"? Wie sollen medizinischen Ressourcen verteilt werden? Geht es um Würde oder Nutzen? Oder beides? Petra Gehring im Gespräch über allgemeine und philosophische Aspekte der "Corona-Krise".

Wie und wo haben Sie denn persönlich diese Krise erlebt? Ändert das Corona-Virus unsere Anbindung an Institutionen (Arbeitsplätze, Verwaltung etc.)?

Zu Beginn der Krise war ich am Schreibtisch in der Semesterpause. Den Lockdown habe ich teils dort, teils in der Universität erlebt – die Forschung ging ja weiter. Insofern bin ich, wie meine Kolleginnen und Kollegen auch, zwischen vertrauten Schreibtischen hin und hergeradelt. Zoom-Kommunikation war die Neuerung der Wochen ab April. Trotz der neuen Erfahrung, stundenlang konzentriert in eine Welt sprechender Passbildchen einzutauchen, mangelt es nicht an Kontakten. Im Grunde hat sich im Nahbereich nur minimal verändert. Augenscheinlich hat mein Alltag ohnehin Züge einer Quarantäne. Einschneidend war die Absage aller Vorträge: plötzlich mehr Zeit. Problematisch war (auch deshalb) die geschlossene Bibliothek.

Macht es einen Unterschied, ob ich als Frau oder Mann oder "Drittes Geschlecht" (divers), ob ich als alter oder junger Mensch durch diese Krise gehe? Sind das Facetten einer neuen moralischen Landschaft (Gerechtigkeitsfragen, Gleichheitsfragen)?

Die Sorge um das Alter als Risikofaktor, aber auch unschöne Kalküle hinsichtlich "der Alten" waren namentlich in den ersten Wochen deutlich zu vernehmen: Wirklich alle, also auch die Jungen, mit einem generellen Ausgehverbot in die Pflicht nehmen oder doch nur die Alten einsperren? Auch altersdiskriminierende Triage, wenn die Intensivbetten fehlen, war Thema. Einige Ethikerinnen und Ethiker haben gleich schon mal ihre akademischen Lehrbuchbeispiele in die Feuilletons getragen. Zum Glück haben Juristen sogleich mahnend den Finger gehoben. Selbstverständlich ist die pauschale Diskriminierung von alten Menschen genauso wenig mit dem Grundgesetz vereinbar wie eine Schlechterstellung von Menschen mit Diabetes oder Übergewicht. "Glück" (in Anführungsstrichen) war es – unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung – dann aber auch, dass das Virus sich als wesentlich tückischer herausgestellt hat als man anfangs dachte: Die unterschiedlichsten Menschen erleben schwere Verläufe. Das hält uns bislang – jedenfalls in Europa – zusammen. Die moralische Landschaft polarisiert sich allerdings dramatisch, wenn man Richtung USA oder Brasilien blickt. Dort scheinen ja Politiker sowohl Risikogruppen als auch Arme, also schlecht oder gar nicht Versicherte, ganz ungeniert ihrem Schicksal zu überlassen.

Petra Gehring ist seit 2002 Professorin für Philosophie an der TU Darmstadt. (© Photo: Alexander Vejnovic)

Die Menschen sind in den vergangenen Monaten ganz offen mit der Praxis des Regierens konfrontiert worden. Diese Erfahrung hat einiges in der politischen und wirtschaftlichen Welt durcheinandergewirbelt, wenn man etwa auf die Verschwörungstheorien, Proteste, Krawalle usw. schaut. Denken Sie, dass wir am Anfang eines neuen Bewusstseins der Bevölkerung für Politik und Macht stehen?

Verschwörungstheorien, Proteste und Krawalle scheinen mir vor allem etwas zu sein, an dem sich die Massenmedien festhalten: Man saugt aus dem alles dominierenden Pandemie-Thema so viel Spektakel heraus, wie man kann. Statistiken zeigen ja aber eher einen gegenteiligen Effekt: Die Bürgerinnen und Bürger erkennen es an, dass bzw. wenn Politikerinnen und Politiker sich anstrengen. Auch auf der regionalen und lokalen Ebene gibt es viel Zustimmung für ein Handeln, das versucht, mittels Messwerten und Prognosen ‚auf Sicht zu fahren‘. Die Schwierigkeiten des Regierens sind derzeit mit Händen zu greifen. – Dass manche den Lockdown bereits nach einigen Tagen als Einstieg in eine Hygienediktatur gedeutet haben, zeigt, wie abstrakt das (in der Katastrophe ja doch sehr konkrete und teils improvisierte) Handeln der Exekutive wahrgenommen wird. Vielleicht beruhigen einige Menschen schlicht ihre Angst vor der sinn- und zielfreien und von daher gespenstischen Macht des Virus, indem sie ein übelwollendes "System" imaginieren, das hinter allem steckt. Andere fordern das Risiko heraus, carpe diem. Ich muss oft an die ersten Jahre mit AIDS denken, da gab es auch beides: die Verschwörungstheorien und den Rausch der Bedenkenlosigkeit. Inzwischen scheinen mir hinter den Corona-Krawallen allerdings – neben einer offenkundig politisch motivierten Instrumentalisierung – auch handfeste wirtschaftliche Interessen zu stehen. Das habe ich selbst auf einer heftigen Diskussionsveranstaltung erlebt: Auch die Party- und Eventbranche macht Druck.

Einen entscheidenden Faktor für die Kommunikation zwischen den Regierungen (Bund und Länder) und den Individuen stellen die Medien dar. Welche Aufgabe wird Ihrer Meinung nach hierbei verfolgt und sind die Medien selbst eine Art "Institution", die als Säule der Demokratie Macht ausübt? Oder werden Medien eher wie die Wissenschaften als neutrale Informationsvermittler wahrgenommen? Was denken Sie als Philosophin dazu und welche Sichtweise auf die Vermittlung von Informationen würden Sie dem gemeinen Menschenverstand attestieren?

Ich bin keine Expertin für gemeinen Menschenverstand. Eher schon für die Funktion von Massenmedien und Öffentlichkeit(en), von deren stabiler Vielstimmigkeit und innerer Dynamik selbstverständlich eine demokratische Gesellschaftsform und auch Politik im engeren Sinne lebt. "Säule" ist ein sehr statisches Bild, ebenso sind Medien allenfalls in bestimmten professionalisierten Zonen (auch) "Institutionen". Sie organisieren aber die Zirkulation von Informationen, die einen hohen Wirklichkeitswert haben, und das hat mit Macht zu tun – ebenso wie Wissenschaft Wirklichkeiten (re)konfiguriert und also mit Macht zu tun hat: Wer würde das leugnen? Ihre Frage nach der "Neutralität" scheint mir von daher eher auf den Verdacht einer verzerrenden Parteilichkeit bei der Berichterstattung über die Pandemie abzuzielen. Ich habe das Gefühl, der Ernst der Lage hat den Sinn von Mediennutzerinnen und Mediennutzern für gute (nämlich gut recherchierte, verallgemeinerbare, in den Wertungen vorsichtige) Berichterstattung geschärft. Fake News haben ja einen Unterhaltungswert. Solange man ganz sicher sein kann, dass man bloß Zuschauer ist und im Zweifel doch irgendwo noch Solideres nachlesen kann, ist es witzig, Spaghettimonster anzubeten oder über flat earth-Argumente zu spekulieren. In den sogenannten sozialen Medien verfügen wir ja über riesige Ironiemaschinen. Das sind Komfortzonen, aus denen heraus sich über journalistisches Handwerk im Normalfall (also im Sofa-Modus) leicht spotten lässt. Wird es Existenzieller, sieht das anders aus.

Vor einigen Jahren waren in jeder Talkshow Meteorologen eingeladen, dann auch andere Arten von…sagen wir "Krisenwissenschaften". Heute hat man immer stärker das Gefühl, die Zeit der Virologen ist angebrochen. Passen diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gut in die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte hinein (Ozon-Loch, virale Digitalisierung) oder hat sich gerade etwas Neues gezeigt: eine Art Technokratie oder Herrschaft der Wissenschaften? Wie hängen Ihrer Meinung nach Geld und Bildung und die Sicht auf die Sache zusammen?

Warum sollte nicht Platz sein für Meteorologen und für Virologen? Des Weiteren Wasser-, Forst- und Feinstaubexperten. Was allerdings nicht neu und sehr spürbar ist: Unsere Weltwahrnehmung basiert in hohem Maße auf – insbesondere technowissenschaftlichem, also auf steuernde "Anwendung" getrimmtem – Spezialwissen. In einer hochtechnisierten Gesellschaft sind viele Bälle gleichzeitig in der Luft. Und alles hängt mit allem zusammen. Da kann viel schief gehen, während man zugleich in hohem Maße darauf angewiesen ist, dass nirgendwo viel schiefgeht, auch wegen der Dominoeffekte. Das fordert auch von Bürgerinnen und Bürgern sehr viel Mitdenken. Da liegt es nahe, sich für Expertenstimmen zu interessieren. Was die Talkshows angeht, kommen freilich oft dann auch noch Trittbrettfahrer-Disziplinen zu Wort, deren empirische Modelle aus meiner Sicht gerade im Blick auf akute, krisenhaft zugespitzte Problemstellungen von vornherein nicht viel taugen: Psychologie, Hirnforschung und andere Menschenwissenschaften. Die Wissenschaft "herrscht" zumindest in dem Sinn, dass sie den Komplexitätsgrad öffentlicher Diskurse nach oben treibt. Eben das macht sie freilich auch verletzlich. Man kann sich da recht leicht abwenden, um lieber zu "fühlen" als zu denken. Ich finde es erstaunlich, wieviel Zulauf schlichte Religionen immer noch haben. Freilich kann auch Szientismus, also naturalistischer oder technizistischer Wissenschaftsglauben, religiöse Züge haben. Wäre das alles nur ein Bildungsproblem, wäre mir wohler.

Wie gehen denn die nicht wissenschaftlich ausgebildeten Menschen mit wissenschaftlichen Studien um? Naiv, gläubig, kritisch?

Da maße ich mir keine pauschale Wertung an, und was allgemeine Urteilskraft angeht, trenne ich die Welt auch nicht in wissenschaftlich Ausgebildete oder aber bloße Laien auf. Wirkliche Experten sind ja auch Wissenschaftler nur in ihren Spezialgebieten. Ich denke, jede und jeder von uns wird an schwierige Dinge, in die man sich mühsam hineindenken kann, einerseits naiv-respektvoll und andererseits überkritisch herangehen.

Jeder stirbt heute an irgendetwas Bestimmten (und nicht einfach nur so), egal wie alt oder egal wie jung diese Person bei ihrem Ableben ist. Nun wurde schon viel über Gesundheit und (politische) Macht geschrieben – bewahrheiten sich heute die Prognosen etwa der frz. Philosophen (Foucault, Deleuze…) oder Agamben? (Stichwort: Dispositiv der Gesundheit)

Als Kritiker von biopolitischen Diskursen und Herrschaftsmustern haben jedenfalls Foucault und Deleuze eher die in die Gegenwart hineinragende Vergangenheit analysiert als Zukunftsprognosen gestellt. Das scheint mir ein Vorteil ihrer Studien zu sein: Sie bewegen sich im Archiv und zwingen dazu, was das Heute angeht, selbst weiterzudenken. Ich halte die Frage nach biopolitischen Phänomenen für hoch aktuell und auch Foucaults mutiges Theorem einer "Biomacht", die Vitalprozesse (Wachstum, Fortpflanzung, "sexuelle" Aktivitäten, Erbeigenschaften etc.) als solche wissenschaftlich-technisch erschließt, in gesteigertem Sinne zu ausschlaggebenden Realitäten erhebt sowie wirtschaftlich produktiv macht, ist ein Schlüssel zum Verständnis der Moderne. Ob allerdings ausgerechnet die Pandemie-Bekämpfung in besonderem Maße biopolitische Züge trägt? Mir scheint, hier kommen eher klassische sicherheitspolitische Muster der Gefahrenabwehr zum Zuge. Infektion – das ist zwar ein biomedizinischer Sachverhalt. Aber dass die Gefahr der Ansteckung unsichtbar überall lauern kann und insbesondere von anderen Kranken ausgeht, war auch schon Teil der vormodernen Vorstellungen von Krankheit. Die elementare Abwehrlogik, die den Kern der Krise ausmacht, liegt also unserer biomedizinischen Gegenwart als (mit Foucault) einer Epoche permanenter "Gesundheitsproduktion" weit voraus.

Oder sind diese Ihrer Meinung nach sogar selbst Teil dieser Entwicklung? Oder Teil einer Verschwörungsbewegung?

Diese Frage verstehe ich nicht. Falls gemeint ist, dass Foucault, Deleuze und Agamben als den biowissenschaftlichen Errungenschaften höchst skeptisch gegenübertretende Denker einer esoterischen Sicht auf Medizin (Impfkritik, Wunderheiler o.ä.) Vorschub leisten: Das sehe ich nicht so. Was Therapien wirksam macht, können wir uns nicht mal eben so herbei- oder wegwünschen. Die Gegenwart, in der wir stecken, hat uns durchaus mit Haut und Haaren. Daher kann und werde ich, auch wenn ich weiß, dass die antike Medizin erfolgreich Heilbehandlungen aus Träumen abgeleitet hat, in welchen Asklepios Rezeptwissen übermittelte, nicht selbst heute den Asklepios befragen. Eine andere Sache ist es freilich, biomedizinische Behandlungsversprechen nüchtern zu bilanzieren: Heute zählt vor allem Lebensverlängerung (gemessen in Kalenderzeit) als Ziel. "Lebensqualität" kommt hinzu: ein Thema, zu dem viel zu sagen wäre. Man versucht diese Qualität "des Lebens" zu messen – und irgendwie "evaluieren" wir das, was wir von medizinischen Leistungen erwarten, nahezu automatisch ebenfalls so: Länge und irgendeine objektive Qualitätssteigerung zählt. Dies zu hinterfragen – und etwa auf der Frage: ‚Möchte ich das?‘ zu beharren – kann bedeuten, eigene Prioritäten anders zu setzen und etwa auf bestimmte Behandlungen zu verzichten. Es bedeutet aber nicht, dass Verfahren der sogenannten "Alternativmedizin" in Sachen Lebensdauer und biomedizinisch definierter "Lebensqualität" mehr leisten als Biomedizin.

Wenn über die Verteilung von medizinischen Ressourcen gesprochen wird, haben wir es dann mit einem Verfassungsbruch zu tun, weil ja nicht mehr die Würde, sondern der Nutzen im Vordergrund steht?

Nein, so einfach ist das mit der Würde nicht. Darüber, dass auch ein Wohlfahrts- und Vorsorgestaat etwa in Mangelsituationen nicht das Unmögliche möglich machen kann, hilft der Artikel 1 GG nicht hinweg. Allerdings lässt der Art. 1 keine generalisierenden Regelungen zu, die es erlauben würden, dass ein Gesundheitssystem sich mit dem Mangel abfindet. Er zwingt zu Abwägungen, und er fordert ein Handeln, das mindestens perspektivisch den Mangel zurückbaut. "Würde" als Maßstab setzt das Recht und setzt alle Verantwortungsträger unter Strom. Würden Gesichtspunkte des "Nutzens" unser Gesundheitssystems dirigieren, wäre freilich vielleicht gar nicht so vieles anders – wir würden womöglich etwas mehr Breitenmedizin haben. Denn die Einzelfallabwägung führt bei den gedeckelten Kosten, die das öffentliche System der Krankenbehandlung nur tragen kann, durchaus zu einer gewissen Bevorzugung von teuren Spezialbehandlungen, bei denen die Patientin oder der Patient gewissermaßen als Einzelschicksal vor Augen steht. Ob man es nun mit "Würde" oder "Nutzen" begründet: durch erhöhte Krankenhaushygiene, durch das Verhindern von Blutvergiftungen oder Unfällen oder auch durch mehr Aufmerksamkeit für krankmachende Alltagsgewalt ließe sich ein Teil der gegebenen medizinischen Ressourcen, die derzeit in teure High-End Behandlungen oder in Psychotherapien fließen, womöglich besser einsetzen. Auch der fitte Zwanzigjährige, der an einer zu spät erkannten Sepsis am Zehnagel stirbt, oder die Obdachlose, deren Zahn vereitert ist, haben ja eine Würde. Wirklich schwierig wird es, wenn nicht nur "Nutzen", sondern primär "Kosten" – Kostenvermeidung oder Rentabilität – zum Verteilungsmaßstab medizinischer Ressourcen werden. Faktisch ist das natürlich immer auch in Teilen der Fall. Insofern werden wir zugeben müssen, dass wir in einem medizinpolitischen Gefüge stecken, in welchem die Gesichtspunkte der Würde, eines (wie immer bestimmten) überindividuellen Nutzens und der Kosten bzw. einer gesundheitsbürokratisch irgendwo im Spannungsfeld zwischen (hoffentlich gut versichertem) Einzelfall und Public Health ermittelten Kostengerechtigkeit einander mehr oder weniger offen widerstreiten. In diesem Dispositiv leben und sterben wir. Wollte man es loben, würde man sagen: Es lässt viel Freiheit. Und: Es dient der Wertschöpfung. Im biomedizinischen Sektor wird viel umgesetzt, es gibt viele Beschäftigte, Gesundheit und langes Leben werden (wie auch Schönheit) intensiv nachgefragt, und es wird viel verdient.

Es wurden neben den Kliniken auch Schulen, Unis, Kirchen in einen Ausnahmezustand versetzt, – es fehlt eigentlich noch der Bericht über das Militär – ist Ihrer Meinung nach einfach die gesamte Öffentlichkeit betroffen oder hatten wir es hier mit einer Markierung von Vernetzungen innerhalb der öffentlichen Institutionen zu tun? Passt die Debatte um die Wehrpflicht in diese Leerstelle?

Mir scheint im Fokus der Maßnahmen nicht "die Institution", sondern die Menschenmenge zu stehen. Auch Diskotheken, Fußballstadien und Badestrände sind ja betroffen. Man könnte noch weiter gehen: Der Hauch beim Sprechen, der Luftstrahl des Gesangs, das Atmen selbst schaffen das Band (und also auch das zu Aufmerksamkeit anhaltende "Netz") zwischen den mutmaßlichen Gefahrensituationen. Die Wehrpflichtdebatte flackerte da nur kurz auf und ich sehe eigentlich keinen Zusammenhang. Die berufliche Disziplin von Busfahrerinnen, Kassierern und Bäckereifachverkäufern – einschließlich der vielen, welche die Masken schlicht nähten, die sich aus China nicht bestellen ließen – hat ja keinen Notstand entstehen lassen. Auf die Geschlechterbilanz der Pandemie darf man gleichwohl gespannt sein.

In den Medien wird häufig auch über die Medizin als Verwalterin der Gesundheit (Hygiene) gesprochen, wie man an der "Triage" sehen konnte. Kann man hier Phänomene aus dem Diskurs der Biopolitik oder Bioethik wiederkennen?

Natürlich. Ethic(s) sells. Eines meiner Lieblingsthemen: Bioethik ist ja zu einem guten Teil ein massenmediales Unterhaltungsformat, ethicotainment. Genießbar vor allem nur im oben schon angesprochenen Sofamodus, also wenn man nicht selbst, verzweifelnd, eine Krankheitslage erlebt, sondern wenn man bloß das was-wäre-wenn-Spiel spielt. Frei nach dem Motto: Wie würden Sie entscheiden?

Tut die Entschleunigung an den Arbeitsplätzen der Gesellschaft vielleicht auch einmal richtig gut? Die Philosophen fordern doch seit jeher ein Besinnungsmoment und die Rückkehr zur Glückseligkeit/Lebensqualität… Wie schätzen Sie das ein?

Jetzt gerate ich in die Gefahr, mich in die Reihe der gar nicht wenigen philosophischen Kolleginnen und Kollegen zu stellen, die den Lockdown als Segen, als Gelegenheit zur Wiederentdeckung des Gelassenseins, der Achtsamkeit und der Entschleunigung priesen. Aber tatsächlich sind sicher viele ein Stück weit aus Ablenkungsroutinen herausgefallen. Zeit mit vielen wurde weniger, Zeit mit wenigen (oder allein) war plötzlich lang. Vor allem als Übung im Alleinseinkönnen oder auch im Abwarten schien mir die ersten Wochen der Pandemie lehrreich: Beides, Alleinsein und auch Warten, sollte man können. Wer allerdings in der fraglichen Zeit mit Kindern und/oder als Kleinunternehmerin mit kollabierender Auftragslage zuhause saß, hatte vermutlich wenig von jener guten Ruhe zum Nachdenken, welche wir privilegierten Schreibtischleute zwei Wohnungen weiter genossen haben. Von den vielen Heldinnen und Helden in den sogenannten systemrelevanten Berufen sollten wir ohnehin besser schweigen. Ihnen waren wir sicher alle dankbar, aber eigentlich bei weitem nicht dankbar genug.

Das Interview führte Werner Moskopp.

Prof. Dr. Petra Gehring, geb. 1961, studierte Philosophie, Politikwissenschaften und Rechtswissenschaft in Gießen, Marburg und Bochum (M.A. 1988, Promotion 1992, Habilitation 2000). Seit 2002 ist sie Professorin für Philosophie an der TU Darmstadt. Zu ihren Forschungsgebieten gehören: Metaphysik und Metaphysikkritik (insbesondere des 19. und 20. Jahrhunderts), Klassische und nachklassische Phänomenologie, Strukturalismus und 'poststrukturalistische' Theoriebildung, Systemtheorie, Philosophische Begriffsgeschichte und Metaphorologie, Neue Technologien (Biotechniken, Digitalität), Technik und Macht, Ethik als Politikfeld, Philosophie und Theorien des Rechts, Ausgewählte Probleme der Ästhetik: Zeichen, Stimme, Text und Ton.